'Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?'

Predigt zu Hiob 23

Statue "Hiob" von Gerhard Marcks (1957), Nürnberg © Andreas Praefcke / Wikimedia

Liebe Gemeinde,

ich möchte Ihnen etwas erzählen. Mein fünfjähriger Enkel rief unserer Nachbarin ein un­schö­nes Schimpfwort zu. Peinliche Sache. Und wir missbilligten dies auch deutlich. Als er kurz da­­nach von einem Insekt gestochen wurde, hörte ich die Nachbarin mahnen, das sei die Stra­fe für seine Ungezogenheit.

Hm ... So hätten wir das denn doch nicht gesagt .

Aber eine solche Denkweise ist offensichtlich tief ins kollektive Bewusstsein ein­ge­gra­ben: dass die Strafe auf die böse Tat folgen wird. Unsere Märchen erzählen uns das, wenn am Ende die Bösen beseitigt sind und alles wieder gut wird. Und funktionieren so nicht auch un­se­re Krimis? Woher dieses offensichtliche Bedürfnis nach Verbrecherjagden? Nach er­folg­rei­chen Verbrecherjagden. Denn wenn die Guten am Ende nicht siegen und das Böse weiter an allen Ecken und Enden lauert – so ist das ja manchmal in künstlerisch wertvollen Filmen – dann lässt uns das verstört und unbefriedigt zurück. Nein, wir wünschen uns eine Welt, in der alles seine Ordnung hat. Eine Welt, in der es sich lohnt zu den Guten zu gehören.

Aber wie umgehen mit der Erfahrung, dass die Wirklichkeit anders aussieht? Dass man sich über­haupt nicht darauf verlassen kann, Glück und Erfolg zu haben, wenn man tugendhaft lebt. Dass die Ehrlichen so oft die Dummen sind.

Die Religionen hatten dafür in früheren Zeiten eine einfache Lösung geboten: Was im Dies­seits ungesühnt scheint, wird im Jenseits ausgeglichen werden. Da kann es dann passieren, dass man als Schwein oder Ameise wiedergeboren wird, wenn man ein Schuft war. Oder dass man – im Christentum und Islam – ewigen Höllenqualen ausgesetzt wird. So schwer ist offensichtlich eine Realität auszuhalten, in der Leid und Unglück die Un­schul­di­gen wie die Schuldigen trifft. So schwer, dass sich in den Heiligen Schriften der Religionen sa­distische Ausmalungen ewiger Strafen finden.

Nun lassen sich aufgeklärte Christen, Muslime und Hindus sicher nicht mehr auf diese Ra­che-Fantasien früherer Zeiten ein. Das heißt aber nicht, dass unsere Fragen eine Antwort ge­funden hätten. Viele Menschen bekennen sich als Atheisten, weil sie an keine gute Schöp­fung glauben können, in der so viele unverschuldet leiden. Da verlässt man sich nicht auf einen strafenden Gott, der die Menschen erzieht. Da zählt der Satz des Philosophen Feu­er­bach: Tue das Gute um des Menschen willen . Nicht aus Angst vor Strafe. Nicht in der Hoff­nung, dass du dafür belohnt wirst.

Tue das Gute um des Menschen willen . Der Satz ist ja völlig richtig. Was aber, wenn man ihn be­kräftigen will, ohne dabei Atheist zu sein. Was aber, wenn man über allen schlimmen Erfahrungen seinen Glauben an Gott retten will. Diesem Wunsch entspricht der Predigttext von heute. Er führt uns hinein in das Buch Hiob, in dem die angedeuteten Fragen eindringlich diskutiert werden. Verfasser aus verschiedenen Ge­­nerationen haben sich daran abgearbeitet. Und es ist kein Wunder, dass sie keine Ant­wort gefunden haben. Oder genauer: keine einfache und einheitliche. Wir werden vielmehr über viele Verse hinweg immer wieder in Sackgassen geführt, in denen sich die Vernunft ver­irrt.

Die Erzählsituation kennen Sie sicher alle: Hiob ist ein Gerechter. Das bedeutet in der Sicht­weise der biblischen Traditionen: er ist gottesfürchtig, er handelt nach den Geboten, er fühlt sich verantwortlich für das Wohl seiner Mitmenschen. Und – er wird dafür von Gott belohnt mit Glück in der Familie und Wohlstand. Wie er handelt, so ergeht es ihm. Das versprechen ja auch viele der Psalmen. Und unsere Lieder: Wohl denen, die da wandeln vor Gott in Heiligkeit …

Dann aber trifft Hiob plötzlich härtestes Unglück. Er verliert seinen ganzen Reichtum, und über seinen Kindern stürzt das Haus ein und tötet sie. Zuletzt wird er noch am eigenen Leibe durch Aussatz und Krankheit heimgesucht.

Wie kann der gerechte und barmherzige Gott das zulassen?

Was hat man Ihnen dazu früher im Religionsunterricht oder in der Predigt nahegelegt? An welche Deutung erinnern Sie sich? Welche Antwort überzeugt Sie?

Die gängige Antwort: Leid als Prüfung

Gott will Hiob prüfen, ob er auch im Unglück gläubig bleibt. Das ist die beliebteste Aus­le­gung. Sie entspricht ja auch der Rahmenerzählung im Hiob-Buch, in der Gott mit dem Satan wettet, dass sein Gerechter sich durch keinen Schicksalsschlag von ihm abbringen lässt. Und wirklich: Hiob bleibt standhaft. Selbst seine Frau hatte ihn aufgefordert, vom Glauben zu lassen, als sie sprach : Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb! Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen. (Hiob 2,9f.) Und siehe da: er wird zum zweiten Mal belohnt. Der HERR gab Hiob doppelt so viel, wie er gehabt hatte. (42,10): vier­zehn­tau­send Schafe und sechs­tausend Kamele und tausend Joch Rinder und tausend Eselinnen. Und Hiobs Frau ge­bar ihm einfach 10 neue Kinder.

So kann man Gott als den gerechten Konstrukteur einer geordneten Welt retten. Wirklich retten? Natürlich nicht. Die Story mit der Wette zwischen Gott und Satan hatte sicher schon zur Entstehungszeit etwas Komödienhaftes. Sie hat immerhin Goethe in seinem Faust in­spi­riert. Aber ein Gott, der es nötig hat, seine Gläubigen zu prüfen, durch unsägliches Leiden zu prüfen, hatte seine Glaubwürdigkeit nicht erst in der Zeit der Aufklärung eingebüßt. Be­reits das Hiob-Buch selbst hat vor mehr als 2000 Jahren dieses Gottesbild gründlich er­schüttert. Da­von zeugt unser Predigttext (Hiob 23). Er wurde von Schriftgelehrten formuliert, die der In­ten­tion der Wette-Erzählung nicht mehr folgen konnten. Sie lassen Hiob vor­wurfs­voll klagen über das Unrecht, das ihm durch Gott widerfahren ist.

Erste Klage: Gottes Ferne

Ich lese aus Kapitel 23

2  Auch heute ist meine Klage Widerspruch, die Last seiner Hand lässt mich stöhnen.

3  Wüsste ich doch, wie ich ihn finden, zu seiner Stätte gelangen könnte!

4  Ich wollte den Rechtsfall vor ihm darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen.

5  Ich möchte wissen, was er mir erwidert, und erfahren, was er mir zu sagen hat.

[…]

8  Seht, geh ich nach Osten, so ist er nicht da, und nach Westen, so erkenne ich ihn nicht.

9  Wirkt er im Norden, so erblicke ich ihn nicht, verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht.

Ein selbstbewusster Mensch spricht da. Frömmlerische Demut ist ihm fremd. Er fordert eine ge­rechte Welt, in der der Unschuldige nicht mit Unglück überhäuft wird. Und es scheint durch­aus so, als ob in diesem Streit Gott der Angeklagte ist. Ihm will Hiob den Rechtsfall darlegen, ihm gegenüber wartet er mit Beweisen auf. Und an Gott ist es, Rede und Antwort zu stehen. Nur – der so Angeklagte entzieht sich dem Ankläger. Hiobs Klagen und Anklagen gehen ins Leere.

Das ist die erste Sackgasse für die Vernunft: Hiob ist kein Atheist. Wie sonst könnte er Gott anklagen? In seiner Anklage beruft er sich ja gerade auf die Eigenschaften Gottes, von denen er überzeugt ist: Güte und Gerechtigkeit. Gott muss sich doch überzeugen lassen, dass sein Verhalten gegenüber Hiob gegen sein eigenes Wertesystem verstößt. Was aber, wenn der Angeklagte unauffindbar bleibt? Ist der Atheismus da nicht die logische Konsequenz?

Ja, da befinden wir uns in der Situation Hiobs. Von allen Seiten bedrängen uns die Ar­gu­men­te, die einen Glauben an Gott angesichts des massenweisen Leidens Unschuldiger für ab­we­gig halten. Von allen Seiten bedrängen uns diese Argumente. Sie kommen von anderen und von uns selbst.

Zweite Klage: Die Lügen der Tröster

„ Die Lügen der Tröster“ ist der Buchtitel eines von mir sehr geschätzten Theologen, der der kirch­li­chen Praxis vorwirft, für unlösbare Fragen Antworten zu erfinden, um die Gläu­bi­gen ir­gend­wie ruhigzustellen. Genau das tun im Hiob-Buch dessen vermeintliche Freunde. Sie ver­­­su­chen, mit traditionellen biblischen Hinweisen Hiob davon zu überzeugen, dass sein Schicksal einen Grund habe, einen Grund haben muss. Gott ist gut und gerecht. Wenn er Hiob verlassen hat, müsse der selbst daran die Schuld tragen. Niemals dürfe der Mensch mit Gott rechten. Hiob aber beharrt auf seiner Unschuld.

Ich lese aus Kapitel 23

6 Würde [Gott] mit mir streiten in der Fülle seiner Macht? Wollte er doch nur auf mich achten!

7  Ein Aufrechter würde dort mit ihm streiten, und für immer hätte ich mein Recht gesichert.

10  Er aber kennt meinen Weg, wenn er mich prüfte, wäre ich wie Gold.

11  Mein Fuß ist auf seiner Spur geblieben, seinen Weg hielt ich ein und wich nicht ab.

12  Ich ließ nicht ab vom Gebot seiner Lippen, die Worte seines Mundes bewahrte ich in meiner Brust.

Ein Atheist ist Hiob nicht geworden. Er vertraut auf Gott. Er vertraut darauf, dass Gott ihn vor den Anklagen seiner Freunde schützt, dass er ihn freispricht. Sein Leid ist nicht selbst­ver­schul­det.

Das ist die zweite Sackgasse für die Vernunft. Wie kann ein angeklagter und nicht frei ge­spro­che­ner Gott seinerseits den leidenden Menschen von Verdächtigungen freisprechen? Ist der Atheismus da nicht die logische Konsequenz?

Ja, da befinden wir uns in der Situation Hiobs. Von allen Seiten bedrängen uns die Ar­gu­men­te, die uns selber die Schuld geben an dem, was uns widerfährt. Krank wegen ungesunder Le­bensführung, unglücklich wegen psychischer Defekte, erfolglos in der Familie wegen fal­scher Erziehung – und so weiter. Für alles muss es einen Grund geben, den wir selber zu ver­­antworten haben. Von allen Seiten bedrängen uns diese Argumente. Sie kommen von anderen und von uns selbst.

Dritte Klage: Gottes Schrecklichkeit

Ich lese weiter:

13  Er aber hat es beschlossen, und wer könnte ihn umstimmen? Und was er wollte, hat er getan.

14  Er wird vollenden, was mir bestimmt ist, und hält noch mehr davon bereit.

15  Darum erschrecke ich vor ihm. Denke ich daran, macht er mir Angst.

16  Gott hat mein Herz verzagt gemacht, und Schaddai hat mich erschreckt.

Ein Atheist ist Hiob immer noch nicht geworden. Aber was bleibt für den Glauben, wenn Gott we­der sich selbst noch den Menschen verteidigen will oder kann? El Schaddai. Ein uralter Got­­tesname taucht da auf. Es lässt sich nicht sicher sagen, was das im Hebräischen heißt. Der Schreckliche muss es auf jeden Fall in unserem Zusammenhang bedeuten: ein Gott, der ängs­tigt, der das Herz verzagt macht, der erschreckt . Wie schrecklich, dass er mit den Menschen machen kann, was er will! Und dass er das tun kann ohne Rücksicht auf die Mo­ralvorstellungen, die die Bibel doch auf ihn zurückführt. Ist Gott also willkürlich? Ein blin­des Schicksal?

Das ist die dritte Sackgasse für die Vernunft: Wie kann man an einer Gottesvorstellung fest­hal­ten, die in der Überlieferung völlig durcheinander geht. Können sich die Eigenschaften Gottes so widersprechen? Seine versprochene Nähe seiner Ferne – seine Gerechtigkeit seiner Willkür – seine Liebe seiner Schrecklichkeit.

Ist der Atheismus da nicht die logische Konsequenz?

Ja, da befinden wir uns in der Situation Hiobs. Von allen Seiten bedrängen uns die Ar­gu­men­te, die uns in Verwirrung bringen. Kann man in einem Glauben bleiben, der so wenig Halt bie­tet. Gibt es so etwas: einen aufgeklärten Glauben, der die Widersprüchlichkeiten der bib­li­schen Überlieferungen hinnimmt und auf einfache Antworten verzichtet? Auf vereinfachende Ant­wor­ten, wie sie die Traditionalisten aller Konfessionen verteidigen. Von allen Seiten be­drän­gen uns diese Argumente. Sie kommen von anderen und von uns selbst.

Vierte Klage: Ist Gott gut?

Mit der vierten Klage wird unser Gottesbild endgültig radikal in Frage gestellt.

Hiob spricht:

17  Denn nicht von der Finsternis werde ich vernichtet, und nicht, weil Dunkelheit mein Angesicht bedeckt.

Es gibt für die Suche nach der Ursache des Leids ja noch eine weitere in vielen Religionen ver­­brei­te­te Ant­wort. Es sind die finsteren Mächte, die Schlange, vor allem der Teufel, der Got­tes wun­der­­ba­re und wohl geordnete Schöpfung durcheinander bringt. Er hat sich er­folg­reich in die hei­ligen Schriften des Islam und des Christentums eingeschlichen. Das Hiob-Buch vermeidet eine solche Deutung. Selbst in der Erzählung von der Wette kann der Satan Hiob nur quälen, weil Gott ihm die Erlaubnis dazu gegeben hat, lediglich für die Dauer der Ver­suchs- und Ver­suchungsan­ord­nung. Und so bekennt Hiob eben auch, dass er nicht von Finsternis und Dunkelheit vernichtet wurde, sondern – von Gott. Aber gehört Gott denn nicht in die Sphäre von Klarheit und Licht? Nicht überall in der Bibel, auch wenn wir uns das so sehr wünschen würden! Gerne überlesen wir Gottes Selbstaussage in Jes 45: Ich bin der HERR, und sonst keiner mehr, 7 der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der HERR, der dies alles tut.

Wenn wir wie Hiob ernst machen mit dem einen und einzigen Gott, dann müssen wir es auch hinnehmen, dass er Licht und Finsternis schafft. Dass er sich nicht einfügen lässt in unsere Er­­fahrungen von Gut und Böse, von Glück und Unglück, von Zeit und Raum. Dass die Fest­stel­­lung von Ursache und Wirkung eine Konstruktion unserer beschränkten Vernunft bleibt. Da hören dann auch alle Streitgespräche auf. Da lässt sich weder atheistisch noch theistisch ar­gumentieren. Da ist Gott der ganz Andere. Und da behelligen wir uns und unsere Mit­men­schen nicht mit .Denkmustern von Belohnungen und Bestrafungen für unser Handeln. Da ak­zep­tieren wir die vielen offenen Fragen und bleiben skeptisch gegenüber allen Versuchen, Widersprüche zu kitten.

Am Ende des Hiob-Buches wird Hiob gewährt, was er immer gefordert hatte: Gott von An­ge­sicht zu Angesicht zu sehen. Er erscheint ihm im Wettersturm . Wir würden heute sagen: in kos­mischer Dimension. Und Hiob ist überwältigt von der Erfahrung der Unbegreiflichkeit und Un­verfügbarkeit Gottes. Sie bringt ihn zum Schweigen:

Siehe, ich bin zu gering, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen. (40,4) Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. (42,6)

Diese endgültige – letzte – Sicht und Einsicht steht für uns noch aus. Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht (1. Kor 13,12), schreibt der Apostel Paulus. In rätselhafter Gestalt, ἐν αἰνίγματι. In der Lutherbibel heißt es: in einem dunklen Wort. Rätselhaft, dunkel, bildlich sind für uns die biblischen Überlieferungen mit ihren ganz unterschiedlichen Erzählungen von Gott. Rätselhaft, dunkel, bildlich bleibt uns das Wirken Gottes in unserem Leben.

Wir müssen auf beweisbares Wissen verzichten und zufrieden sein mit innerer Gewiss­heit – mag sie auch schwach und angreifbar sein.

Wie Hiob müssen wir erwachsen werden im Glauben. Wie Paulus müssen wir im Wartestand der Hoffnung leben.

Amen

 

Wir können’s nicht ergründen, wir können nur vertrau’n ….

4. LIED 649


Gudrun Kuhn