Der HERR spricht zu Paulus:
"Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit." (Zürcher Bibel)
Die Schwachheit legt Paulus uns nahe und wirft seiner Gemeinde den Slogan zu: "Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark!"
Ein "schwaches Denken" empfiehlt der Philosoph Gianni Vattimo seinen Zeitgenossen im 21. Jahrhundert. Gemeint ist ein Denken, das die Metaphysik überwindet. Anstatt denkend den Kontakt mit etwas zu suchen, das unabhängig von uns existiert, begibt sich das "schwache Denken" in ein Gespräch, das Argumente hört und abwägt.
Schwaches Denken gegen Absolutheitsansprüche
Das Gegenteil vom "schwachen Denken" ist ein "starkes Denken", "das im Namen von abstrakten Prinzipien wie Wahrheit, Einheit und Ganzheit das konkrete Leben des Individuums reglementieren will"[1].
Das "schwache Denken" hingegen setzt sich konkret ein für die Schwachen, für "diejenigen, die gehofft und verloren haben und gerade, weil sie es nicht geschafft haben, überleben sollten"[2].
Dieses praktische Denken, das Absolutheitsansprüche jeglicher Religion oder Weltanschauung verweigert, wendet sich dem Alltagsleben der Menschen zu. Ihre Wirklichkeit wird beschrieben und ausgelegt. Dazu gehört auch die Offenbarung Gottes. Die Offenbarung "schwach denkend" zu verstehen, heißt sie zu interpretieren.
Das religiöse schwache Denken gelangt so "zu ihrem schwachen, von aller angemaßten Vernunft befreiten göttlichen Kern: zur Krippe von Bethlehem."[3]
Das Verhältnis zwischen den Gläubigen und Gott will postmoderne Philosophie à la Gianni Vattimo (und Richard Rorty) nicht einfach überwinden oder über Bord werfen, sondern ausgelegen "als ein sanftes Verhältnis, in dem Gott seine ganze Macht dem Menschen überträgt"[4].
Die Kraft Gottes "findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit", dort, wo einen Menschen der Stachel im Fleisch quält, in Misshandlung, Not, Verfolgung (2Kor 12,7.10).
Kultur des Dialogs
Die Philosophie des schwachen Denkens strebt nach einer Kultur des Dialogs. Den Menschen zu bilden, ist vornehmlich das Ziel, nicht ihn zur Suche nach der einen und einzig richtigen Wahrheit anzutreiben.
Schreibend, sprechend ringt der Apostel um Verständnis - "in aller Geduld". Zu knechten, seine Gemeinde auszunutzen, gar aufzufressen, sich über sie zu erheben, ihr ins Gesicht zu schlagen, dazu ist Paulus zu schwach (2Kor 11,20f).
Solidarität, Nächstenliebe, Ironie
Ein "Gesetz" kennt diese postmoderne Philosophie auch. Als "höchstes Gebot", als das eine Gesetz, das das Leben der Menschen leiten sollte, gilt das Gesetz der Solidarität, Nächstenliebe und Ironie.
Solidarität und Nächstenliebe, das kommt den Christen bekannt vor. Die Ironie mag in dieser Reihe überraschen; gemeint ist die vom Philosophen Schlegel beschriebene Ironie der Romantik. Mit Ironie stellt der Denker sich selbst in Frage, so sehr, dass dies schon komisch sein kann. Ironie bedeutet "eben nichts anderes, als dieses Erstaunen des denkenden Geistes über sich selbst, was sich oft in ein leises Lächeln auflöst". (Schlegel)
Über sich selbst lachen, das kann Paulus auch, der zum "Narr" gewordene Apostel (2Kor 12,11).
Das schwache Denken mündet in der Erkenntnis:
"Die einzige Wahrheit, die uns die Bibel enthüllt, ist der praktische Aufruf zur Liebe, zur Nächstenliebe."[5] - "Haltet Frieden!" (2Kor 13,11)
Literatur
Santiago Zabala, Eine Religion ohne Theisten und Atheisten, Einleitung in:
Richard Rorty, Gianni Vattimo, Die Zukunft der Religion, Verlag der Weltreligionen, Frankfurt/M. 2009.
Rezensionen zum Buch:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesbuch/510143/
http://www.faz.net/aktuell/rezension-gott-legt-die-knarre-nieder-1306257.html
weiterführend zu schwachem Denken und schwachem Glauben:
Christoph Fleischer auf seiner Internetseite:
http://der-schwache-glaube.de/aufsaetze-predigten-texte/staerk-in-mir-den-schwachen-glauben.html
[1] Vgl. Nikolaus Halmer zum 75. Geburtstag des italienischen Philosophen Gianni Vattimo am 6. Januar 2011: http://oe1.orf.at/programm/263336
[2] Zitat von Gianni Vattimo, auf: http://oe1.orf.at/programm/263336
[3] Christian Geyer in der F.A.Z. vom 15.03.2006: http://www.faz.net/aktuell/rezension-gott-legt-die-knarre-nieder-1306257.html
[4] Santiago Zabala, Eine Religion ohne Theisten und Atheisten, 16.
[5] Santiago Zabala, Eine Religion ohne Theisten und Atheisten, 30.