70 Jahre Israel: Predigt zum Israelsonntag

von Sylvia Bukowski


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Am 14. Mai 1948 wurde die Gründung Israels ausgerufen. Die Geschichte Jerusalems reicht deutlich weiter zurück: 3000 Jahre. Sylvia Bukowski spricht in ihrer Predigt zum Israelsonntag über eine Stadt, die nicht nur als geistige Größe Bedeutung hat.

Liebe Gemeinde,

gerade haben wir davon gesungen, dass wir zum Zion gehören, also nach Jerusalem, aber ich glaube, niemand hat dabei an die real existierende Stadt gedacht. Wir sind ja auch alle geprägt von einer Tradition, in der Israel und speziell Jerusalem nur noch als geistige Größen Bedeutung haben. Jerusalem, du hoch gebaute Stadt – das Lied, das so anfängt steht im Gesangbuch unter der Rubrik „Ende es Kirchenjahrs“ und es drückt die Sehnsucht nach dem jenseitigen Ort aus, wo alle Mühen des Lebens vergessen sind, alle Tränen getrocknet, kein Leid und Geschrei mehr das Herz schwer macht. So, als himmlische Stadt, ist Jerusalem bei uns präsent, lediglich als eine Chiffre für Gottes kommende Welt.

Aber woran denken Sie, wenn es um das irdische Jerusalem geht, eine Stadt, die seit 3000 ganz real existiert?

Einige wenige von Ihnen kennen Jerusalem vielleicht von einer Israelreise, haben eigene Eindrücke im Kopf von den breiten Straßen in den neuen Stadtteilen und den verwinkelten Gassen in der Altstadt, von den historischen Orten und den modernen Shoppingmalls, von den vielen erkennbar religiösen Menschen in Kaftan, Kutte oder Kopftuch und den überall gegenwärtigen Soldaten und Soldatinnen mit ihren lässig geschulterten Maschinenpistolen. Wer einmal in Jerusalem war, wird mir sicher zustimmen: Es ist eine Stadt, die eine ganz eigene Faszination auf ihre Besucher ausübt, ob sie nun religiös sind oder nicht.

Die meisten von Ihnen werden Jerusalem aber wohl nur aus den Medien kennen, die selten von diesem eigenartigen Reiz dieser Stadt berichten. Meistens ist Jerusalem mit Nachrichten über Unruhen, Terror und umstrittene politische Äußerungen verbunden – aktuell steht die Verlegung der am. Botschaft von Tel Aviv dorthin an, was israelische Hardliner triumphieren lässt, Palästinenser dagegen zu wütenden Protesten veranlasst, weil auch sie Jerusalem – auf arabisch Al Quds – als Hauptstadt ihres erhofften Staates beanspruchen. Zu derlei Nachrichten werden Sie wahrscheinlich alle Ihre eigene Meinung haben, wie zu dem ganzen Nahostkonflikt, der sich in den Ereignissen in Jerusalem oft spiegelt.

Aber nun stehe ich hier weder als Tourismusagentin, die Sie für eine Reise nach Jerusalem motivieren will, noch als Auslandskorrespondentin, die Ihnen tiefere Einsichten in die aktuelle Lage Israels vermitteln will und erst Recht nicht als eine, die Ihnen jetzt die einzig richtige Lösung des Nahostkonflikts präsentieren will.

Als Pfarrerin möchte ich die theologische Bedeutung Jerusalems in den Vordergrund stellen, auch wenn das nicht heißt, dass damit alle anderen Ebenen völlig ausgeklammert werden können. Anders gesagt: ich möchte fragen, was wir als ChristInnen mit dieser irdischen, real existierenden Stadt zu tun haben. Und dazu schaue ich in die Bibel, speziell in die Psalmen. Dort lese ich z.B., dass Jerusalem quasi die „Heimatadresse“ unseres Gottes ist: Psalm 132 behauptet, dass Gott sagt: Dies ist die Stätte meiner Ruhe. Hier will wohnen, weil es mir gefällt.

Sie denken jetzt vielleicht: Das ist doch eine komische, höchst altertümliche Vorstellung, die kein Mensch heute mehr nachvollziehen kann. Gott kann doch seine Anwesenheit nicht auf eine einzelne Stadt beschränken, er ist doch überall auf der Welt gegenwärtig! Oder wie es in einem modernen Kirchenlied – mit israelischer Melodie – heißt: Er ist überall und nirgends..., also nirgendwo festzunageln.

Aber halt: Bekennen wir Christen nicht, dass Gott sich in seinem Sohn doch hat festnageln lassen, und zwar am Kreuz auf Golgatha, in Jerusalem? Und ist er aus christlicher Sicht nicht auch in Jerusalem auferstanden? Soll das ein Zufall sein?

Das glaube ich nicht. In Jerusalem hat Gott von Anfang an seine Liebe zu unserer Welt geerdet, ich könnte auch sagen: an dieser Stadt konkretisiert Gott, was seine Liebe ausmacht. Er hat sich eine Stadt als Wohnort gesucht, die Schalom in ihrem Namen trägt: Frieden, Gerechtigkeit, Eintracht. Und so wie das bei vielen Namen der Fall ist: dieser Name ist zugleich Bestimmung. Jerusalem soll eine Stadt des Friedens sein, eine Stadt, in der Menschen wohnen, die unschuldige Hände haben, wie es in Psalm 24 heißt, Hände, an denen kein Blut klebt, und wo alle zufrieden und in Eintracht mit den anderen leben können. Jerusalem soll damit ein Beispiel dafür sein, was Gott für die ganze Welt wünscht.

Aber die Wahl Jerusalems zu seiner Stadt macht Gott nicht blind dafür, wie es in ihr in Wirklichkeit aussieht, immer ausgesehen hat, von Anfang an: Im Gegenteil, Liebe macht immer in besonderer Weise hellsichtig dafür, wie das Gegenüber in Wahrheit ist. Sie durchschaut auch die schönen Fassaden, und weiß, was sich dahinter abspielt. Das gilt auch für Gottes Liebe zu Jerusalem. Er weiß: Nie war Jerusalem eine Stadt, die grundlegend anders war als alle anderen Städte der Welt. Nie war Jerusalem frommer, gerechter, friedlicher als andere Städte. Und wenn wir sie die heilige Stadt nennen, dann nicht, weil sie besser wäre als andere Städte, sondern nur aus dem einen Grund, dass Gott sie sich – so unperfekt wie sie ist - als seinen Wohnort ausgesucht hat.

Ich habe gerade gesagt: auch als Stadt Gottes ist Jerusalem eine ganz normale Stadt. Und als solche ist sie natürlich nicht jeglicher Kritik enthoben. Auch das macht ein Blick in die Bibel deutlich. Man muss nur in die Prophetenbücher schauen. Sie kennen vielleicht einige der Passagen, die das Unrecht, das in dieser Stadt geschieht, auf`s schärfste anprangern. Die Armut wird da deutlich als Skandal bezeichnet, und den Mächtigen, auch den mächtigen religiösen Führern lassen die Propheten nichts durchgehen. Über die korrupten Reichen und ihre Luxusweibchen ziehen sie mit bitterem Spott her ohne Furcht vor den zu erwartenden Konsequenzen. In Gottes Auftrag messen sie Jerusalem an seiner Bestimmung und decken schonungslos auf, wie wenig die Stadt ihr entspricht. Dafür kündigen sie ihr bittere Konsequenzen an. Aber sie tun das nie mit Häme, nie in gehässigem Ton, nie ohne selbst an dem Schicksal der Stadt mit zu leiden.

Nun ist diese prophetische Kritik an Jerusalem lange her und die Stadt ist in vieler Hinsicht weit von uns entfernt. Trotzdem können wir uns beim Lesen dieser Stellen nicht einfach bequem zurücklehnen und sagen: Naja, das mag damals oder auch heute auf die da unten zutreffen, aber uns betrifft das alles ja nicht! Wir haben damit nichts zu tun.

Sie müssen doch zugeben, dass es bei uns nicht grundlegend anders aussieht, dass auch bei uns weithin das Geld regiert, Geiz und Raffgier überall verbreitet sind. Viele Menschen in unserem Land leiden unter Armut und es schlimmste Formen von Gewalt sind schon fast an der Tagesordnung. Die alte prophetische Kritik an den Missständen in Jerusalem trifft in vieler Hinsicht auch auf unsere Gesellschaft zu. Der Maßstab, der an Jerusalem angelegt wird, ist auch der Maßstab, an dem wir gemessen werden. Wir stehen da nicht drüber. Auch über uns wird Gott richten.

Umso mehr ist es auch für uns eine gute Nachricht, dass Gott seine Bindung an Jerusalem tatsächlich nicht widerrufen hat. Er hat weiter in dieser Stadt Geschichte gemacht. Und im 87 Psalm lesen wir, das er diese Stadt zur Mutter aller Völker gemacht hat, dass jeder Mensch in Jerusalem geboren ist und aller Welt das Heil gilt, das vom Zion anbricht, wie es im 55. Psalm heißt. Durch Jesus ist das für uns wahr geworden. Durch ihn Gottes mit dieser Stadt auch unsere Geschichte geworden. Eine Heilsgeschichte, die uns der Güte und der Vergebungsbereitschaft Gottes gewiss macht. Denn Gottes Treue zu seiner Stadt bestätigt, was Gnade bedeutet: unverdiente Zuwendung, Liebe, die nicht an die Würdigkeit des Gegenübers gebunden ist, sondern an Gottes freie und verlässliche Entscheidung: so wenig perfekt wie du bist: nichts soll dich und mich scheiden. Und ich selbst werde dich deiner Bestimmung zuführen, dir Frieden schenken.

Es ist seltsam, dass wir in der Regel Gottes Gnade für uns gern in Anspruch nehmen, sie anderen aber oft nur schwer gönnen. Und dass wir oft gar nicht merken, wie selbstgerecht wir in vielen Urteilen über andere sind. Das kommt mir manchmal auch in den Sinn, wenn ich die kritischen Kommentare über Israel lese oder höre – die oft so überheblich und selbstgerecht daherkommen, voller Besserwisserei und moralischer Entrüstung, so als hätten wir unser persönliches und staatliches Existenzrecht mehr verdient als das jüdische Volk und ihr Staat.

Angemessener finde ich für uns als Christen, die so weit weg und in so viel größerer Sicherheit leben als die Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten, dass wir im Geist des 122. Psalms Jerusalem Glück wünschen, und uns dafür einsetzen, dass endlich Frieden wird in seinen Mauern, um unserer jüdischen und palästinensischen Brüder und Schwestern willen, die dort leben und unter der Zerrissenheit dieser Stadt leiden. Um unseres Gottes willen sollen wir dieser Stadt Bestes suchen. Amen


Sylvia Bukowski