Wo ist das Aufwallen deiner Gefühle?

Predigt zu Jesaja 63,15 - 64,3

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Klagen im Advent. Eine Predigt von Pfarrer Simon Froben in Bayreuth mit aktuellem Bezug zu einer fragwürdigen Abschiebung nach Afghanistan

Liebe Gemeinde!

Das Presbyterium hat kürzlich beschlossen, diesen schönen Herrnhuter Stern für unsere Gemeinde anzuschaffen.

Er wird ab nächster Woche draußen über der Einfahrt hängen und pünktlich zur Lichterandacht am nächsten Samstag in unserer Kirche leuchten.

So ein leuchtender Stern ist ein schönes Symbol: In der dunkelsten Jahreszeit strahlt er wärmendes Licht, Geborgenheit aus. Ein Stern kann – das wissen wir gerade in der Weihnachtszeit – auch Orientierung geben, ein Leitlicht sein.

In gewisser Weise steht so ein Stern auch für die Botschaft, die wir in der Kirche weitergeben: Als frohe Botschaft möge sie tatsächlich die Dunkelheiten des Lebens erleuchten. Möge Licht sein. Hoffnung geben. Ermutigung und Trost. Wo Jesus sich doch selbst als Licht der Welt bezeichnet hat.

Und mit dieser Erwartung kommen Sie also hierher. Mit dieser guten, durch und durch berechtigten Erwartung. Adventlich auch. Der große Stern hängt zwar noch nicht, aber das zweite Licht ist angezündet und verströmt warme adventliche Stimmung. Es ist nur ein Licht und doch ist auch ein wenig Balsam für die Seele. So stimmen wir uns – inmitten der Hektik unserer Tage – geruhsam auf Weihnachten ein.

Nun muss ich zugeben: Es gab in der letzten Woche Stunden, ja Tage, an denen ich mich ernsthaft gefragt habe, wie das wohl heute gehen soll mit der frohen advent­lichen Botschaft. Es fällt mir tatsächlich schwer, diesen Tagen ein Licht aufzusetzen.

Da ist der Predigttext, den wir in der Lesung (s.u.) gehört haben: Ein Klagegebet an Gott, ein Anklage Gottes in der Not: Wo bist Du, Du Ferner im Himmel? Wo ist Dein Eifer für uns? Wo Deine Kraft? Wo das Aufwallen Deiner Gefühle für uns und wo Deine Barmherzigkeit? Was hat ein Mensch vor Augen, der so zu Gott ruft?

Und da sind die Ereignisse dieser Woche: Die Bilder aus Syrien, von der vollkommen zerstörten Stadt Aleppo in den Tagesthemen am Sonntagabend haben mich diese Woche begleitet. Und dazu die Worte des bayerischen Innenministers, der wörtlich sagte: „In einzelnen Regionen wie um Aleppo ist es mittlerweile wieder relativ sicher.“ Straftäter und Gefährder will er dorthin abschieben. Das klingt nachvoll­ziehbar, die wollen wir hier ja auch nicht. Keine Terrorleute! Keine Vergewaltiger! Da klatschen alle Beifall, auch wenn es selbst für die härtesten Jungs in einer „Region wie Aleppo“ ja auch nicht sicherer ist als „relativ“.

Vor Raketen, Maschinengewehren und Minen sind letztlich alle Menschen gleich. Aber gut. Straftäter und Gefährder. Man könnte vielleicht darüber reden, wären nicht diese Begriffe selbst so „relativ“. Sie appellieren an unsere Angst und sie denunzieren einzelne Menschen, aber letztlich zugleich all die Menschen, die da Hilfesuchend zu uns kommen. Wer von denen, die ja alle nichts mehr zu verlieren haben außer ihrer Mensch­lichkeit, (wer von denen) ist denn nun ein „Gefährder“? Auf die Einschätzung des Innenministers mag ich mich in dieser Hinsicht ehrlich gesagt nicht so recht verlassen. Und wer ist ein „Straftäter“?

Am Mittwoch wurde – Sie werden es mitbekommen haben – Baryalai Salimi aus Bayreuth nach Afghanistan abgeschoben. Vielleicht haben Sie bei ihm mal einen Döner gekauft. Sechs Jahre hat er hier in Bayreuth gelebt, hat hier seinen Schul­abschluss gemacht, hat Freunde gewonnen, hat gearbeitet. Ihm wird vorgeworfen, dass er seinen afghanischen Identitätsnachweis, die sog. Tazkira, die nur mit außerordentlicher Mühe überhaupt zu besorgen ist, nicht rechtzeitig bei der Ausländer­behörde vorgezeigt habe. Ein sog. „Identitätsverweigerer“. Höchst kriminell ist das!

Bittere Ironie!: Eben diese Tazkira ist dann zugleich auch das Dokument, aufgrund dessen man Baryalai Salimi überhaupt nur nach Afghanistan abschieben konnte. Hätte er sie nicht besorgt und vorgelegt, wäre er jetzt noch in Bayreuth. Mithin leisten unsere Behörden also Vorschub zur „Identitäts­verwei­gerung“, denn der Nachweis, dass die behauptete Identität richtig ist, kann sich ja nachteilig auswirken. Man wird die Ausländerbehörde aber kaum der „Beihilfe zur 'Identitätsverweigerung'“ anklagen dürfen. Am Mittwoch hat man Baryalai Salimi also mit anderen höchst­gefährlichen Straftätern, Vergewaltigern und Gefährdern in das Flugzeug nach Kabul gesetzt. In ein Land, dass er selbst zuletzt vor über 20 Jahren als kleines fünf­jähriges Kind gesehen hat, bevor seine Eltern mit ihm vor den Taliban in den Iran geflohen sind. Doppelt bittere Ironie der Geschichte: Er musste schon wieder ohne Doku­mente in ein ihm fremdes Land einreisen. Die deutschen Behörden, Ausländer­amt, Bundespolizei haben am letzten Mittwoch keine zwölf Stunden gebraucht, um seine Tazkira selbst zu verschlampen.

In was für einem Land leben wir, wo so etwas einfach so nach Recht und Ordnung geschehen kann? In was für einer Gesellschaft, die so etwas nicht nur hinnimmt, sondern zugleich auch die Provokationen und die Sprüche der Populisten klaglos erduldet? Was ist in den letzten Jahren in unserem Land nicht alles öffentlich denk- und sagbar, ja sogar wieder hoffähig geworden? Und was sind das für Meinungs­träger, die das Antreiben von Ängsten (und zugleich ja wohl auch das Getrie­bensein von Ängsten) als Politik zu unserem Wohle verkaufen, zum Teil noch unter den ungeschützten Markennamen „sozial“ oder gar „christlich“?

Ich habe mich in dieser Woche gefragt: Wo findet sie denn noch Gehör in unserer Gesell­schaft, die christliche Botschaft? Wie sicher sind sie denn, die Werte in unserem Land und seien es doch bitte zumindest die Grundwerte der Menschlichkeit – z.B. nach der Genfer Flüchtlingskonvention – aber auch im alltäglichen Miteinander? Wie gehen wir um mit den Gefährdern der Mitmenschlichkeit – die doch Basis jeder Gesellschaft sein muss? Erkennen wir diese Gefährder überhaupt? Nicht nur die, die mit der Axt angstbesessener Worte Wunden schlagen, sondern auch die, deren Worte und Meinungen wie ein langsam kriechendes Gift alles von innen her zum Faulen bringen? Wie sieht es heute konkret aus, das „christliche“ oder auch „soziale“ Handeln? Wird es wegrationalisiert von Ängsten und „Qualitätsmanagement“, von der Komplexität der Anforderungen und Alternativlosigkeiten? Welchen Ort findet mein Glaube in dieser Gesellschaft, welcher Ort wird ihm zugebilligt?

Im Zusammenhang von Glaube und Gemeinwesen wird gerne ein Wort des Jeremia zitiert. Ursprünglich richtete es sich an die Exulanten in Babylon: „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ (Jer 29,7) Heute heißt das dann: „Tu deiner Stadt was Gutes, lass sie nicht allein. Geh shoppen!“[1]

Und dann ist da einmal mehr ein Mann wie Donald Trump – aber er ist ja nicht der einzige –, der in seinem krankhaften Narzissmus an den Lunten der Weltpolitik zündelt wie es ihm gerade einfällt. In Nordkorea, in Jerusalem. Und ja: Ich habe Angst, dass meine Kinder nicht in dem Frieden werden aufwachsen können, in dem ich aufgewachsen bin, weil auch eine demokratische Gesellschaft letztlich nur so stark (oder eben auch schwach) ist wie die Menschen, die in ihr zusammen­leben und die sie gestalten. Unsere Zeit ruft im Moment offenbar nach Führern wie Donald Trump.

Und all das nimmt unser Predigttext auf seine Weise, in seiner Zeit auf: Das Heiligste, der Tempel, ist zerstört, die Gläubigen, das Volk Israel findet keine Orientierung im Glauben.

„Warum, HERR, lässt du uns umherirren, fern von deinen Wegen, verhärtest unser Herz, so dass wir dich nicht fürchten? … dein Heiligtum haben unsere Feinde zertreten.

Wir sind wie die geworden, über die du nie geherrscht hast, über denen dein Name nicht ausgerufen wurde. Hättest du doch schon den Himmel zerrissen, wärst schon herabgestiegen, so dass die Berge vor dir erbebt wären,

Das sind Verse aus unserem Predigttext, die gerade in der Lesung noch ausgelassen wurden. O Heiland reiß die Himmel auf! Dass die Erd sich erneut...

Chor: Die Erd erneut sich wieder

Liebe Gemeinde!

Die Klage vor Gott, die Anklage Gottes auch, unser menschliches Schreien und Rufen vor IHM, unser Fragen und Verzweifeln unser Zweifel auch an IHM, gehört zu den vornehmsten Übungen des biblischen und dann auch des christlichen Glaubens.

“Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“

Gott, was ist los mit Dir? Ach, wenn Du kämest, wenn Du doch den Himmel aufreißen würdest!

Anlass zur Klage gibt es genug. Jede, jeder von uns kennt solche Stunden des Zweifelns und Verzweifelns. Und persönliche Nöte und Bedräng­nisse wiegen je ungleich schwerer. Der Beter unseres Klagepsalms gehört zu den Men­schen, die in einem erzwungenen Exil in Babylon lebten und die Rückkehr in ihre Heimat unmittelbar vor Augen hatten, ja vielleicht sogar schon zurückgekehrt waren.

Knapp 50 Jahre nach dem Beginn des Exils wurde das babylonische Großreich von der persischen Streitmacht besiegt. Die Perser waren toleranter als die Babylonier – letztlich diente es ihnen zur Stabilisierung der eigenen Macht, ein Volk wie Israel für sich zu gewinnen. 538 v.Chr. erliess der persische König Kyros ein Edikt, nach dem die Exulanten aus Babylon nach Jerusalem zurückkehren und den zerstörten Tempel wieder aufbauen durften. Für die, die über eine Generation auf diese Rückkehr gewartet hatten, kam das der Erlösung gleich. Kyros wurde für seine Tat gar als „Gesalbter“, als „Messias“ gefeiert, auch das haben wir in der Lesung gehört.

Die Rückkehr in die Heimat steht vor Augen, vielleicht kehren die Erlösten gar schon nach Jerusalem zurück (wenn auch nicht mir dem Flieger). In ihrem Gepäck all die Dinge, die sie neu in ihrem Glau­ben gefunden haben, die ihnen geholfen haben und helfen, ihren Glauben auch fern des Tempels und der Heimat zu leben, zu bewahren: Für die Exulanten waren das der Monotheismus und die strikte Ablehnung von Götzenbildern! Der Schabbat und die Beschneidung als Zeichen des Bundes und als Unterscheidungszeichen von der Umwelt, die nicht die Ihre war. Und dann haben sie nun also ihre vermisste Heimat unmittel­bar vor Augen. Sie gehören zu denen, die unbedingt zurückkehren wollten und wollen. Und was sehen sie, jetzt, wo es konkret wird? Nichts anderes als Aleppo 2017. Alles ist zerstört! Der Tempel, die Gesellschaft, der Glauben – alles zer­brochen! Ihre Treue und Hoffnung – preisge­geben! Die heile Welt ferner Kindertage, die heile Welt auch der Hoffnung ist zerbrochen. Wo, Gott, bist Du? Du bist doch unser Vater, 'Unser-Erlöser-seit-uralten-Zeiten'. Und wo bist Du heute?

Das verzweifelte Klagegebet des Volkes Israel könnte adventlicher kaum sein. Gott wird herabgesungen, der ferne Gott aus seiner himmlischen Wohnung herab­gezwungen. „O Heiland reiß die Himmel auf!“ Frie­drich Spee hat diese Klage in seinem bekannten Advents­lied aufgenommen. Vor seinem Auge in seiner Zeit – 1622 – stehen die grausamen Fanale des dreißig­jährigen Krieges, aber auch die Hexen­verfolgung durch die staatlichen Autoritäten gegen die Spee sich als einer der ersten wandte.

„O Heiland reiß die Himmel auf!“

Es ist Advent. Mit Adventskranz und Gebäck und gleich für uns auch noch mit den Resten des Christstollens vom 1. Advent. Und mit hellen Lichtern inmitten der Dunkelheit.

Vielleicht, liebe Gemeinde, sind unsere Adventsgebete auch einfach zu bescheiden? Zu individuell auch? Vielleicht müssen wir gerade im Advent lernen, mutiger, um­fassender, unverschämter zu beten und Gott unser Leid, unser wirklich ganzes Leid auch zu klagen? Vielleicht müssen auch wir Gott herabzwingen, wie einst die Vertrie­benen und Geflüchteten Israels vor ihrer Rückkehr in die Heimat, die nicht mehr die Ihre war? Ist nicht das das größte Licht überhaupt: gerade in der größten Not an Gott festzuhalten. Ihm zu klagen. Ihn anzuklagen?

Zum Schluss ein Text aus den Tagebüchern der holländischen Jüdin Etty Hillesum, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde:

„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott.

Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, daß ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen …

Ich will dir helfen, Gott, daß du mich nicht verlässt,

aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen.

Nur dies eine wird mir immer deutlicher:

daß du uns nicht helfen kannst, sondern daß wir dir helfen müssen,

und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst.

Es ist das einzige, auf das es ankommt".

Amen


Simon Froben

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