Ein Anfangspunkt für Erneuerungen

Gedenken am 8. Mai 2020

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Mit dem 8. Mai 1945 sind für Menschen sehr unterschiedliche Erinnerungen verknüpft.

Befreiung aus der Gefangenschaft in Konzentrationslagern oder von der Zwangsarbeit, Ende der Kampfhandlungen auf den unendlich vielen Schlachtfeldern und der Bombennächte, Flucht, Hunger und Heimatlosigkeit, aber auch Gelegenheit zum offenen Reden nach langem Schweigen, vorsichtige Hoffnung auf Frieden und Erleichterung, das eigene Leben behalten zu haben.

Der 8. Mai markiert mit dem Kriegsende auch den Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Schwer wiegt gerade an diesem Tag die Erinnerung an Tod und Grauen, das unsere Urgroßeltern, Großeltern und Eltern über Europa und die ganze Welt brachten. Mehr als 60 Millionen Tote. Es gibt auch nach 75 Jahren viele Familien weltweit, die heute an Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges gedenken.

Die Erinnerung an diesem Tag ist nicht allein vom unvorstellbaren Leid geprägt, sondern zugleich auch von der Dankbarkeit, dass aus dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Neuanfang möglich wurde, zögerlich und zunächst geprägt von Hunger und Entbehrungen in den ersten Nachkriegsjahren. In vielen Familien werden Geschichten wach von Zigaretten, Kaugummi und Schokolade, die die früheren Feinde verschenkten, von Ärzten der Siegermächte, die die Verwundeten behandelten und Soldaten, die Kindern halfen, nach ihren Eltern zu suchen.

Zum 8. Mai gehören Auseinandersetzungen über die Bedeutung und den richtigen Umgang mit diesem Tag. Als Deutsche müssen wir unseren Umgang mit dem Nationalsozialismus und den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs immer wieder neu bestimmen. Voller Respekt sind wir dafür, wie andere Nationen des Endes des Zweiten Weltkriegs gedenken. Der 8. Mai ist immer die Erinnerung an die Schuld und das Leid, das Deutsche über Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus gebracht haben. Sie darf nicht verneint, verharmlost oder als längst vergangen begriffen werden.

Der 8. Mai zeigt in aller Schärfe, dass Gewalt und Krieg zur Durchsetzung von politischen oder religiösen Zielen immer der falsche und destruktive Weg sind. Der 8. Mai hat das ganze Ausmaß der Zerstörung durch den zweiten Weltkrieg und das nationalsozialistische Regime offenbart und damit eine Geschichte der Schuld schonungslos offengelegt. Wir haben uns dieser Geschichte der Schuld unseres Volkes bis heute zu stellen, selbst wenn die Mehrheit in diesem Land nicht persönlich schuldig geworden ist. Wenn wir eingestehen, dass nur 12 Jahre nationalsozialistischer Herrschaft zu so großer Schuld geführt haben, bedeutet dies immer die Schuld der Generation unserer Urgroßeltern, Großeltern und Eltern zu bekennen. Sie waren es, die in diese Geschichte der Schuld mit hinein verwoben, Teil von ihr waren, und wir sind über sie bleibend mit hineinverstrickt in diese Schuld. Die Schuld der Urgroßeltern, Großeltern, der Eltern verlangt eine daraus erwachsende Verantwortung aller nachkommenden Generationen.

Das Kriegsende markiert auf der anderen Seite den Anfangspunkt für zwei unsere Gesellschaft prägende Erneuerungen, an die wir heute in großer Dankbarkeit erinnern möchten. Wir haben erstens als Gesellschaft Land Demokratie „gelernt“ und diese so schätzen gelernt, dass wir sensibel wahrnehmen, wenn unsere Grundrechte eingeschränkt werden. Gleichzeitig haben die Menschen in Deutschland so viel Vertrauen in die Demokratie und die sie repräsentierenden Politiker*innen, dass sie bereit sind, zeitlich begrenzte Einschränkungen auch der Grundrechte mitzutragen, wenn sie dazu dienen, Leben zu schützen. Zweitens haben unsere europäischen Nachbarn mit dem Mut zur Versöhnung und in der Hoffnung auf gute (wirtschaftliche) Zusammenarbeit gemeinsam das große Friedensprojekt Europäische Union ins Leben gerufen.

Wer nach dem 8. Mai 1945 in Deutschland geboren wurde, kennt den Krieg im eigenen Land nicht. Vielleicht ahnen wir in diesen Tagen der Pandemie-Krise, als an Grenzen wieder Kontrollposten aufgebaut, in den Köpfen mancher Menschen Ressentiments gegen Nachbarn jenseits der Landesgrenzen wach werden und darüber Streit geführt wird, auf welche Weise den besonders stark von der Corona-Krise betroffenen Länder geholfen werden kann, wie wenig selbstverständlich ein friedliches Zusammenleben der Nationen ist und wie sehr unsere Gesellschaft global dafür Verantwortung  trägt, dass die Pandemie nicht dazu benutzt wird, dauerhaft demokratische Systeme auszuhöhlen, Nationalismen zu stärken und die Strukturen von Krieg, Vertreibung und Flucht zu zementieren, ohne Hoffnung auf ihre Überwindung. Der 8. Mai sollte Menschen weltweit und insbesondere unsere Gesellschaft motivieren, noch energischer für Frieden, die Einhaltung der Menschenrechte und die Überwindung von Krankheiten ebenso wie Armut einzutreten.

Dafür Verantwortung auch dann zu übernehmen, wenn es unbequem ist, ist auch eine genuin christliche Aufgabe: das Evangelium von der Versöhnung, vom Frieden und von der Gerechtigkeit zur Sprache zu bringen. Alle Menschen sind Geschöpfe und es darf niemand abgewertet und verächtlich gemacht werden aufgrund seines Geschlechtes, seiner Rasse oder seiner Religion. Die Kirche ist gegenüber den Juden schuldig geworden, hat mehrheitlich geschwiegen, als Synagogen angezündet und Menschen deportiert wurden. Das darf nicht mehr passieren. Kirche ist gefordert, immer wieder zum Anwalt derer zu werden, die keine Stimme haben, deren Stimme überhört und deren berechtigte Anliegen übergangen werden. Wir haben bis heute immer wieder aus unserer Geschichte der Schuld zu lernen und alles zu tun, was „zum Frieden dient“ (Römer 14, 19).

Der 8. Mai als Tag der Befreiung und der Verantwortung ist auch ein Tag der Hoffnung: aus größter Not und Schuld ist ein Neuanfang möglich. Der 8. Mai kann ein Hoffnungszeichen für den Umgang mit und die Überwindung der Pandemie sein. Menschen haben die Kraft und den Mut, die Paradigmen sowohl ihres Denkens als auch ihres Handelns zu verändern und zu gestalten, was in Zukunft besser laufen soll, damit Frieden und Gerechtigkeit unter Bewahrung der Schöpfung das Ziel menschlichen Handelns sind.

Der Friede Gottes bewahre und behüte alle Menschen und schenke Kraft, auch durch die gegenwärtige Krise hindurch ein gerechtes, friedvolles Zusammenleben zu gestalten.


Kerstin Gäfgen-Track und Andrea Radtke