2. Weihnachtstag - Joh 1,1-5.9-14: Gottes Wort als Lebensquelle für alle Kreaturen

von Johannes Calvin

"... Wenn Gottes Hauch die Welt nicht dauernd am Leben erhielte, müßte alles, was lebt, sofort vergehen und ins Nichts versinken."

1 Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 2 Dasselbe war im Anfang bei Gott. 3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. 4 In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 5 Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat`s nicht ergriffen.

V. 1. „Im Anfang war das Wort.“ Mit diesem ersten Satz verkündet Johannes die ewige Gottheit Christi, damit wir wissen, Gott, der sich offenbart hat im Fleisch, sei ewig. Ferner will er sagen: Die Erneuerung des Menschengeschlechts mußte geschehen durch den Sohn Gottes; denn durch seine Kraft ist alles geschaf­fen, er allein haucht allen Geschöpfen Dasein und Lebenskraft ein, daß sie bestehen und sind; und besonders im Menschen selbst hat er ein einzigartiges Beweisstück seiner Kraft ans Licht gegeben. Dazu hat er auch nach Adams Sturz und Fall dennoch nicht aufgehört, gegen seine Nachkommen gütig und gnädig zu sein.
Diese Lehre muß uns vor allen Dingen einsichtig sein. Denn da nur in Gott Leben und Heil zu suchen sind, wie sollte unser Glaube sich auf Christus stüt­zen, wenn nicht unumstößlich feststünde, was hier gelehrt wird? Der Evangelist bezeugt also mit diesen Worten, daß wir vom alleinigen und ewigen Gott nicht um Haaresbreite abweichen, wenn wir an Christus glauben, sodann, daß durch eines- und desselben Gnade, der schon zuvor Urquell des Lebens war, jetzt auch die Toten das Leben wiedererhalten. Dafür, daß er den Sohn Gottes das Leben nennt, scheint es mir einen ganz einfachen Grund zu geben: zuerst ist ja die ewige Weisheit Gottes und sein Wille da, erst dann nimmt sein Ratschluß Gestalt an. Denn wie bei uns Menschen die Gesinnung sich im Wort ausdrückt, so ist es nicht abwegig, das auch auf Gott zu übertragen; daher heißt es, durch sein Wort stelle er uns sich selbst dar. Andere Deutungen von Logos (Wort) passen hier nicht. Es bedeutet für die Griechen allerdings sowohl „Definition“ als auch „Vernunft“ und „Berechnung“. Aber ich will nicht über das hinaus, was ich durch den Glauben erfasse, scharfsinnig philosophieren. Wir sehen auch, daß Gottes Geist Spitzfindigkeiten dieser Art nicht billigt; sondern indem er nur stam­melnd mit uns redet, ruft er uns durch sein Schweigen zu, wie nüchtern man so großen Geheimnissen nachsinnen müsse. Weiter: zunächst war das Wort in Gott verborgen, bei Erschaffung der Welt aber offenbarte er sich durch dieses Wort; so hat es eine doppelte Beziehung, einmal auf Gott, dann auf die Menschen. Servet, der überhebliche spanische Windbeutel, stellt es so dar, dieses ewige Wort sei erst in dem Augenblick entstanden, als es sich bei Erschaffung der Welt offenharte. Als ob es nicht hätte dasein können, bevor sich seine Macht durch ein Werk nach außen hin erkennen ließ. Ganz anders lehrt hier der Evangelist; denn er schreibt dem Wort keinen Anfang in der Zeit zu, sondern indem er sagt, es sei von Anfang an gewesen, läßt er jede Zeitbegrenzung weit hinter sich. Gott schuf ja am Anfang Himmel und Erde, und die sind doch nicht ewig! Als bezeichne das Wort „Anfang“ die Reihenfolge in der Zeit und nicht Ewigkeit! Aber gegen diese falsche Ausdeutung wendet sich der Evangelist von vorn­herein, denn er sagt, das Wort sei „bei Gott“ gewesen. Wenn das Wort erst von einem bestimmten Zeitpunkt an begonnen hätte dazusein, müßte man in Gott selbst irgendeine Abfolge von Zeiten finden. Gewiß wollte Johannes durch dieses Satzglied „bei Gott“ ausdrücklich das Wort von allem Geschaffenen unter­scheiden. Es hätten einem sonst nämlich viele Fragen in den Sinn kommen kön­nen: Wo sollte jenes Wort denn sein, wie sollte es sein Wesen kundtun, welcher Natur sollte es sein, woran könnte man es erkennen? Johannes sagt also, man dürfe nicht am Erschaffenen haftenbleiben; denn es sei immer mit Gott verbun­den gewesen, schon vor Entstehung der Welt. Stellen nun solche, die den Begriff „Anfang“ auf die Entstehung von Himmel und Erde beziehen, nicht Christus in die allgemeine Ordnung der Welt hinein, von der er hier ausdrücklich aus­genommen wird? Damit tun sie nicht nur dem Sohn Gottes ein greuliches Un­recht an, sondern auch seinem ewigen Vater, den sie seiner Weisheit berauben. Wenn es Sünde ist, sich Gott ohne seine Weisheit vorzustellen, muß man zu­geben, daß man nicht anderswo den Ursprung des Wortes suchen darf als in der ewigen Weisheit Gottes. Servet legt es so aus, daß man das Wort erst in dem Augenblick wahrnehmen könne, als Mose von Gottes Rede unmittelbar spricht. Als ob es in Gott nicht schon hätte vorhanden gewesen sein können, bevor es in die Öffentlichkeit getreten und bekannt geworden ist. Das bedeutet ja, es kann nichts im Innern vorhanden sein, bis es auch nach außen in Erscheinung zu treten beginnt. Aber die Handhabe für solch törichte Phantasien schneidet der Evangelist von vornherein ab, wenn er ohne Einschränkung versichert, das „Wort“ sei „bei Gott“ gewesen. Denn offenbar sollen wir uns durch diese Wendung von jeder zeitlichen Abfolge frei machen. Uns muß genügen: Der Evangelist läßt uns ein in das ewige Allerheiligste Gottes, damit wir wissen, dort sei das Wort gleichsam verborgen gewesen, bevor es sich bei Erschaffung der Welt nach außen offenbart hat. Mit Recht weist also Augustin darauf hin, daß dieser „Anfang“, der hier erwähnt wird, ohne Anfang sei. Obwohl nämlich der Vater dem Range nach früher zu denken ist als seine Weisheit, berauben dennoch die ihn seines Ruhms, die sich irgendeinen Zeitpunkt vorstellen, in dem er ohne seine Weisheit gewesen wäre. Denn sie ist die ewige Schöpferkraft. Vor Erschaffung der Welt war sie freilich eine unendliche Zeit - ich will es einmal so ausdrücken — in Gott verborgen; den Vätern unter dem Gesetz blieb sie lange Zeiträume hindurch nur schattenhaft erkennbar, und erst im Fleisch wurde sie ganz offenbar.
„Und das Wort war bei Gott...“ Wir haben schon gesagt, daß dadurch dem Sohn Gottes der Vorrang vor der Welt und allen Geschöpfen gegeben wird: er war vor aller Zeit. Zugleich aber schreibt dieser Satz dem Sohn eine vom Vater unterschiedene Wesenheit zu. Denn die Aussage des Evangelisten, er sei immer mit oder „bei Gott“ gewesen, wäre sinnlos, wenn er nicht eine ihm eigentümliche Seinsweise in Gott gehabt hätte. Also ist die Stelle dazu geeignet, die Irrlehre des Sabellius zu widerlegen, da sie ja zeigt, daß der Sohn vom Vater sich unter­scheidet. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß man bei so großen Geheim­nissen nüchtern denken und mit Zurückhaltung über sie reden müsse. Doch ver­dienen die alten kirchlichen Schriftsteller in dieser Hinsicht Entschuldigung. Denn da sie die richtige und reine Lehre gegen die zweideutigen Winkelzüge der Ketzer sicherstellen mußten, sahen sie sich gezwungen, gewisse Wendungen zu ersinnen, die ganz dasselbe sagen, was ohnehin in der Heiligen Schrift steht. Sie sagten, drei Wesen oder Personen seien in der einen und einfachen Wesenheit Gottes enthalten. Personen nennen sie die verschiedenen Wesenszüge, die sich in Gott unserm Sinn wahrnehmbar darbieten. So sagt Gregor von Nazianz, er könne nicht den einen denken, ohne daß alsbald drei ringsum aufleuchteten.
„Und Gott war das Wort...“ Um keinen Zweifel an der göttlichen Wesenheit Christi zu lassen, sagt der Evangelist ganz klar, das „Wort“ sei Gott. Da nun Gott ein einziger ist, so folgt daraus: Christus ist mit dem Vater ein und derselben Wesenheit und unterscheidet sich doch in irgendeiner Weise von ihm. Aber über dies zweite ist schon gesprochen worden. Auf das einheitliche Wesen der Gott­heit kommt es an. Also ist es unlauteres Gerede gewesen, wenn Arius behauptete, Gott der Sohn sei nur irgendeine Art Gott, nur um nicht bekennen zu müssen, daß Christus Gott von Ewigkeit sei. Für uns aber gibt es keinen Streit mehr über die ewige Wesenheit Christi, wenn wir hören, das „Wort“ sei „Gott“ gewesen.

V. 2 „Dasselbe war im Anfang bei Gott...“ Um das vorher Gesagte unserem Herzen tiefer einzuprägen, faßt der Evangelist abschließend noch einmal beides zusammen: das „Wort“ ist immer gewesen, und zwar „bei Gott“, damit man er­kenne: der „Anfang“ sei vor aller Zeit.

V. 3. „Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht...“ Der Evangelist hat also zunächst erklärt, das „Wort“ sei „Gott“, und hat die Ewigkeit seines Wesens verkün­det; nun beweist er seine Gottheit auf Grund seiner Werke. Dies ist eine prakti­sche Erkenntnis, mit der wir uns vor allem vertraut machen müssen. Die bloße Bezeichnung Christi als Gott nämlich wird uns kaltlassen, wenn unser Glaube ihn nicht auf Grund seines Tuns als Gottheit spürt und empfindet. Passend also verkündet der Evangelist gerade das vom Sohne Gottes, was auf seine Person recht eigentlich zutrifft. Bisweilen sagt Paulus allerdings einfach, alles bestehe durch Gott (Röm. 11, 36). Aber immer, wenn der Sohn mit dem Vater ver­glichen wird, pflegt er ihn durch dieses Merkmal zu unterscheiden. Daher ist es üblich, sich folgendermaßen auszudrücken: der Vater hat alles durch den Sohn geschaffen, und ebenso: alles besteht durch den Sohn vom Vater her. Darauf aber zielt die Meinung des Evangelisten ab - wie ich schon gesagt habe -, daß unmittelbar bei Beginn der Weltschöpfung das Wort Gottes sofort im äußer­lichen Schaffen in Erscheinung getreten ist. Denn vorher war es in seinem Wesen nicht zu fassen; aber da, in diesem Augenblick, wurde seine Macht durch die Tat offenbar. Auch einige Philosophen sehen Gott als Baumeister der Welt an und erblicken in diesem Werke die Bekundung seines Sinnes. Das ist freilich richtig, denn es stimmt mit der Schrift überein. Aber sie verlieren sich bald in abwegige Gedankengänge. So haben wir keinen Grund, ihr Zeugnis begierig aufzunehmen. Warum sollen wir uns nicht lieber zufriedengeben mit diesem Spruch der himmlischen Weisheit, da wir ja wissen, er besagt viel mehr, als unser Verstand zu fassen vermag?
„Und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist...“ Diese Stelle wird zwar verschieden gelesen, aber ich lese, ohne mich auf Streit einzulassen, zu­sammenhängend so: „nichts ist gemacht, was gemacht ist“. Darin stimmen auch fast alle griechischen Handschriften überein, wenigstens die von größerer Bedeu­tung. Sodann erfordert überhaupt der Sinn diese Lesart. Wer das Satzglied „was gemacht ist“ vom vorhergehenden Satz trennt, um es mit dem folgenden zu ver­binden, erhält einen nur gewaltsamen Sinn: was gemacht wurde, darin war auch Leben, das heißt, es lebte oder wurde am Leben erhalten. Aber er wird nicht nachweisen können, daß ah irgendeiner anderen Stelle so von Geschöpfen ge­sprochen wird. - Augustin, wie üblich allzusehr Platoniker, läßt sich gleich zum Gedanken an die Ideen hinreißen: Gott habe ja vor Erschaffung der Welt die Gestalt des ganzen Werkes in seinem Geiste schon vorweg entworfen, und so sei auch das Leben der noch nicht existierenden Dinge in Christus gewesen, weil ja in ihm die Erschaffung der Welt ihre rechte Ordnung bekommen habe. Aber wie fern dies der Meinung des Evangelisten liegt, werden wir bald sehen. Jetzt kehre ich zum ersten Glied des Satzes zurück. Es handelt sich nicht um eine ver­fehlte, überflüssige Ausdrucksweise, wie es scheinen könnte. Da ja Satan alles in Bewegung setzt, um Christus etwas zu nehmen, wollte der Evangelist bezeugen, daß von dem, was gemacht ist, nichts, aber auch gar nichts auszunehmen sei.

V. 4. „In ihm war das Leben...“ Bis jetzt hat der Evangelist gelehrt, durch das Wort Gottes sei alles geschaffen worden. Jetzt schreibt er ihm auch die Erhaltung alles Geschaffenen zu, etwa so, als wolle er sagen, seine Kraft sei nicht nur plötzlich bei Erschaffung der Welt erschienen und bald wieder vergangen, sondern sie sei noch jetzt in der festen, dauerhaften Ordnung der Natur offenbar. So heißt es Hebr. l,3, alles erhalte er durch sein Wort oder seinen mächtigen Willen. Übrigens kann sich dieses Wort „Leben“ auch auf unbeseelte Wesen be­ziehen, die ja nach ihrer Weise Leben haben, wenn auch kein Empfindungsver­mögen. Im anderen Falle meint das Wort einzig beseelte Wesen. Es ist aber nur von geringer Bedeutung, wofür man sich entscheidet. Der Sinn nämlich ist ein­deutig: das Wort Gottes ist nicht nur die Lebensquelle für alle Kreaturen gewesen, so daß zu sein begann, was vorher nicht war, sondern durch seine lebenschaffende Kraft geschieht es, daß sie in ihrem Dasein verharren. Wenn nämlich sein Hauch die Welt nicht dauernd am Leben erhielte, müßte alles, was lebt, sofort vergehen und ins Nichts versinken. Was schließlich Paulus, Apg. 17,28, Gott zuschreibt: „in ihm leben, weben und sind wir“, das geschieht durch die Gnade des Wortes, wie Johannes bezeugt. Gott also ist es, der uns am Leben erhält, aber durch sein ewiges Wort.
„Und das Leben war das Licht der Menschen ...“ Andere Auslegungen, die vom Geist des Evangelisten abweichen, übergehe ich mit Absicht. Hier spricht er nach meiner Meinung vom „Leben“ insofern, als sich die Menschen vor anderen Lebewesen auszeichnen, so als wenn er sagen wollte, nicht nur das gewöhnliche Leben sei den Menschen gegeben, sondern ein Leben, das mit dem Lichte der Erkenntnisfähigkeit verbunden sei. Weiterhin gibt er dem Menschen eine Sonder­stellung gegenüber den anderen Wesen: denn wir erfassen das Wesen Gottes vollkommener mit unserem inneren Sinn, als daß wir es nur von ferne wahr­nähmen. So mahnt Paulus in der Apostelgeschichte, man dürfe Gott nicht draußen suchen, denn er offenbare sich inwendig in uns. Zunächst also hat der Evangelist mit der Betrachtung der Gnade Christi im allgemeinen begonnen. Um nun die Menschen zu veranlassen, sie näher zu bedenken, zeigt er sodann, was gerade ihnen im besonderen gegeben ist; denn sie sind ja geschaffen nicht ähnlich dem Vieh, sondern als vernunftbegabte Wesen stehen sie auf einer höhe­ren Stufe. Weiter: Gott hat nicht umsonst sein „Licht“ in ihnen entzündet, sondern sie sind dazu geschaffen, daß sie in ihm den Urheber eines so einzigartigen Gutes erkennen. Und da er ja einmal dieses „Licht“, dessen Quelle das „Wort“ war, von dort auch zu uns herübergeleitet hat, müßte es gleich einem Spiegel sein, in dem wir die göttliche Kraft des Wortes klar und deutlich erblicken.

V. 5. „Und das Licht scheint in der Finsternis...“ Man könnte einwerfen, die Menschen würden doch an so vielen Stellen der Heiligen Schrift blind ge­nannt und die Blindheit, derentwegen sie dort verurteilt werden, sei nur allzu bekannt. Bei all ihrer Vernunft gehen sie nämlich jämmerlich in die Irre. Woher summten denn sonst so viel verschlungene Irrwege in der Welt, wenn nicht daher, daß die Menschen gerade durch den ihnen eigentümlichen Verstand sich nur in eitlen Trug verstricken? Wenn sich aber in den Menschen keinerlei Licht mehr offenbart, dann ist jenes Zeugnis Christi, das der Evangelist soeben er­wähnt, erloschen. Jenes war ja die dritte Stufe und, wie gesagt, unter den Lebensäußerungen der Menschen etwas bei weitem Höheres, als es die Fähigkeit ist, sich zu bewegen und zu atmen. Diesen Gegenstand behandelt der Evangelist schon hier und erinnert zunächst daran, daß das „Licht“, das den Menschen anfangs gegeben war, nicht nach ihrem gegenwärtigen Zustand beurteilt werden dürfe; denn in der menschlichen Natur nach dem Sündenfall hat sich das Licht in Finsternis verkehrt. Indessen bestreitet er doch auch weiterhin, daß das Licht der Erkenntnis völlig erloschen sei; denn im Dunkel des menschlichen Sinnes blitzen bis heute Funken des Lichtes auf. Jetzt erkennt der Leser, daß in diesem Satz zweierlei enthalten ist. Einmal besagt er, es ist ein großer Unterschied zwischen dem jetzigen Zustand des Menschen und jenem heilen Zustand, mit dem er an­fangs begabt gewesen. Der Sinn nämlich, der durch und durch von „Licht“ erfüllt sein müßte, ist wie „in Finsternis“ versunken und elendiglich verblendet. Und so ist die Herrlichkeit Christi durch diese Verderbnis der Natur gleichsam verdun­kelt. Aber wiederum behauptet der Evangelist, daß mitten „in der Finsternis“ bis heute noch etwas von dem „Licht“ vorhanden sei, das bis zu einem gewissen Grade auf die göttliche Kraft Christi hinweise. Also der Evangelist sagt deutlich, der Geist des Menschen ist mit Blindheit geschlagen, so daß man mit Recht mei­nen kann, er sei von Finsternis überwältigt. Er hätte nämlich einen milderen Ausdruck gebrauchen und sagen können, das Licht sei verdunkelt oder wie in Nebel gehüllt. Aber er wollte ganz klar zum Ausdruck bringen, wie elend unser Zustand nach dem Fall des ersten Menschen sei. Wenn er aber versichert, das „Licht scheint in der Finsternis“, so dient das keineswegs zum Preise der verderbten Natur, sondern eher dazu, jeden Vorwand für unsere Unwissenheit über uns selbst zu beseitigen.
„Und die Finsternis hat's nicht ergriffen ...“ Obwohl der Sohn Gottes durch dieses uns gebliebene geringe Licht die Menschen immer wieder zu sich geladen hat, sagt doch der Evangelist, das sei ohne jeden Erfolg geschehen: denn sehen­den Auges sähen wir nicht. Seit nämlich der Mensch Gott entfremdet ist, hält Finsternis seinen Sinn so umfangen, daß alles ihm verbliebene Licht wirkungslos und wie erstickt bleibt. Das beweist auch täglich die Erfahrung. Alle nämlich, die durch Gottes Geist nicht wiedergeboren sind und doch irgendeine geistige Kraft besitzen, sind ein unumstößlicher Beweis dafür, daß der Mensch nicht nur dazu geschaffen ist, zu atmen, sondern zu erkennen. Aber unter der Führung dieser seiner Vernunft kann er nicht zu Gott gelangen, ja nicht einmal ihm näher kommen. Daher ist seine Erkenntnis letzten Endes nichts als reine Torheit. Daraus folgt: um das Heil der Menschen wäre es geschehen, wenn ihnen Gott nicht erneut zu Hilfe käme. Denn obwohl Gottes Sohn sein Licht in sie ausgießt, sind sie doch so schwachsichtig, daß sie den Ursprung dieses Lichtes nicht zu erfassen vermögen, sondern es fehlt ihnen weiterhin an Weisheit, und sie folgen ihren wahnwitzigen und verkehrten Einbildungen. Von zweierlei Art ist vor­nehmlich das „Licht“, das den Menschen auch in ihrer verderbten Natur noch geblieben ist: denn allen ist von Geburt eigen irgendein Samenkorn von Reli­gion; sodann ist in ihren Gewissen tief eingeprägt die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Aber was kommt dabei schließlich heraus? Die Religion entartet in tausendfachen Aberglauben, das Gewissen aber verliert die Sicherheit des Urteils und verwechselt so Laster mit Tugend. Insgesamt: Niemals wird die natürliche Vernunft die Menschen zu Christus bringen. Wir sind zwar dahin angelegt, unser Leben verständig zu führen, wir sind geboren zu vortreff­lichem Tun und Wissen, aber auch dies alles ist umsonst und eitel. Nun aber muß man festhalten, daß der Evangelist bisher nur von den natürlichen Gaben spricht, die Gnade der Wiedergeburt aber noch nicht berührt. Er unterscheidet nämlich zweierlei Wirkkraft des Gottessohnes: die eine, die sich in der Erschaf­fung der Welt und der Ordnung der Natur offenbart, die andere aber, durch die er die gefallene Natur erneuert und wiederherstellt. Gottes Wort ist ja von Ewigkeit, und so ist durch dieses die Welt geschaffen; seine Kraft erhält alles am Leben, was einmal Leben empfangen hat; der Mensch vor allem ist mit der einzigartigen Gabe der Erkenntnis ausgestattet, und wiewohl er durch seinen Abfall das Licht der Erkenntnis verloren hat, sieht und erkennt er doch noch immer. So ist nicht gänzlich verloren, was er von Natur auf Grund der Gnade des Sohnes Gottes besitzt. Aber da er ja das Licht, das weiter in ihm lebt, durch seine törichte Verkehrtheit verfinstert, muß der Sohn Gottes eine neue Aufgabe übernehmen, nämlich die des Mittlers, der den verlorenen Menschen durch geist­liche Wiedergeburt erneuert. Also sind die Gedanken derer verkehrt, die dieses vom Evangelisten erwähnte Licht auf das Evangelium und die Lehre von der Erlösung beziehen.

6 Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. 7 Der kam zum Zeugnis, daß er von dem Lichte zeugte, auf daß sie alle durch ihn glaubten. 8 Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. 9 Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschenerleuchtet, die in diese Welt kommen. 10 Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. 11 Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. 12 Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben, 13 welche nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.

V. 6. „Es war ein Mensch...“ Jetzt beginnt der Evangelist den Bericht dar­über, wie das Wort Gottes sich im Fleisch offenbart hat. Damit niemand an­zweifle, daß Christus der Sohn Gottes von Ewigkeit her sei, sagt er, er sei durch die Verkündigung Johannes des Täufers schon im voraus gefeiert worden. Denn Christus hat nicht gewollt, daß er von den Menschen nur gesehen werde, sondern er wollte auch durch das Zeugnis und die Lehre des Johannes bekannt werden. Auf Erden hat Gott der Vater seinem Gesalbten diesen Zeugen vorausgesandt, damit alle um so leichter das Heil annehmen könnten, das er ihnen darbot. Dennoch könnte es auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, daß für Christus von anderer Seite her ein Zeugnis abgelegt wird, als ob er selbst dessen bedürfe. Verkündet er doch ausdrücklich, daß er von Menschen kein Zeugnis suche. Die Antwort darauf ist bekanntlich leicht: dieser Zeuge ist nicht Christi, sondern unsertwegen eingesetzt. Wenn jemand dem entgegnen sollte, das Zeugnis eines Menschen sei nicht beweiskräftig genug dafür, daß Christus der Sohn Gottes sei, so gibt es auch hierfür sofort eine Lösung: der Täufer tritt nicht gleichsam im eigenen Namen als Zeuge auf, sondern, mit göttlicher Vollmacht versehen, gleicht er mehr einem Engel als einem Menschen. Daher rühmt man ihn nicht seiner eigenen Vortrefflichkeit wegen, vielmehr nur deshalb, weil er der Gesandte Gottes war. Und dem steht nicht entgegen, daß die Verkündigung des Evangeli­ums Christus anvertraut war, damit er für sich selbst zeuge. Denn die Verkündi­gung des Johannes hatte ja den Zweck, die Menschen auf die Lehre und die Wunder Christi hinzuweisen.
„Von Gott gesandt, der hieß Johannes...“ Die Tatsache, daß Johannes be­rufen war, betont er nicht stärker; er erwähnt sie nur beiläufig. Das ist zwar zu ihrer Bekräftigung nicht genug, denn viele kommen aus eigenem Antrieb daher und rühmen sich, von Gott gesandt zu sein; aber da der Evangelist bald danach über diesen Zeugen mehr berichten wird, hat er sich damit begnügt, nur das eine im voraus zu erwähnen: Johannes ist im Auftrage Gottes gekommen. Später werden wir dann sehen, wie er den Anspruch begründet, daß er wirklich im Auftrage Gottes aufgetreten sei. Für den Augenblick ist nur festzuhalten, daß man bei allen Kirchenlehrern danach fragen muß, ob sie wirklich von Gott berufen seien. Denn nur in Gott darf die Vollmacht zu lehren sich gründen. Den Namen Johannes nennt der Evangelist ausdrücklich, nicht nur um den Menschen, sondern um seine Aufgabe damit zu kennzeichnen. Denn ohne Zweifel befahl der Herr durch seinen Engel, ihn im Hinblick auf sein Amt Johannes zu heißen, so daß alle schon daraus erkannten, er ist der Verkünder der göttlichen Gnade. Der Name bedeutet ja „Gott ist gnädig“.

V. 7. „Der kam zum Zeugnis ...“ Wozu er berufen sei, streift der Evangelist nur kurz: doch dazu, Christus seine Gemeinde zu bereiten. Indem er so alle einlud, zu Christus zu kommen, zeigte er deutlich genug, daß er nicht um seiner selbst willen gekommen war. Johannes durfte aber auch gar nicht so sehr hervor­gehoben werden. Daher erinnert der Evangelist daran, dieser sei nicht das Licht gewesen, damit nicht etwa sein übermäßiger Glanz den Ruhm Christi über­schatte. Es gab nämlich Menschen, die jenem so fest anhingen, daß sie Christus darüber fast vergaßen; so als wenn einer, ganz ergriffen vom Anblick der Mor­genröte, es nicht für wert erachtete, seine Augen zur Sonne zu kehren. Weiter werden wir gleich sehen, in welchem Sinne der Evangelist das Wort „Licht“ ver­wendet. Zwar sind alle Frommen ein Licht im Herrn (Eph. 5,8); denn, von seinem Geist erleuchtet, vermögen sie nicht nur selbst das Heil zu schauen, son­dern sie führen auch andere durch ihr Vorbild auf den Weg des Heils. Vor allem auch die Apostel werden ein Licht genannt; denn sie tragen die Fackel des Evangeliums vor sich her, um die Finsternis der Welt zu vertreiben. Hier aber spricht der Evangelist, wie sich sofort ganz deutlich zeigt, von dem alleinigen und ewigen Quell der Erleuchtung.

V. 9. „Das war das wahrhaftige Licht...“ Das wahre Licht wird nicht in Gegensatz gestellt zu einem falschen, sondern der Evangelist wollte Christus von allen anderen unterscheiden. Keiner sollte glauben, das, was hier den Namen „Licht“ trägt, sei dasselbe, was auch Engel oder Menschen haben könnten.
Der Unterschied besteht sodann darin: alles, was im Himmel und auf Erden leuchtet, borgt seinen Glanz von einer anderen Quelle; Christus aber ist das „Licht“, das aus sich und durch sich selbst leuchtet; darauf erleuchtet es die ganze Welt mit seinem Glanz, und es gibt keinen anderen Ursprung und Grund außer ihm. Das „wahrhaftige Licht“ also hat er den genannt, dem es von Natur aus eigen ist, zu leuchten.
„Welches alle Menschen erleuchtet...“ Den größten Wert legt der Evangelist auf die Lehre, daß Christus das „Licht“ ist, und zwar gründet er sie auf die Wir­kung, die jeder von uns an sich selbst wahrnimmt. Er hätte auch tiefsinniger darlegen können, daß Christus als das ewige Licht einen ihm selbst eingeborenen Glanz habe, der nicht aus anderer Quelle stamme, aber er stellt uns lieber wieder auf den Boden der Erfahrung, die wir alle haben. Denn da Christus uns alle an seinem Glanz teilhaben läßt, muß man zugeben, daß diese Ehre, nämlich das Licht zu heißen, ihm ganz allein zukommt. Übrigens pflegt man diese Stelle doppelt auszulegen. Manche beziehen diese ganz allgemein gültige Bemerkung nur auf diejenigen, die, durch Gottes Geist wiedergeboren, voll des lebenschaf­fenden Lichtes teilhaftig sind. Augustin sagt, es sei so ähnlich, wie wenn man einen Schulmeister, der als einziger in einer Stadt eine Schule besäße, den Lehrer aller nenne, auch wenn viele seine Schule gar nicht besuchten. So ähnlich, nehmen sie an, sei es gemeint, daß alle von Christus erleuchtet würden, da ja niemand sich rühmen könne, anders als durch die Gnade Christi das Licht des Lebens empfangen zu haben.
Aber da der Evangelist ausdrücklich von allen spricht, „die in diese Welt kommen“, scheint mir der andere Sinn einleuchtender: daß nämlich die Strahlen dieses Lichtes sich auf die ganze Menschheit verteilt haben, so wie auch schon früher gesagt ist. Denn wir wissen, daß ganz allein wir Menschen dies vor den anderen Lebewesen voraushaben, daß wir mit Verstand und Einsicht begabt sind und daß wir die Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, tief in unserem Gewissen eingeprägt tragen. So gibt es denn niemanden, zu dem nicht irgendeine Empfindung dieses ewigen Lichtes gelangte. Nun gibt es aber Schwärmer, die diese Stelle unbesehen aus dem Zusammenhang reißen und so lange drehen und wenden, bis sich schließlich daraus ergibt, allen biete sich in gleicher Weise die Gnade der Erleuchtung an. Jedoch wollen wir daran erinnern: hier handelt es sich nur um das allgemeine natürliche Licht, das tief unter dem des Glaubens steht. Denn mit der ganzen Schärfe und Erkenntniskraft seines Verstandes wird kein Mensch je in das Reich Gottes gelangen; allein der Geist Christi ist es, der die Pforte des Himmels seinen Erwählten auftut. Sodann erinnern wir uns, wie das Licht der Vernunft, diese Gabe Gottes für den Men­schen, sich so verdunkelte, daß in der dichten Finsternis, in dem so furchtbaren Abgrund von Unwissenheit und Irrtum, kaum noch geringe Funken aufleuch­ten; und auch sie ersticken sogleich.

V. 10. „Er war in der Welt...“ Der Evangelist klagt die Menschen der Undankbarkeit an; denn sie haben sich gleichsam aus eigenem Antrieb so geblendet, daß sie den Ursprung des Lichtes, das sie besaßen, nicht erkannten. Das aber betrifft alle Weltalter: schon bevor Christus sich im Fleisch offenbarte, zeigte sich seine Kraft ja überall. So hätte sein tägliches Wirken den Starrsinn der Menschen ändern müssen. Ist nämlich etwas Unsinnigeres denkbar, als Wasser aus einem Bache zu schöpfen und die Quelle nicht zu erkennen, aus der es hervorsprudelt? Also daß die Welt Christus nicht erkannte, bevor er sich im Fleisch offenbarte, das läßt sich gerechterweise nicht mit Unwissenheit entschuldi­gen. Es trat nur ein infolge der Trägheit oder eines ganz böswilligen Stumpf­sinnes derer, die ihn doch immer in seiner Kraft und Wirkung vor Augen hatten. Es heißt, nie ist Christus der Welt so fern gewesen, daß die Menschen nicht, durch seine Strahlen erweckt, ihre Augen zu ihm hätten erheben können. Daraus folgt, daß jene mangelhafte Erkenntnis als Schuld anzurechnen ist.

V. 11. „Er kam in sein Eigentum...“ Hier wird ganz gewiß Klage erhoben gegen die Verkehrtheit und Bosheit der Menschen, hier zeigt sich ihre mehr als verruchte Gottlosigkeit; denn obwohl Gottes Sohn sichtbar als Mensch in Er­scheinung trat, und zwar unter den Juden, die sich Gott selbst vor anderen Völkern als sein besonderes Eigentum auserwählt hatte, erkannten sie ihn doch nicht und „nahmen ihn nicht auf“. - Auch diese Stelle erklärt man verschieden. Einige nämlich glauben, der Evangelist spreche von der Welt überhaupt und ganz allgemein; und soviel ist gewiß, es gibt keinen Ort in der Welt, den der Sohn Gottes nicht mit vollem Recht als sein Eigentum beanspruchen dürfte. Der Sinn dieser Stelle ist also nach der Meinung dieser Ausleger: als Christus auf die Erde herabstieg, kam er nicht in ein fremdes Land, da ja die ganze Menschheit sein ihm zustehendes Erbe war. Aber zutreffender deuten diese Stelle nach mei­ner Überzeugung die, welche sie allein auf die Juden beziehen. Es liegt nämlich darin unausgesprochen etwas, wodurch der Evangelist die Undankbarkeit der Menschen noch deutlicher werden läßt. Gottes Sohn hatte sich ein Volk zum Wohnsitz erkoren, und als er dort nun erschien, wurde er zurückgestoßen. Das zeigt doch ganz deutlich, wie bösartig die Verblendung der Menschheit war. Es war aber unbedingt nötig, das zu sagen. Denn nur so konnte der Evangelist das Ärgernis beseitigen, das der Unglaube der Juden später für viele verursachte. Da er nämlich gerade von dem Volke verachtet und verworfen worden war, dem er namentlich verheißen wurde, wer hätte da an ihn als den Erlöser der ganzen Welt glauben sollen? Wir sehen ja, wie sehr Paulus in diesem Punkte zu kämpfen hatte. Übrigens liegt sowohl im Zeit- wie im Hauptwort des Satzes: „er kam in sein Eigentum“ besonderer Nachdruck. Wo der Sohn Gottes vorher schon war, dorthin sei er jetzt gekommen, sagt der Evangelist. Er kennzeichnet also damit die ganz neue und außerordentliche Weise seiner Gegenwärtigkeit, wodurch der Sohn Gottes sich so offenbarte, daß die Menschen ihn mit leiblichen Augen erblicken konnten. Indem er sagt „in sein Eigentum“, hebt er die Juden unter den anderen Völkern hervor; denn sie waren mit einzigartigem Vorzug zur engsten Gemeinschaft mit Gott erwählt, und ihnen bot sich Christus zuerst an als Hausgenossen, die in besonderer Weise zu seinem Reiche gehörten. Aber darauf bezieht sich schon jene Klage Gottes bei Jesaja: „Der Ochs kennt seinen Herrn und der Esel die Krippe seines Herrn. Israel aber kennt mich nicht" (Jes. l,3). Obwohl er die Herrschaft über die ganze Welt besitzt, macht er sich doch insbesondere zum Herrn über Israel, das er gleichsam in einer heiligen Hürde versammelt hatte.

V. 12. „Wie viele ihn aber aufnahmen...“ Damit sich nun niemand bei diesem Ärgernis aufhalte, daß die Juden Christus verachtet und verschmäht haben, erhebt der Evangelist die Frommen, die an Christus glauben, bis über den Him­mel empor. Er sagt nämlich, durch den Glauben erlangten sie den Ruhm, als „Gottes Kinder“ zu gelten. Auch liegt in dem umfassenden Wort „wie viele“ ein Gegensatz. In verblendeter Prahlsucht nämlich rühmten sich die Juden, als wäre Gott ihnen allein verpflichtet. Also verkündet der Evangelist, die Lage sei jetzt gänzlich verändert; denn da die Juden verworfen seien, träten nun die Heiden­völker an ihre Stelle. Es ist geradeso, als übertrage er das Recht der Kindschaft auf die Außenstehenden. Das meint auch Paulus, wenn er sagt: „Der Untergang dieses einen Volkes ist zum Leben für die ganze Welt geworden“ (Röm. 11,12.15). Denn nachdem sie das Evangelium gleichsam aus ihrem Gebiet vertrieben hatten, begann es, sich nach allen Richtungen durch die ganze Welt hin zu verbreiten. So beraubten sich die Juden des Vorrechts, durch das sie ausgezeichnet waren. Christus aber nahm durch ihre Gottlosigkeit keinen Schaden; denn er errichtete nun anderswo seinen Herrschersitz und berief ohne Unterschied alle Völker, die früher von Gott verworfen schienen, zur Hoffnung auf das Heil.
„Denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden...“ Das Wort des griechischen Textes bedeutet hier soviel wie „Würde“. Und es wäre besser, so auch zu über­setzen, um die falsche Meinung der Papisten zurückzuweisen. Sie verdrehen diese Stelle nämlich aufs .schlimmste, da sie sie folgendermaßen auffassen: es sei ganz unserer Entscheidung überlassen, ob wir die Wohltat der Gotteskindschaft annehmen wollten oder nicht. So schließen sie aus diesem Wort auf die freie Entscheidung des Menschen und schlagen gleichsam Feuer aus Wasser. Auf den ersten Blick hat diese Deutung etwas für sich; denn der Evangelist sagt ja nicht, Christus mache die Gläubigen zu „Gottes Kindern“, sondern er gebe ihnen die „Macht, es zu werden“. Daraus also schließen sie, diese Gnade werde uns nur angeboten, und es läge nun in unserer freien Entscheidung, sie anzunehmen oder zurückzuweisen. Aber diese unsinnige Wortklauberei wird durch den Zusam­menhang der Stelle hinfällig; gleich anschließend fügt ja der Evangelist hinzu, nicht nach dem Eigenwillen des Fleisches würden sie Gottes Kinder, sondern allein durch die Wiedergeburt aus Gott. Wenn wir aber durch den Glauben zur Gotteskindschaft wiedergeboren werden und Gott uns diesen vom Himmel her eingibt, so steht eindeutig fest: die Gnade der Kindschaft wird uns von Christus nicht nur als Möglichkeit geboten; sie ist mit dem Glauben selbst schon gegeben.Tatsächlich wird das griechische Wort für Macht bisweilen auch im Sinne von „Ansehen“ oder „Rang“ gebraucht. Und dieser Sinn paßt für diese Stelle am besten. Die vom Evangelisten gebrauchte Umschreibung aber betont die Er­habenheit der Gnade weit stärker, als wenn er nur kurz gesagt hätte, alle, die an Christus glaubten, würden durch ihn zu Kindern Gottes. Denn sein Wort gilt ja den Unreinen und Unheiligen, die, zu ewiger Schmach verdammt, in der Finsternis des Todes lagen. Und so erweist sich gerade darin die bewunderns­würdige Größe der Gnade Christi, daß sie so Elende dieser Ehre würdigte und diese nun plötzlich begannen, „Gottes Kinder“ zu sein. Die Größe dieser Wohltat betont der Evangelist mit vollem Recht; ebenso tut es auch Paulus im Brief an die Epheser (2,4). Wenn aber einer das Wort Macht lieber in seiner gewöhn­lichen Bedeutung verstehen wollte, so meint doch der Evangelist hier mit dem Ausdruck nicht die Möglichkeit, sich so oder so zu entscheiden, welche die ganze und volle Wirkung der Gnade aufhöbe, sondern er meint vielmehr, daß Christus den unreinen und tiefgefallenen Menschen etwas geschenkt habe, was ganz unmöglich schien. Der unglaubliche Umschwung nämlich trat damals ein, als Christus Gott aus Steinen Kinder erweckte. Das lateinische Wort Macht bedeu­tet also „Fähigkeit“. Daran denkt auch Paulus (Kol. 1,12), als er Gott dankt, daß er uns fähig gemacht hat, teilzuhaben am Erbe der Heiligen.
„Die an seinen Namen glauben ...“ Christus ergreift man natürlich durch den Glauben, stellt der Evangelist kurz fest. Wenn wir also in Christus gleichsam verwurzelt sind, erlangen wir das Recht der Aufnahme an Kindes Statt, so daß wir „Gottes Kinder“ sind. Nun ist aber Christus der alleinige Sohn Gottes; also kommen wir zu dieser Ehrenstellung nur, insofern wir seine Glieder sind. Wieder ergibt sich hieraus auch eine Widerlegung jener falschen Auslegung des Wortes „Macht“. Der Evangelist sagt nämlich deutlich, diese Macht werde denen gegeben, „die“ bereits „glauben“. Ganz sicher sind sie ja eben dadurch auch schon Gottes Kinder. Wer also behauptet, durch diesen Glauben könne der Mensch nur erreichen, Gottes Kind zu werden, falls er wolle, nimmt dem Glauben zuviel von seiner Kraft; denn er setzt an Stelle einer eingetretenen Wirkung nur eine ungewisse Möglichkeit. Noch deutlicher wird das aus dem Folgenden, wo es heißt, die Glaubenden seien bereits aus Gott wiedergeboren. Es bietet sich ihnen also nicht nur eine Möglichkeit zu wählen, da sie ja das, worum es geht, schon besitzen. „Name“ kommt im Hebräischen allerdings oft in der Bedeutung „Kraft“ vor; hier jedoch meint Name die „Lehre des Evangeliums“. Wir glau­ben erst dann an Christus, wenn er uns verkündet worden ist. Ich spreche dabei von dem üblichen Weg, auf dem der Herr uns zum Glauben führt. Das ist wichtig; denn viele, die keine klare Erkenntnis der Lehre besitzen, geraten in die Irre selbsterfundener Glaubensvorstellungen. So ist bei den Anhängern der Papisten nichts abgegriffener als das Wort Glauben, da sie das Evangelium nicht hören und deshalb Christus nicht kennen. Christus also bietet sich uns durch das Evangelium an, und wir nehmen ihn durch den Glauben auf.

V. 13. „Welche nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches...“ Die Ansicht einiger, hier werde die unbegründete Zuversicht der Juden auf ihre leibliche Abstammung von Abraham tadelnd gestreift, teile ich gern. Sie führten immer den Rang ihrer Abstammung im Munde, als ob sie von heiliger Abkunft, von Natur heilig seien. Mit Recht hätten sie sich ihres Stammvaters Abraham gerühmt, wenn sie rechte und nicht entartete Söhne gewesen wären. Aber der Ruhm des Glaubens hat nichts mit anmaßendem Stolz auf leibliche Abstammung zu tun, sondern er verdankt sein Gutes allein der Gnade Gottes. Johannes sagt also, alle, die von den vorher unreinen Heiden an Christus glauben, werden nicht vom Mutterleibe an als Gottes Kinder geboren, sondern von Gott zu solchem Neubeginn wiedergeschaffen. Indessen kann man aus dieser Stelle noch eine allgemeine Lehre entnehmen: wir sind Gottes Kinder nicht aus unserer eigenen Natur und aus eigenem Antrieb. Nein, der Herr hat uns aus seinem Willen und seiner freignädigen Liebe dazu gemacht. Hieraus folgt zuerst: der Glaube kommt nicht aus uns; er ist die Frucht geistlicher Wiedergeburt. Der Evangelist sagt nämlich, keiner könne glauben, der nicht aus Gott wieder­geboren sei. Weiter: der Glaube ist keine kalte und nackte Erkenntnis; denn keiner kann glauben, wenn er nicht durch Gottes Geist erneuert worden ist. Doch sieht es so aus, als kehre der Evangelist die Reihenfolge um und sehe die Wiedergeburt durch den Glauben als das Frühere an, während sie doch eher die Auswirkung des Glaubens, also später ist. Ich antworte: Beides stimmt sehr gut zusammen; denn wir empfangen auch durch den Glauben den unvergänglichen Samen, durch den wir in das neue göttliche Leben wiedergeboren werden. Und doch ist schon der Glaube selbst das Werk des Heiligen Geistes, der nur in den Kindern Gottes wohnt. Also ist in verschiedener Hinsicht der Glaube ein Teil unserer Wiedergeburt und der Eintritt ins Reich Gottes, so daß er uns zu seinen Kindern zählt. Denn daß der Geist unseren Sinn erleuchtet, gehört schon zu unserer Erneuerung. So fließt der Glaube aus der Wiedergeburt wie aus einer Quelle. Aber da wir mit demselben Glauben Christus aufnehmen, der uns mit seinem Geiste heiligt, so heißt der Glaube der Beginn unserer Kindschaft. In­dessen läßt sich noch eine zweite, klarere und einfachere Deutung vorbringen. Denn indem der Herr uns den Glauben einhaucht, läßt er uns im geheimen auf eine unbekannte Weise wiedergeboren werden. Wenn wir aber mit dem Glau­ben beschenkt sind, ergreifen wir mit lebendigem Bewußtsein nicht nur die Gnade der Kindschaft, sondern auch das neue Leben und die anderen Gaben des Heiligen Geistes. Da, wie gesagt, der Glaube Christus ergreift, führt er uns gewissermaßen in den Besitz all seiner Güter ein. Soweit es sich also um unser persönliches Empfinden handelt, fangen wir erst nach dem Glauben an, Gottes Kinder zu sein. Wenn aber die Frucht der Kindschaft das Erbe des ewigen Lebens ist, so schreibt der Evangelist offensichtlich allein der Gnade Christi unsere Rettung zu. Und wirklich würden die Menschen auch bei gründlichster Gewissenserforschung nichts finden, was sie der Gotteskindschaft wert machte, außer dem, was ihnen Christus gegeben hat. Indessen kann eine andere, klarere und bequemere Unterscheidung angebracht werden. Denn da der Herr den Glauben einhaucht, erzeugt er uns im verborgenen sowohl auf eine geheime als auch uns unbekannte Weise wieder. Mit dem Glauben aber beschenkt, ergreifen wir mit dem lebendigen Gefühl des Gewissens nicht nur die Gnade der Kind­schaft, sondern auch die Neuheit des Lebens und andere Geschenke des Heiligen Geistes.

14 Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

V. 14. „Und das Wort ward Fleisch ...“ Nun legt Johannes dar, welcher Art jenes Kommen Christi gewesen ist, das er erwähnt hatte: nämlich er nahm unser Fleisch an und zeigte sich offen der Welt. Und wenn der Evangelist auch nur kurz das unaussprechliche Geheimnis berührt, daß der Sohn Gottes die Natur des Menschen annahm, so ist diese Kürze doch wunderbar durchsichtig. Hier treiben manche wahnwitzigen Menschen ihre Gedankenspiele und wertlosen Silbenstechereien und meinen, es heiße, das Wort sei Fleisch geworden, weil Gott seinen Sohn, so wie er ihn in seinem Sinne trug, als Mensch in die Welt geschickt habe; als wenn dieses Wort nur irgendeine schattenhafte Idee gewesen wäre. Aber wir haben doch bewiesen, daß eine wirkliche Seinsweise der Wesenheit Gottes mit diesem Wort gemeint sei. Die Bezeichnung Fleisch hat auch mehr Kraft, den Sinn dieser Stelle auszudrücken, als wenn er nur gesagt hätte, er sei Mensch geworden. Er wollte zeigen, in welch elende, verlorene Lage der Sohn Gottes unsertwegen aus seinem erhabenen himmlischen Glänze herabgestiegen sei. Wenn die Schrift von dem Menschen herabsetzend spricht, nennt sie ihn Fleisch. Obwohl aber ein so großer Unterschied zwischen der geistlichen Herr­lichkeit des Wortes Gottes und der irdischen Vergänglichkeit unseres Fleisches besteht, hat doch Gottes Sohn sich so weit herabgelassen, daß er dieses mit so vielen Übeln behaftete Fleisch auf sich genommen hat. Übrigens meint „Fleisch“ hier nicht nur die verderbte Natur, wie oft bei Paulus, sondern den sterblichen Menschen überhaupt. Freilich weist auch Psalm 78,39 vor allem des Menschen hinfällige und fast ganz nichtige Natur verächtlich auf: er hat ihrer gedacht, weil sie ja Fleisch sind. Dazu kommt Jesaja 40,6: „alles Fleisch ist wie Gras". Zugleich muß man jedoch beachten, daß es sich um eine nur andeutende Aus­drucksweise handelt, weil der geringere Teil für den ganzen Menschen steht. Also ist es Torheit, wenn Apollinaris sich vorstellt, Christus habe nur den Leib, nicht aber die Seele eines Menschen gehabt. Denn aus zahllosen Stellen kann man klar erkennen, daß Christus nicht weniger der Seele als dem Leibe nach Mensch gewesen ist. Und wenn die Schrift den Menschen Fleisch nennt, meint sie ja deshalb nicht, er sei ohne Seele. Der Sinn ist also klar: Das Wort, das vor aller Zeit aus Gott geboren und immer mit dem Vater vereinigt war, ist Mensch geworden. Bei diesem Hauptstück des Glaubens ist vor allem zweierlei festzu­halten: in Christus haben sich zwei Naturen so innig verbunden, daß ein und derselbe Christus wahrer Gott und Mensch zugleich ist. Zweitens aber: es wider­spricht nicht der Einheit der Person, daß die beiden Naturen unterschieden blie­ben, so daß die göttliche Natur ihre volle Eigenart behielt, ebenso wie die menschliche Natur die ihre. Obwohl deshalb Satan mit ganz verschiedenen Irr­lehren versucht hat, durch Ketzer die reine Lehre zu zerstören, hat er doch immer gerade von diesen beiden die eine oder andere eingeführt. Entweder hat er behauptet, Christus sei so unterschiedslos Sohn Gottes und eines Menschen, daß weder seine göttliche Natur unversehrt erhalten geblieben sei noch seine menschliche, oder aber, er sei so sehr Fleisch geworden, daß er gleichsam ein Doppelwesen sei und zwei getrennte Personen habe. So bekannte sich einst Nestorius mit beredten Worten zur Doppelnatur Christi; aber er machte ihn einmal zum Gott, das andere Mal zum Menschen. Eutyches aber erkannte zwar im Gegensatz dazu Christus zugleich als Gottes- und Menschensohn an, ließ ihm aber keine von den beiden Naturen, sondern gab vor, sie seien gleichzeitig und vermischt. Und Servet stellt sich heutzutage in Übereinstimmung mit den Wie­dertäufern eben solchen Christus vor, der unterschiedslos aus einer Doppelnatur völlig verschmolzen ist wie ein Gottmensch. Dem Wort nach behauptet er zwar, er sei Gott; aber wenn man seinen unsinnigen Verdrehungen auf den Grund geht, so hat sich seine Göttlichkeit im Augenblick zur menschlichen Natur ge­wandelt, und jetzt wiederum ist seine Menschennatur von der Gottheit auf­gesogen. Zur Widerlegung dieser beiden frevelhaften Irrlehren sind die Worte des Evangelisten gut geeignet. Wenn er sagt, „das Wort sei Fleisch geworden“, geht daraus deutlich die Einheit der Person hervor. Es ist ja nicht möglich, daß ein anderer jetzt Mensch ist als derjenige, der stets wahrer Gott war, da es heißt, ebenjener Gott sei Mensch geworden. Da wiederum der Evangelist ganz deut­lich dem Menschen Christus die Bezeichnung „das Wort“ beilegt, folgt daraus, daß Christus bei seiner Menschwerdung doch nicht aufgehört hat zu sein, was er früher war, und daß sich nichts an jenem ewigen Wesen Gottes geändert habe, das Fleisch wurde. Gottes Sohn begann also sein Menschsein so, daß er doch auch weiterhin jenes ewige Wort war, das keinen Anfang in der Zeit hat.
„Und wohnte unter uns.“ Wenn man die Stelle so erklärt, Christus habe im Fleisch gleichsam seinen festen Wohnsitz genommen, trifft man ihren Sinn nicht ganz genau. Denn der Evangelist schreibt Christus nicht eine dauernde Bleibe unter uns zu, sondern er sagt, er habe auf einige Zeit nur gastweise unter uns geweilt. Das von ihm benutzte Verb nämlich ist vom Wort „Zelt" abgeleitet. Nichts anderes also bedeutet es, als daß Christus auf Erden nur eine ihm aufer­legte Aufgabe erfüllt habe, oder auch, daß er zwar nicht nur für einen einzigen Augenblick erschienen sei, aber doch nur so lange unter den Menschen weilte, bis er ihnen seinen Dienst geleistet habe. „Unter uns.“ Es ist übrigens nicht sicher, ob der Evangelist ganz allgemein von den Menschen spricht oder nur sich und die übrigen Jünger meint, die Augenzeugen dessen waren, was er erzählt. Ich neige mehr der zweiten Auffassung zu, denn er fährt gleich fort:
„Und wir sahen seine Herrlichkeit.“ Obwohl nämlich die Herrlichkeit Christi allen hätte sichtbar sein können, blieb sie doch den meisten wegen ihrer Blind­heit unbekannt. Nur die wenigen, denen der Heilige Geist die Augen öffnete, erlebten die Offenbarung seiner Herrlichkeit. Zusammenfassend ist zu sagen: Christus war in seinem Erdenleben so bekannt geworden, daß er jedem die Möglichkeit geboten hätte, etwas viel Größeres und Herrlicheres als nur den Menschen in ihm zu erblicken. Daraus folgt, die Erhabenheit Gottes war nicht aus ihm geschwunden, obwohl sie sich im Fleisch befand. Sie war zwar unter der Niedrigkeit des Fleisches verborgen, aber doch so, daß ihr Glanz aus ihm her­vorleuchtete. Das Wort „als des eingebornen Sohnes“ bezeichnet hier nicht die Uneigentlichkeit; eher unterstreicht es die völlige Obereinstimmung von Chri­stus und Sohn Gottes. So will Paulus, wenn er Eph. 5,9 sagt: „Wandelt wie die Kinder des Lichtes“, daß wir durch unsere Werke gerade dies bezeugen, daß wir wirklich Kinder des Lichtes sind. Der Evangelist meint, man habe an Christus die Herrlichkeit wahrnehmen können, die mit dem Wesen Gottes überein­stimmte, und das war ein sicherer Beweis für seine Göttlichkeit.
„Voller Gnade und Wahrheit. Eingeboren“ nennt er ihn, weil er seiner Natur nach der einzige Sohn Gottes ist. Er stellt ihn also hoch über Menschen und Engel und legt ihm allein bei, was keiner Kreatur sonst zusteht. „Voller Gnade.“ Diese Wendung bestätigt, was eben gesagt war. Zwar offenbart sich die Erhabenheit Christi auch in anderer Hinsicht, aber gerade diese Erscheinungsform wählt der Evangelist vor anderen, damit wir ihn mehr durch sein Handeln erkennen als durch den Verstand erfassen. Das muß man sich sorgfältig merken. Gewiß, als Christus trockenen Fußes übers Wasser ging, als er Dämonen austrieb und mit anderen Wundern seine Macht kundtat, gab er sich als den eingeborenen Sohn Gottes zu erkennen. Aber der Evangelist stellt den Teil des Beweises in den Mittelpunkt, aus dem der Glaube eine köstliche Frucht empfängt, weil nämlich Christus durch die Tat bezeugt hat, daß er der unerschöpfliche Quell der „Gnade und Wahrheit“ ist. Es heißt, auch Stephanus sei voller Gnade gewesen (Apg. 6,8), aber in einem anderen Sinn. Die Fülle der Gnade nämlich liegt in Christus; er ist die Quelle, aus der wir alle schöpfen müssen. Darüber wird bald ausführlicher zu reden sein. Gnade und Wahrheit könnte auch im Sinne von wahrhaftiger Gnade gemeint sein, oder man könnte auch auslegen, er sei „voller Gnade“ gewesen, und das bedeutet soviel wie „Wahrheit“ oder „Vollkommen­heit“. Aber da er gleich dieselbe Ausdrucksweise wieder benutzt, bin ich der Meinung, beide Stellen hätten denselben Sinn. Gnade und Wahrheit stellt er später in Gegensatz zum Gesetz. Daher deute ich einfach die Stelle so: Die Apostel konnten Christus daran als Sohn Gottes erkennen, daß er die Fülle dessen besaß, was zur geistlichen Herrschart Gottes aut Erden gehört, und daii er sich schließlich als Erlöser und Messias erwies. Durch dieses Merkmal unter­schied er sich von allen andern Menschen.

Aus: Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Das Johannes-Evangelium, Neukirchener Verlag, 1964, S. 7-23.


Achim Detmers
 

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