Bilder in meinem Kopf

Andacht zum Tag des Mauerfalls

© Kathrin Oxen

Von Kathrin Oxen

Liebe LeserInnen,

Die Bilder des Tages? Die Bilder aus der Nacht des Mauerfalls? Sie alle haben eigene Bilder im Kopf und im Herzen. Sie waren in der Nacht des Mauerfalls vor 31 Jahren noch unterwegs, saßen vor dem Fernseher, waren schon ins Bett gegangen, in der Sauna, bei der Nachtschicht, im Ausland, im Urlaub. Sie waren Westdeutsche oder Ostdeutsche, Norddeutsche oder Süddeutsche, sie waren noch so jung, schon ziemlich erwachsen, noch Kinder, noch gar nicht auf der Welt. Sie hatten Westpakete geschickt oder bekommen, Verwandte drüben oder drüben, sie kannten die Zone eigentlich gar nicht und waren natürlich noch nie in West-Berlin.

Der Ku’damm und das KaDeWe, die blau leuchtende Kirche in dieser Novembernacht, da wo die Straße einen Knick macht, Ku’damm, Ecke Tauentzien. Später, als wirklich schon viele ins Bett gegangen waren, Trabis auf dem Ku’damm, wildfremde Menschen, die sich in den Armen liegen, so ein Tag so wunderschön wie heute. So ein Tag so wunderschön vor 31 Jahren. So ein Tag. So ein Wunder.

Das stärkste Bild in Kopf und Herz, das größte Wunder dieses Tages und dieser Nacht? Für mich sind es zwei. Einmal Günter Schabowski mit seinem berühmten Zettel, von dem er als letzten Punkt die neue Reiseregelung verlesen soll. Und es auch nicht so genau weiß und die Rückfrage eines Journalisten nicht beantworten kann und zwischen seinen Papieren kramt. Und die wohl unspektakulärsten Worte spricht, mit denen jemals eine Herrschaft beendet wurde: „Nach meiner Kenntnis…ist das sofort, unverzüglich.“ Nach seiner Kenntnis, die ein Irrtum war. Und Schabowski sprach diese Worte so, als käme es nun auch nicht mehr darauf an, verwirrt, resigniert, müde von den Ereignissen, die die Regierung der DDR zur Kenntnis nehmen musste in den Wochen und Monaten zuvor.

Das zweite Bild: Die Grenzer am Übergang Bornholmer Straße, die gegen 23.30 Uhr den Schlagbaum öffnen und zur Seite treten. Auch sie verwirrt, resigniert, müde von ihrer Aufgabe, eine Grenze zu bewachen. „Wir fluten jetzt“, sagen sie und dann treten sie einfach zur Seite. Sie lassen die Menschen einfach durchgehen. Der Eid, die Waffe, die Pflicht, der Staat, all das spielt in dieser Nacht auf einmal keine Rolle mehr.

Selig seid ihr Sanftmütigen, ihr Barmherzigen, ihr Friedlichen, sagt Jesus. Selig sind, die reinen Herzens sind. Selig sind alle, die lächerlich sind in den Augen der Welt, das Mitglied des Politbüros, das aus Versehen die deutsche Teilung beendet, die Grenzsoldaten an der Bornholmer Straße in Berlin, die es einfach gut sein lassen.

Einen Moment lang waren auch sie reinen Herzens, unabhängig davon, was sie durch Befehl und Gehorsam, durch Anpassung und Opportunismus an Schuld auf sich geladen haben. Eine Nacht der Sanftmütigen, der Friedfertigen, der Barmherzigen. Eine Nacht der reinen Herzen.

Ich trage die Bilder dieser Nacht in meinem Herzen und in meinem Kopf. Für immer. So ein Wunder. Selig sind alle, die weiter daran glauben und die sich das von Herzen wünschen, was wir in unserem Land erlebt haben. Verwirrte Politiker, die zugeben, dass sie es auch nicht genau wissen und sich nicht klammern an ihre Macht. Resignierte Soldaten, die zur Seite treten, statt zu kämpfen, bei uns und überall auf dieser Welt. Damit Sanftmut, Barmherzigkeit, Frieden uns überfluten.

Amen


Kathrin Oxen