2. Korinther 12,9b: Jahreslosung 2012 - ''Die Kraft kommt in der Ohnmacht zum Ziel''

Die Macht der Ohnmacht – Der Mut zur Ohnmacht - Der ohnmächtige Gott

Eine Predigtmeditation im christlich-jüdischen Kontext von Ralf Lange-Sonntag, Dortmund, Villigst

Die folgende Predigtmeditation von Pfarrer Ralf Lange-Sonntag, Referent der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) für Fragen des christlich-islamischen Dialogs und Berufsschulpfarrer in Dortmund, ist mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Studium in Israel den Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext 2011/12 zur Perikopenreihe IV. PLUS: Tikkun Olam – Prophetisch Predigen – Weltverbesserung – Zedeka entnommen.
Im November erscheint pünktlich zum Kirchenjahr 2011/2012 der neue Band Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Wer jetzt subskribiert, zahlt 10 Euro plus Versandkosten für die ganzjährige Predgthilfe. Der einzelne Band für ein Kirchenjahr kostet 14,80 Euro plus Versandkosten.

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Die Macht der Ohnmacht

von Ralf Lange-Sonntag

1. Annäherung

Anfang des Jahres. Gute Vorsätze sind gefasst, doch schon nach wenigen Tagen wieder fallen gelassen. Zu schwach waren wir mal wieder, zu stark der innere Schweinehund.
Die Losung für das Jahr 2012 setzt gar nicht erst auf Machbarkeit, sie rechnet von vornherein mit unserer Schwachheit. Gerade in Zeiten der Ohnmacht gilt ihre Verheißung: Gottes Kraft kommt in der Ohnmacht zum Ziel.

2. Kontexte

a) Mit antisemitischen Untertönen und polemischen Bemerkungen gegen das Christentum lehnt Friedrich Nietzsche (1844–1900) eine ethische Orientierung an den Schwachen ab und sieht in einem solchen Wertekanon nur deren gehässige Rache am Werk:
„Die Priester sind, wie bekannt, die bösesten Feinde – weshalb doch? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Haß ins Ungeheure und Unheimliche, ins Geistigste und Giftigste. Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser […] Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigsten her in sie gekommen ist: – nehmen wir sofort das größte Beispiel. Alles, was auf Erden gegen ‚die Vornehmen’, ‚die Gewaltigen’, ‚die Herren’, ‚die Machthaber’ getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie getan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung zu schaffen wusste. […] Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich ‚die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen […]’ Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht hat … Mit den Juden [beginnt] der Sklavenaufstand in der Moral […]: jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist …“
Nietzsche, 259f.

b) Die deutsch-jüdischen Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) versuchen in der 1944 verfassten „Dialektik der Aufklärung“ die Ursachen des Antisemitismus zu ergründen. Antisemitismus wurzle u.a. in der verdrängten Ohnmacht und im Neid auf die, die scheinbar trotz ihrer Ohnmacht glücklich sind:
„Es war der Sinn der Menschenrechte, Glück auch dort zu versprechen, wo keine Macht ist. Weil die betrogenen Massen ahnen, dass dies Versprechen, als allgemeines, Lüge bleibt, solange es Klassen gibt, erregt es ihre Wut; sie fühlen sich verhöhnt. Noch als Möglichkeit, als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs neue verdrängen, sie verleugnen ihn umso wilder, je mehr er an der Zeit ist. Wo immer er inmitten der prinzipiellen Versagung als verwirklicht erscheint, müssen sie die Unterdrückung wiederholen, die der eigenen Sehnsucht galt. Was zum Anlaß solcher Wiederholung wird, wie unglücklich selbst es auch sein mag, Ahasver und Mignon, Fremdes, das ans verheißene Land, Schönheit, die ans Geschlecht erinnert, das als widerwärtig verfemte Tier, das an Promiskuität gemahnt, zieht die Zerstörungslust der Zivilisierten auf sich, die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten. Denen, die Natur krampfhaft beherrschen, spiegelt die gequälte aufreizend den Schein von ohnmächtigem Glück wider. Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupt erst Glück wäre.“
Adorno/Horkheimer, 181

c) In einem kurzen Satz bringt Theodor W. Adorno den Zusammenhang von Liebe und Schwäche auf den Punkt:
„Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“
Adorno, 218

d) Im Bußgebet des jüdischen Gottesdienstes bekennen sich die Beter zu ihrer Ohmacht und bitten um Gottes Zuwendung:
„Der sich erbitten lässt zum Erbarmen, der sich versöhnen lässt durch Flehen, laß Dich erbitten und versöhne Dich dem elenden Geschlecht, denn es ist ohne Helfer.
Und wir, wir wissen nicht, was wir tun sollen – sondern auf Dich sind unsere Augen gerichtet. Gedenke Deines Erbarmens, Gott, und Deiner Gnade, denn seit Ewigkeit sind sie. Deine Liebe walte über uns, Gott, wie wir auf Dich harren! Gedenke uns nicht die früheren Sünden, laß uns schnell Dein Erbarmen entgegenkommen, denn wir sind sehr schwach. Sei uns gnädig, Gott, sei uns gnädig, denn übersatt sind wir der Verachtung. In Zorn gedenke des Erbarmens! – Denn er kennt unsre Bildung, er weiß, daß wir Staub sind.
Hilf uns, Gott unsres Heils, zur Ehre Deines Namens, und versöhne unsre Sünden um Deines Namens willen.“
zit. nach Scheele, 74f.

e) Hans Jonas (1903-1993), jüdischer Philosoph, fragt 1984 in einem Vortrag, warum Gott während der Zeit des Nationalsozialismus nicht eingegriffen habe. Angesichts von Auschwitz kann Jonas nicht an der Allmacht Gottes festhalten:
„Doch kein rettendes Wunder geschah, durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott. Die Wunder, die geschahen, kamen von Menschen allein. […] Aber Gott schwieg. Und da sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.“
Jonas, 41

3. Beobachtungen am Text

a) Kontext
Die Kapitel 10–13 des 2. Korintherbriefs heben sich thematisch und stilistisch von den vorausgehenden Kapiteln ab. Die Mehrheit der Exegeten geht daher davon aus, dass sie ursprünglich ein eigener (nur zum Teil erhaltener) Brief des Apostels Paulus an die Korinther gewesen seien. Manche identifizieren ihn mit dem in 2,4 angedeuteten „Tränenbrief“ (Näheres bei Gräßer, 71ff.). Paulus wehrt sich gegen den in der Gemeinde von Korinth erhobenen Vorwurf mangelnder Vollmacht: Seine Briefe seien gewichtig, aber sein persönliches Auftreten sei kraftlos und schwach. Kern des postulierten Briefes ist eine fiktive Verteidigungsrede (bisweilen „Narrenrede“ genannt), in der sich Paulus scheinbar zum Narren macht, um seine apostolische Legitimation zu beweisen. Als Argumente führt er seine vielfältigen Mühen und Leiden sowie explizite Offenbarung Christi an. Der als Jahreslosung ausgewählte Teilvers V 9b ist Teil eines Herrenwortes und damit Höhepunkt der polemisch geführten „Narrenrede“. V 9a.b ist die Antwort des kyrios auf das dreimalige Flehen des Paulus (V 8), dass der als „Pfahl im Fleisch“ wirkende „Engel des Satans“ (V 7) von ihm weiche. V 9b dient als Begründung (gar) für den ersten Teil des Herrenwortes, der implizit die flehentliche Bitte des Apostels ablehnt, weil die Gnade (charis) des Herrn für ihn ausreiche.

b) Das Subjekt des Herrenwortes
Auf der Homepage der Herrnhuter Losungen (http://www.losungen.de/losungenheute/jahreslosung.php, abgerufen am 21.4.2011) wird die Jahreslosung von 2012 mit dem Satz „Jesus Christus spricht“ eingeleitet. In V 9 ist jedoch kein Subjekt genannt, sondern das Prädikat weist auf den kyrios in V 8 hin. Dass es sich beim kyrios um den auferstandenen Christus handelt, liegt nahe, da in den Schriften des Neuen Testaments in der Tat Christus als solcher bezeichnet wird (siehe z.B. das frühchristliche Bekenntnis in Phil 2,11), und weil die dynamis in V 9b der Kraft Christi in V 9c entspricht. Calvin aber z.B. identifiziert den kyrios mit Gott selbst, da dieser ja der Urheber des Pfahls im Fleisch sei (siehe Gräßer, 201). Es bietet sich daher für die Predigt an, die mehrdeutige Formulierung nicht vorschnell in Eindeutigkeit aufzulösen.

c) mou
Die Lutherbibel, nach der die Jahreslosung bei den Herrnhuter Losungen zitiert wird, liest in Anlehnung an gewichtige Textzeugen hä dynamis mou („meine Kraft“). Das NT Graece von Nestle-Aland entscheidet sich aber aufgrund anderer Textzeugen für die Lesart ohne das mou, liest also: „die Kraft“. Nach dieser Lesart könnte sich dynamis ebenfalls auf den kyrios beziehen, könnte aber auch in allgemeinem Sinne verstanden werden.

d) dynamis und astheneia
dynamis
und astheneia begegnen nicht nur hier als paradox-komplementäres Wortpaar, sondern ebenfalls in Röm 8,26, wo der astheneia der sarx die dynamis des pneuma gegenübergestellt wird. dynamis meint zunächst die Kraft, kann aber auch synonym zur exousia als Macht verstanden werden, bis dahin dass dynamis als Ersatzwort für den Namen Gottes Verwendung finden kann, so wie auch im rabbinischen Schrifttum der Gottesname mit „Macht“ umschrieben werden kann (siehe Friedrich, 861f.). astheneia ist durch das a-privativum als Gegensatz zu sthenos (Kraft, Stärke) zu verstehen. Oft wird es als Schwäche übersetzt. In der Luther-Übersetzung  wird astheneia personalisiert und als die Schwachen wiedergegeben. Um die Konstruktion mit dem a-privativum ins Deutsche zu übertragen, bietet sich eher „Kraftlosigkeit“ oder – im Hinblick auf den Komplementärbegriff dynamis – „Ohnmacht“ an.

e) Teleitai
Das Prädikat des Satzes verschwindet in der Luther-Übersetzung fast vollständig. teleo ist mit telos (Ziel, Erfüllung, Ende, siehe Röm 10,4) verwandt und meint in seiner Grundbedeutung „vollenden“ oder „erfüllen“ (siehe Hübner, 830), wie es auch im letzten Wort Jesu am Kreuz nach dem Johannes-Evangelium anklingt: „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30) Im Hinblick auf die Bedeutungsnuancen von telos kann teleo auch mit „ans Ziel bringen, zum Ziel kommen“ übersetzt werden.

f) Übersetzung
Die Beobachtungen am Text zeigen viele Ungenauigkeiten in der von den Herrnhuter Losungen favorisierte Luther-Übersetzung. Eine adäquatere Übersetzung wäre: „Der HErr sagt: Die Kraft kommt in der Ohnmacht zum Ziel.“

4. Homiletische Entscheidungen

Die Jahreslosung ist am Anfang des neuen Jahres oftmals Text für eine Predigt, begleitet die Gemeinde aber das ganze Jahr hindurch in Andachten und Ansprachen. Die folgenden „Homiletischen Entscheidungen“ bieten deshalb nicht nur einen Vorschlag für Aufbau und Ziel einer Predigt, sondern geben auch thematisch geordnet Anregungen für Meditationen.

a) Der biblische Befund
Dass Gottes Kraft sich in den Schwachen und Armen, den Gebeugten und Entrechteten zeigt und dort zum Ziel findet, ist gängiger Topos der gesamten Heiligen Schrift. Für den Tanach denke man nur an den jungen David, der es mit Goliath aufnimmt, an Moses mangelnde Eloquenz oder an die Ausländerin Ruth, die sich ihr Recht mit einer List erkämpft. Gott nimmt sich des versklavten Volks Israel in Ägypten an und führt es ins Gelobte Land. Er erhört das Flehen der unfruchtbaren Frauen: Sara, Rebecca, Rahel, Hannah. Und auch die Propheten verkünden es: „Den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Jes 42,3) Dem entsprechen im Neuen Testament die Lehre und die Taten Jesu, der die Ausgegrenzten in die Mitte der Gesellschaft zurückholt, sich mit den Sündern an einen Tisch setzt, ein Kind als Vorbild für die Glaubenden hinstellt und selbst in Einsamkeit und als Ohnmächtiger stirbt, aber von Gott auferweckt und ins Recht gesetzt wird. Altes und Neues Testament lassen sich hier (wie auch sonst!) nicht auseinanderdividieren: Gott wirkt durch die Schwachen. Zugleich ist dieses Wirken Gottes durch und an den Schwachen mit einer entsprechenden Ethik verbunden, die die Nöte der Ohnmächtigen in den Blick nimmt: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken, denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ (Ex 22,20)

b) Der nietzscheanische Einwand
Die untrennbare Verbindung zwischen den Schriften des Ersten und des Zweiten Testaments im Hinblick auf die göttliche Option für die Schwachen und Entrechteten hat Nietzsche mit großer Klarheit gesehen und ausgedrückt, – und mit ebensolcher Bestimmtheit abgelehnt (siehe Kontext a). Die Jahreslosung wäre für ihn eine reine Wunschvorstellung und eine gehässige Überlebenstaktik der Ohnmächtigen. Eine Ethik für die Ohnmächtigen ist in seinem Weltbild ein Akt der Rache derer, die nicht stark genug sind, ihre eigenen Rechte und ihren eigenen Willen durchzusetzen. Mit Häme und antisemitischen Äußerungen verwirft er die gesamte „Sklavenmoral“, die für ihn durch das Judentum in die Welt gekommen ist und sich mit Hilfe des Christentums in der Welt durchgesetzt hat. Man könnte den Nietzscheanischen Einwand auch in psychologische Termini überführen: Die ethische Option für die Schwachen ist einem Regressionszustand entwachsen, der für diejenigen attraktiv erscheint, denen die Individuation nicht gelungen ist. Wer keine eigene Meinung hat, wer sich selbst schwach und ohnmächtig fühlt, bedarf zum eigenen Schutz einer verbindlichen Ethik oder eines ausformulierten Gesetzes, das die Schwachen vor Übergriffen bewahrt.

c) Ohnmacht als anthropologische Grundkonstante
Gegen Nietzsche spricht, dass sein Ideal des ritterlichen Aristokratismus ebenfalls eine reine Wunschvorstellung bleibt, die von seinem Willen getragen wird, aber dessen Ursprünglichkeit keinesfalls erwiesen ist. Dass nicht die Stärke, sondern die Ohnmacht das Menschsein bestimmt, entspricht eher meiner Lebenseinstellung, zumindest gehört sie zum biblischen Menschenbild: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“, fragt der Psalmbeter in Psalm 8,5 seinen Gott, und Jesus weist in der Bergpredigt seine Zuhörer auf ihre fundamentale Ohnmacht hin: „Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte?“ (Mt 6,27) Ebenso kann Nietzsche nicht zeigen, dass ein ritterlich-aristokratischer Wertekanon vorteilhafter wäre als die von ihm abgelehnte „priesterliche“ Moral. Nietzsches Einwand jedoch weist zu Recht darauf hin, dass es sich bei der Ohnmacht paradox um eine höchst mächtige und gefährliche Erscheinung handelt.

d) Die Macht der Ohnmacht
Ohnmacht gehört zu den Gefühlen, die anscheinend besonders gern verdrängt werden. Dabei gibt es zwei Extreme, die die gefährliche und gefährdende Macht der Ohnmacht aufweisen können. Für viele Menschen scheint das Gefühl der Schuld erträglicher zu sein als das Eingeständnis, ohnmächtig zu sein, so dass sie ihre Ohnmacht als Schulderleben interpretieren (Martens, 60). Auf der anderen Seite äußert sich verdrängte Ohnmacht nach Adorno und Horkheimer als Gewalt gegenüber denjenigen, die Glück ohne Macht verkörpern (siehe Kontext b).

e) Der Mut zur Ohnmacht
Gottes Kraft kann aber da wirken, wo Ohnmacht ausgesprochen und akzeptiert wird, wo das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (Schleiermacher) vorherrscht. Statt der Verdrängung muss es zur Integration von Ohnmacht und Schwäche kommen. Wer sich der Ohnmacht aussetzt, Mut zur Ohnmacht entwickelt, in Demut seine Ohnmacht annimmt, kann Gott in sich wirken lassen, wird offen für Gottes Willen. Denn Ohnmacht, die vor Gott gebracht wird, provoziert keine Stärke, sondern Erbarmen und Liebe (vgl. Kontext c). Es ist kein Zufall, dass die Ohnmacht in unseren Gottesdiensten auf vielfältige Weise thematisiert wird. Als ein jüdisches Beispiel siehe Kontext d. Gottesdienstliche Rituale werden dort besonders wahr- und aufgenommen, wo die Unverfügbarkeit, die Kontingenz des Lebens offen zutage tritt: bei Geburt, Erwachsenwerden, Bindung und Tod.

f) Der Einwand der Theologie nach Auschwitz
In den letzten Jahrzehnten ist von ganz anderer Seite die Aussage der Jahreslosung hinterfragt worden. Nicht die Ohnmacht der Menschen wird bezweifelt, sondern die Macht Gottes. Die alte Theodizee-Frage erscheint angesichts von Auschwitz in neuem Gewand: Wollte Gott nicht eingreifen oder konnte er es nicht? Der jüdische Philosoph Hans Jonas entscheidet sich für die zweite Möglichkeit und bezweifelt angesichts von Auschwitz Gottes Allmacht (siehe Kontext e). In der kabbalistische Idee des zimzum, der Selbsteinschränkung Gottes, um Platz für die Welt zu machen, sieht Jonas eine Möglichkeit, das Unfassbare in der Welt mit dem Gottesbegriff zu versöhnen (Jonas, 45f.).

g) Der ohnmächtige Gott
Ein anderes Gedankenmodell, mit dem Zwiespalt von menschlichem Leid und Macht Gottes umzugehen, begegnet uns im Kreuz Jesu. Das Kreuz symbolisiert die Ohnmacht des Menschen, in das sich Gott hineinbegibt. „Die Ohnmacht des Gottes, der in Christus war, ist die Ohnmacht des Menschen, und die Ohnmacht des Menschen wird im Kreuz zur Ohnmacht Gottes.“ (Martens, 62) Angesichts der vielfältigen Verdrängung von Ohnmacht bleibt das daher die Aufgabe der Kirche: „Die Verkündigung des Kreuzes Christi in einer Zeit der Selbsttäuschungen“ (so der Titel eines Aufsatzes von Ernst Käsemann). Auch für Gott gilt, dass seine Kraft in seiner eigenen Ohnmacht zum Ziel kommt. Antizipatorisch ist dies an Ostern geschehen, doch in seiner Fülle hat Gottes Kraft sein Ziel noch nicht erreicht. Die Erlösung der Welt steht noch aus. Wie dies geschehen mag, wann dies geschieht, bleibt ein Geheimnis und uns damit verborgen. Wir können es nur immer wieder aussprechen: „Geheimnis des Glaubens. Deinen Tod verkündigen wir, und Deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.“

5. Liturgievorschläge

Lieder:
Meine engen Grenzen (EG-RWL 600)
So nimm denn meine Hände (EG 376)
Wer nur den lieben Gott lässt walten (EG 369)

Literatur
Adorno, Theodor W., Minima Moralia, Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt a.M. 1982.
Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a.M. 1988.
Friedrich, Gerhard, Art. "dynamis Kraft“, in: EWNT I, 860–867.
Gräßer, Erich, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 8,1–13,13, ÖTKNT 8/2, Gütersloh 2005.
Hübner, Hans, Art. „teleo vollenden, erfüllen; entrichten, bezahlen“, in: EWNT III, 830–832.
Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a.M. 1987.
Lang, Friedrich, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen / Zürich 171994 (2. Auflage der neuen Bearbeitung 1986).
Martens, Helge, Am Anfang war das Trauma. Zur Interpretation von Ohnmachtserfahrungen als Schulderleben, Deutsches Pfarrerblatt 111 (2011), Heft 2, 60–64; auch online im Archiv auf www.deutsches-pfarrerblatt.de.
Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral (1887), Kröners Taschenausgabe 76, Stuttgart 111991, 239–412.
Scheele, Paul-Werner (Hg.), Halleluja – Amen. Gebete Israels aus drei Jahrtausenden, Paderborn 1974.
Stählin, Gustav, Art. „asthenäs ktl“, in: ThWNT I, 488–492.

©Ralf Lange-Sonntag

Lange-Sonntag, Ralf, 1965, Pfarrer am Paul-Ehrlich-Berufskolleg Dortmund und Referent der EKvW für Fragen des christlich-islamischen Dialogs;  ralf.lange-sonntag@lka.ekvw.de 

Die Predigtmeditation von Pfarrer Ralf Lange-Sonntag, Referent der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) für Fragen des christlich-islamischen Dialogs und Berufsschulpfarrer in Dortmund, ist mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Studium in Israel entnommen den Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext 2011/12 zur Perikopenreihe IV.
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