Gestern endlich haben wir es geschafft, Shavei Zion mal richtig zu besuchen. Man kommt ja sozusagen immer durch, wenn man zum Fahrradladen will oder zum Strand oder mit dem Rad an der Küste entlang nach Naharijah - man "kennt" Shavei Zion also - meint man. Das meinten wohl auch die Volos - es war diesmal nur eine ganz kleine Gruppe von 4 Volos mit, davon 2, die gerade vor ein paar Tagen erst angekommen sind und daher noch nicht so oft in Shavei Zion waren.
Aber natürlich weiß man noch gar nix von Shavei Zion, wenn man nur so durchfährt. Vor allem lernt man Judith Temime nicht kennen. Wir trafen sie im letzten Herbst auf unserer Radtour von Shavei Zion die Küste entlang nach Rosh Hanikra an den Ruinen der byzantinischen Kirche am Strand. Da bot sie an, uns Shavei Zion zu zeigen. Weil das aber spontan nicht ins Programm des Tages passte, hatten wir vereinbart, dass ich sie anrufe. Und nun hat es also endlich geklappt.
Judith ist aus Chicago. Sie entschloss sich nach dem Jom Kippur Krieg 1973, dem bedrängten Staat Israel zu Hilfe zu kommen. Hier traf sie dann ihren - wie sie sich heute ausdrückt - "späteren Ex-Mann", einen französischen Juden, der ebenfalls nach dem Jom Kippur Krieg nach Israel gekommen war. Sie beantragten die Aufnahme in den Moshav Shitufi Shavei Zion (es ist also doch kein Kibbuz, wie ich bisher dachte) - und seitdem lebt Judit hier. Sie hat die verschiedensten Jobs gemacht (außer, dass sie ihre 3 Kinder bekommen und großgezogen hat). Ihr Lieblingsjob war die Wäscherei, denn da gibt's nur Sauber oder nicht-Sauber - und man muss sich keine Gedanken über Ethik oder so was machen ... Jetzt betreut sie das Archiv von Shavei Zion und zeigt Shavei Zion interessierten Besuchern. In beidem - dem Hang zu einfachen Tätigkeiten, die keine komplizierten Rechtfertigungen oder Ausführungsbestimmungen benötigen - wie dem Job, Leuten das Dorf zu zeigen, fühlte ich mich ihr auf Anhieb sehr verbunden ...
Wir trafen sie am alten Wachturm, in dem heute das Archiv untergebracht ist. Von dort führte sie uns zur Synagoge, wo sie uns die Geschichte Shavei Zions erzählte: Dass die gesamte jüdische Gemeinschaft des Dorfes Rexingen im Schwarzwald 1937 die Auswanderung ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina beschloss und organisierte; wie sie nach Shavei Zion kamen und hier ihren Moshav aufbauten. Judith legte dabei besonderen Wert auf die Feststellung, dass das Land von der Witwe eines türkischen Beys gekauft wurde, der ihr Spielschulden vererbt hatte, weshalb sie ein gesteigertes Interesse daran hatte, ein Stück Land zu versilbern. In diesem Fall mussten wohl auch keine arabischen Fellachen weichen - allenfalls in kleinem Maßstab, so meinte sie, sei ganz am Rande dieses Stücks Land vielleicht ein bisschen Gemüse angebaut worden. Nehmen wir das mal so an ...
Was mich bei dieser Passage aufhorchen ließ, ist, welch großen Wert sie darauf legte, dass alles moralisch sauber zugegangen ist bei der Gründung Shavei Zions. Das passt zu ihrer Vorliebe für den Wäschereijob - oder umgekehrt. Was ich dabei aber vor allem höre, ist eben dieses Bedürfnis vieler Israelis, ihren ganz speziellen Fall vor anderen - aber vor allem vor sich selber als legal, als moralisch einwandfrei, als historisch wohl begründet, als religiös geboten, als erzwungen oder wie auch immer zu rechtfertigen. Zwischen den Worten schreit das Unwohlsein oder das historische schlechte Gewissen oder wie immer man es nennen will einen geradezu an: Wir wissen schon, was unser Hiersein für die Menschen bedeutet, die uns weichen mussten; und wenn auch kein einziger Palästinenser vom Grund und Boden von Shavei Zion weichen musste - sie mussten weg aus Samarijah neben Regba; sie mussten weg aus Kuweykat, auf dessen Ruinen heute Beit HeEmek steht; und auch wenn im speziellen Fall Shavei Zion alles ganz kosher und porentief rein zugegangen sein sollte - natürlich ist Judith ein viel zu kluger und sensibler Mensch, als dass sie sich dabei endgültig beruhigen könnte und den Zusammenhang zur Geschichte der Staatsgründung rundherum nicht sehen würde.
Heute abend bekamen wir in dieser Hinsicht von Avner Shai noch eine ganz spezielle Lektion. Sein Thema für diesen Abend war 1948 - und es war für mich eine Qual, mir anzuhören, welche waghalsigen und völlig unlogischen, teilweise regelrecht irren Rechtfertigungspirouetten er drehte - angefangen damit, dass er behauptete, 1948 hätten 800.000 Juden und 200.000 Araber in Palästina gelebt (wovon er auch auf mehrfaches ungläubiges Nachfragen von mir nicht abgehen wollte) über die Zahl der Nennungen Jerusalems im Heiligen Buch der Juden (über 800 Mal) gegenüber 0 Mal im Koran (meine Warnung, damit würde er Jerusalem leichtfertig den Christen ausliefern, weil die zu den 800 Erwähnungen Jerusalems im AT ja noch ein paar Erwähnungen im NT addieren können, beantwortete er damit, dass er weit von sich wies, er habe damit die Frage von Besitzansprüchen ansprechen wollen, neiiiin ...) bis dahin, dass er die plästinensischen Flüchtlinge schlicht nicht als Flüchtlinge bezeichnen mochte (als "palästinensisch" sowieso nicht ...), sondern Leute, die von sich aus halt in einem Nachbarland eine bessere Zukunft gesucht hätten. Aber er hat es eben auch viel schwerer als Judith, weil sein Kibbuz Beit HaEmek eben direkt auf den Ruinen eines 1948 "verlassenen" (so Avner - den Wikipedia-Artikel über Kuweykat hat er entweder nie gelesen, oder hält ihn vielleicht für unglaubwürdig ...) Dorfes steht. Es ist völlig aussichtslos, mit ihm diskutieren zu wollen - ich hab nur manchmal ein bisschen Widerworte gegeben, um die Volos nicht dem Eindruck zu überlassen, man müsse das alles unwidersprochen stehen lassen ... Und lehrreich ist es ja, denn so denken eben viele Israelis - diese und andere absurden Argumente habe ich schon so oft gehört; und wenn man verstehen will, wie Israel "tickt", muss man sich das antun, et hilft alle nix ...
Aber zurück nach Shavei Zion ...
Es gibt ein wunderbares Mini-Museum in einer der winzigen Hütten, die als erste Behausungen für die Rexinger "Olim" dienten. Darin findet sich ein Modell des ersten Siedlungskerns nach dem Muster der "Choma uMigdal" (Mauer und Turm)-Siedlungen, bei denen an einem Tag ein Wachturm mit Umzäunung gebaut wurde, weil auch in der britischem Mandatszeit noch ein Gesetz aus osmanischer Zeit galt, dass, wenn jemand an einem Tag ein Haus mit fertigem Dach baut, dieses von den Behörden nicht mehr abgerissen werden kann. Daneben zeigt das kleine Museum Alltagsgegenstände und Fotos aus der Geschichte von Shavei Zion. Judith kann jede Menge Geschichten über einzelne Shavei-Zioner erzählen. Eine ganze Menge hat sie im Verlauf ihrer Archivarbeit aufgeschrieben. Sie wollte mir die schicken - ich werde sie Euch weiterleiten.
Weiter gibt es natürlich die Synagoge, die als kleinere Kopie der Synagoge in Rexingen gebaut wurde. Das ist auch etwas sehr Besonderes in Shavei Zion, denn üblicherweise waren die Kibbuzim und Moshavim als sozialistische Siedlungen un- oder anti-religiös und bauten keine Synagogen.
Und es gibt im Gemeindezentrum einen sehr geschmackvoll und gelungen gestalteten Gedenkraum für die Rexinger, die nicht mehr aus Nazi-Deutschland rauskamen und umgebracht wurden. In dem Raum wird auch eine Tora-Rolle aus der Rexinger Synagoge aufbewahrt. In Rexingen wurde die Synagoge am 9. November 1938 nicht angezündet, weil sie unmittelbar neben Häusern von christlichen Rexingern lag, die dadurch in Gefahr geraten wären. Stattdessen wurde das Innere einschließlich der religiösen Geräte und Einrichtungsgegenstände gründlich demoliert. Eine Torarolle allerdings wurde nur leicht beschädigt und von den Rexingern nach Palästina mitgenommen. Da sie eben beschädigt ist, kann sie im Gottesdienst nicht mehr verwendet werden und wird zum Gedenken ausgestellt.
Wir machten dann noch einen schnellen Gang durch Shavei Zion zum Friedhof. Shavei Zion ist heutzutage weitgehend privatisiert - d.h. vor allem, dass es eben keine kollektive Wirtschaft mehr gibt. Enntsprechend hat sich das Straßenbild verändert: Es stehen inzwischen viele ansehnliche Häuser bis bin zu ausgesprochenen Villen mit Meerblick. Nur wenige der frühen schlichten Häuser sind übriggeblieben - siehe Bild im Anhang.
Auf dem Friedhof gibt es die Gräber von sechs Untergrundkämpfern (oder - je nach Perspektive - Terroristen) von Etzel (Akronym für Irgun Zwa'i Le'umi = Nationale Militär-Organisation unter Leitung von Menachem Begin) und einem von Lechi (Akronym für Lochamei Cherut Jisrael = Kämpfer für die Freiheit Israels unter der Leitung von Menachem Stern; eine der führenden Figuren dieser von den Briten so genannten "Stern-Gang" war Jitzchak Shamir, wie Menachem Begin auch ein späterer Ministerpräsident Israels), die bei einem Kommandounternehmen zur gewaltsamen Befreiung von inhaftierten Untergrund-/Freiheitskämpfern/Terroristen aus dem britischen Gefängnis in Akko von den Briten erschossen wurden. Da sich keiner der sozialistischen Kibbuzim - die in scharfer Gegenerschaft zu diesen beiden revisionistischen Milizen standen - bereit fand, sie auf ihrem Friedhof zu begraben, wurden sie in Shavei Zion beerdigt, das sich keinem der Flügel der zionistischen Bewegung zugehörig fühlte, dessen Rabbiner aber diese letzte "Mitzwa" diesen Juden nicht verweigerte.
Anschließend betrachteten wir noch kurz bei Sonnenuntergang die Ruinen des byzantinischen Klosters am Strand mit Blick auf das Lichtermeer Haifas am Karmel - haaaach ...