Die Wolken- und Feuersäule

Predigt zum Jahreswechsel zu 2. Mose 13,17-22


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'Es ist eine seltsamer Aufbruch, den Israel da nimmt. Gott führt sein Volk in die Freiheit, aber nicht auf dem kürzesten Weg - und die Bibel sagt das so ganz frei heraus: Es wäre kürzer gegangen.'

Das Ende eines Jahres lässt uns oft mit mehr Fragen als Antworten zurück. Manch einer sucht weiter nach einem Sinn in alle dem, was einem geschieht und geschehen ist, andere geben die Suche auf, weil sie der Überzeugung sind, dass es da keinen Sinn gibt. Und wahrscheinlich gehören wir mal zu den einen, mal zu den anderen. Heute Abend, an der Schwelle zu einem neuen Jahr, wollen wir auf einen Bibeltext hören, der auch eine Schwellensituation beschreibt.

Der Text ist Teil der Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten. Ich lese 2.Mose 13,17-22

1. Zunächst: Es ist ein Aufbruch mit Umwegen

Es ist eine seltsamer Aufbruch, den Israel da nimmt. Gott führt sein Volk in die Freiheit, aber nicht auf dem kürzesten Weg - und die Bibel sagt das so ganz frei heraus: Es wäre kürzer gegangen.

Wenn wir vor Neuem stehen, vor Entscheidungen, die Grundlegendes verändern, dann sind wir oft vorsichtig. Lieber in alten Schuhen nasse und kalte Füße kriegen, als neue zu kaufen, von denen ich nicht weiß, ob sie genauso bequem sind. Alles Neue hat oft die Last der Unsicherheit zu tragen. Es fehlen Erfahrungen. Lieber, bei allen Defiziten die man kennt, das Alte behalten! "Da weiß man, was man hat! Guten Abend" - das ist ja nicht nur ein Werbespruch gewesen, das spiegelt ja auch eine Mentalität wider.

Es scheint in der menschlichen Natur zu liegen, die gesicherte Unfreiheit der ungesicherten Freiheit vorzuziehen. Vor der Wahl Sicherheit oder Freiheit, wählen wir oft die Sicherheit. Israel war dafür in der Zeit der Wüstenwanderung immer anfällig. Zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, immer dann, wenn's eng wird, wenn das Neue nicht wie von selbst und problemlos kommt. Gott kennt diesen Zug an Israel und an uns kennt er ihn auch. Diesen Zug, der jeden Auszug erschwert. Aber darüber wird in unserem Text seltsamerweise nicht geklagt. Es heißt lapidar: "Gott dachte, wenn Schwierigkeiten auf dem direkten Weg zu sehen sind, dann laß ich das Volk eben einen Umweg gehen."

Ein Umweg muss nicht immer das Schlechteste sein. Oft brauchen wir Zeit um das Alte wirklich als alt zu erkennen und uns davon zu verabschieden. Oft brauchen wir Zeit uns auf das Neue einzulassen. Ein Umweg ist da manches Mal hilfreich, weil er Zeit bringt, ohne Zeitverschwendung zu sein. Wir sind auf dem Weg, wir sind in Bewegung, das ist schon etwas. Es tut sich was. Sicher könnte es schneller und zielorientierter gehen, aber ob es dadurch besser wäre? Ob ein Weg durch die Wüste nicht auch etwas für sich hat - nicht weil er so wahnsinnig schön ist, sondern weil er auf das Wesentliche konzentrieren lässt. Auf das nackte Überleben, darauf, dass wir erkennen, wir sehr wir in den elementarsten Dingen abhängige Menschen sind, oder darauf, dass Reduktion nicht gleichbedeutend mit Verlust sein muss.

So zieht Israel aus, tritt über die Schwelle und lässt die gesicherte Unfreiheit hinter sich, um die ungesicherte Freiheit zu gewinnen.
Tun wir es ihm gleich, in unseren Familien, in unserer Gemeinde und in unserem Land. Treten wir aus dem alten Jahr hinaus ins neue und wenn es Umwege zu gehen heißt, nutzen wir die Zeit als Chance, zur Besinnung auf das Wesentliche zu kommen.

Der Beginn des Auszugs aus Ägypten birgt noch einen weiteren Hinweis, der uns an der Schwelle zum neuen Jahr nachdenken lässt:

2. Es ist ein Aufbruch mit der Hoffnung der Alten.

Ich habe es dieses Jahr oft gehört und oft selber gesagt: "Gut, wenn dieses Jahr um ist". So ein Einschnitt wie ein Jahreswechsel scheint ja wie die erste Seite in einem neuen Buch. Klappen wir das Alte zu. Das hat viel für sich und wenn es Hoffnung weckt und neuen Mut gibt, dann sollten wir das auch getrost mal wagen: Das Alte vergessen und neu anfangen. Aber so schlicht geht's dann eben doch auch wieder nicht. Wir sind keine Schlangen, die sich einfach häuten und das alte, zu eng gewordene Kleid zurücklassen. Wenn was Neues kommt, dann nehmen wir viel Altes mit, weil wir uns selber mitnehmen müssen - und hoffentlich mitnehmen wollen, damit wir nicht noch kränker werden, als wir oft schon sind.

Die Geschichte vom Auszug der Israeliten hat eine kleine Nebenbemerkung bei sich, die stutzig macht: "Und Mose nahm mit sich die Gebeine Josefs."

Wir nehmen nicht nur uns selbst mit über die Schwelle eines Jahres, so wie Mose nicht nur die Israeliten aus Ägypten führt, sondern etwas anderes mitnimmt: die Gebeine Josefs. Viele, viele Jahre vorher hatte Josef seinen Nachkommen einen Eid abgenommen: "Wenn Gott uns wieder in das Land unserer Väter zurückführen wird, dann vergesst mich nicht. Nehmt meine Gebeine, nehmt mich mit in diese Land und gebt mir die letzte Ruhestätte bei meinen Vätern." Mose erinnert sich daran und nochmals viele viele Jahre später werden die sterblichen Überreste Josephs in seiner Familiengruft bei Sichem beigesetzt, wie uns das Josuabuch ganz am Ende erzählt.

Mose nimmt Geschichte mit. Lasst es mich einmal etwas kompliziert ausdrücken. Es gibt "erinnerte Zukunft". Josefs Gebeine stehen für ein Stück erinnerte Zukunft. Was uns nach vorne weist und Wege eröffnet, liegt nicht immer in unbekanntem Niemandsland, es liegt oft in der Vergangenheit. Es gibt Zukunft in der Vergangenheit, an die man erinnert und die man mitnehmen soll, wenn man aufbricht. Josef steht für die Zukunft. Er erinnert an die Verheißung Gottes: "Gott wird sich gewiss euer annehmen", hat er gesagt. Eine unerfüllte Hoffnung bleibt zu erinnernde Zukunft.

Seht, unser Leben ist voll von unerfüllter Hoffnung, sogar von unerfüllter begründeter Hoffnung. Es ist ja nicht alles, was wir hoffen begründet, manches ist auch Wunschdenken und würde es alles eintreten, was wir uns wünschen, wer weiß, ob es wirklich gut wäre. Aber es gibt eben die begründete Hoffnung, die noch nicht eingetreten ist. Das Ausbleiben ihrer Erfüllung ist uns im vergangenen Jahr vielleicht schmerzlich gewesen. Da haben wir auf ein tröstendes Wort gewartet, zu Recht gewartet, weil es uns doch sooft vollmundig versprochen worden ist: "Wenn Du mal jemanden brauchst, dann werde ich da sein." Aber als es dann soweit war..... Nichts. Schweigen.

Da haben wir darauf gehofft, begründet gehofft, dass doch irgendwann einmal die Schmerzgrenze für Nackenschläge erreicht sein müsste. Aber irgendwie gab's immer noch einen drauf. Kaum hatte man sich von dem einen so einigermaßen erholt, stand wieder auf, da kam das nächste und legte uns wieder flach.

Auch von Gott haben wir in diesem Jahr sicher Dinge erwartet und erhofft, begründet erwartet und erhofft, die nicht eintraten. Gesundheit vielleicht, die eigene oder die eines uns wichtigen Menschen. Frieden vielleicht - wie oft beten wir in unseren Gottesdiensten dafür und doch bleibt er aus. Er naht manchmal - wie bis vor wenigen Tagen wieder im Nahen Osten - und doch ist er in unserer Welt wie ein scheues Reh. Ja, auch von den Verheißungen Gottes blieb vieles, wenn nicht das meiste, unerfüllt.

Nehmen wir sie mit, diese Gebeine Josefs, wenn ich sie mal so nennen darf. Nehmen wir sie mit in das neue Jahr, die "erinnerte Zukunft". Lange, manchmal unmenschlich lange muß man warten. Josef hat's nicht einmal mehr erlebt, aber die Hoffnung hat er vererbt. An Kinder und Kindeskinder. Nicht alles, was uns verheißen ist, ist uns so verheißen, daß wir es sehen und doch ist es nicht weniger begründet. Darum erinnert die Zukunft der Vergangenheit! Laßt sie nicht zurück! Streift sie nicht ab wie eine zu eng gewordene Haut! Wir würde etwas verlieren, was wir dringend brauchen für den Aufbruch in ein neues Jahr. Wenn wir die Hoffnung, auch die unerfüllte, nicht mitnehmen ins Jahr 2001, sondern sie zurücklassen in 2000, dann ist sie bis auf weiteres verloren - für uns und unsere Kinder.

Hören wir auf, die Zukunft der Vergangenheit zu erinnern, dann werden wir vielleicht noch weniger sehen, was uns bei unserem Aufbruch begleitet.
Wir brechen nicht allein auf. Das soll für heute das Dritte und Letzte sein, was wir an der Schwelle zum neuen Jahr vom Auszug Israels vor Augen bekommen:

3. Es ist ein Aufbruch in Begleitung

Wolkensäule und Feuerschein begleiten das Volk. In einem trockenen, heißen Land hat die Wolkensäule einen anderen Ruf als bei uns. Da verheißt sie nicht schon wieder Regen, sondern sie spendet Schatten und gibt Wasser. Sie verheißt Leben. Wolken verheißen Gutes. Und die Feuersäule in der Nacht: so gefährlich das Feuer ist - und wie viele werden sich in dieser Nacht wieder an ihm verletzen? - die Feuersäule steht für Energie und Wärme, für Licht im Dunkel und für Lebendigkeit.

Der lebendige Gott zieht mit seinem Volk. Tags in der Wolkensäule und des Nachts in einer Feuersäule. Jede Zeit soll eine Zeit des Wanderns sein. Nichts soll auf dem Weg in die Freiheit hindern, vorwärts zu gehen. Wolkensäule und Feuerschein begleiten das Volk als Zeichen dafür, dass sein Gott mitzieht. Mal steht die Wolke vor dem Volk und zeigt den Weg, mal hebt sie sich und beschließt den Zug des Volkes, um es zu schützen vor den Verfolgern, wie uns im nächsten Kapitel beim Durchzug durchs Rote Meer erzählt wird. Die Gegenwart Gottes ist dabei mal weisend, mal schützend.

Seht, das wünsche ich uns allen, wenn wir in wenigen Stunden in ein neues Jahr aufbrechen - dass wir dies in Begleitung tun. Wir werden wahrscheinlich nicht Wolkensäule und Feuerschein vor uns haben - was da in wenigen Stunden gen Himmel lodert und qualmt, darf uns allerdings kurz noch mal an Wolkensäule und Feuerschein erinnern. Wir werden im kommenden Jahr vielleicht ohne beeindruckende und unwidersprechliche Zeichen der Gegenwart Gottes unseren Weg gehen. Wir haben andere Zeichen seiner Nähe bei uns. Vielleicht nicht so spektakuläre, aber nicht weniger ernsthaft und verbindlich von seiner Seite.

Die Taufe, als Zeichen und Versprechen, dass Gott ein Menschenleben begleitet. Das Abendmahl, als Zeichen, dass er uns das Nötige für den Weg immer wieder geben will.

Und gerade wenn wir vom Bild der Wolkensäule herkommen, erinnern wir uns an noch ein Zeichen: Im Hebräerbrief heißt es, nachdem über ein Kapitel hinweg die Namen und Geschichte von Glaubensvorbilder genannt wurde: "Weil wir ein solche Wolke von Zeugen um uns haben, laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns aufgetragen ist."

Eine Wolke von Zeugen ist um uns, hier in Ronsdorf und weltweit als Zeichen, daß Gott in der Welt ist. Menschen, die uns erinnern an Gottes Worte und Taten, die auch mal für uns glauben, wenn unser Glaube wankt. Wir gehen in Begleitung in das neue Jahr, weil wir es als Glieder der Gemeinde Jesu Christi tun. Wir nehmen uns und die begründeten Hoffnungen unserer Väter und Mütter mit in das Jahr 2001 und wollen alle Wege - und seien es Umwege - in dem Vertrauen gehen, daß uns gute Mächte wunderbar bergen und wir getrost erwarten dürfen, was kommen mag.

Amen.


Jochen Denker, Pfarrer in Wuppertal-Ronsdorf