Stärkt die schlaffen Hände und macht die weichen Knie stark!

Adventspredigt zu Jesaja 35,1-10

© Pixabay

Von Gudrun Kuhn

Liebe Gemeinde,

ich gebe es zu: ich mag politisches Kabarett, auch wenn uns derzeit eher zum Weinen zumute ist. Aber lachen muss ich doch immer wieder, wenn da Reden unserer Politikerinnen und Politiker in Ausschnitten auf ein einzelnes Wort zugeschnitten werden. Weihnachten war dieses Wort in den letzten Wochen. Aus dem Munde von Söder und von Laschet, von Lauterbach und von Spahn und vielen anderen. Weihnachten, der magische Termin für die Corona-Beschlüsse. Und die Kabarettisten witzelten dagegen. Nichts Besseres könne es doch geben, als dass der Besuchsstress an den Festtagen unterbunden wäre. Keine ungeliebte Verwandtschaft. Keine Eifersucht unter den Großeltern. Endlich mal entspannte Feiertage. Weihnachten, der magische Termin. Unwidersprochen beinahe, auch von Kirchenfernen. Weihnachten – das wichtigste Fest unserer Kultur. Unwidersprochen. Was aber, wenn man nach einer Begründung fragen würde. Was könnte ich da antworten? In ein paar klaren Sätzen. Weihnachten – was gibt es da zu feiern. So, dass dafür sogar der strenge Infektionsschutz unterbrochen wird.

Nein, in zwei oder drei klaren Sätzen könnte ich darauf nicht antworten. Jahr für Jahr stelle ich mir selbst die Frage, ob denn da bei mir mehr ist als die Freude an Brauchtum und Kultur. Deko und Kulinarisches – wie bei den meisten Menschen halt. Und natürlich habe ich Angst vor der Antwort. Angst vor einer Leere, die ich zugeben müsste. Warum will ich die alten Texte immer wieder hören? Texte, die viele oder gar die meisten Leute in meinem Umfeld für unverständlich und verzichtbar halten. Nein, in ein paar klaren Sätzen kann ich auch nicht zu Ihnen sprechen, die Sie die Vertrautheit mit der Bibel und die Anhänglichkeit an die Tradition mit mir teilen. Ich habe etwas anderes versucht. Einen uralten Text habe ich in die Gegenwart gebracht. Ein Versuch. Ob er glaubwürdig ist? Glaubenswürdig?

Die Rückkehr der Geretteten (Jesaja 35)

1 Die verödeten Plätze und die leeren Gast-stätten werden voll fröhlicher Menschen sein, 2 die geschlossenen Konzertsäle werden wi-derhallen von Musik und die verödeten Sportstadien von Fan-Gesängen und Jubel und Klatschen. Die Herrlichkeit der Museen und Kirchen und Theater wird uns aufs neue faszinieren und in den Bergen und an den Seen werden Reisende die Natur genießen. Wir alle werden wieder staunen können und begeistert sein und voller Dankbarkeit. Dann wird es uns leicht ums Herz sein, wenn wir beten.
3 Stärkt die schlaffen Hände und macht die weichen Knie stark! 4 Sagt denen, die bestürzt sind: Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott! Gott wird mit uns sein – wenn wir die Staatsschulden abarbeiten, wenn wir Geschädigten einen Neuanfang ermöglichen, wenn wir Lasten gerecht aufteilen, wenn wir Vernachlässigten unsere Zuwendung schen ken.
5 Dann werden wieder Vernunft und Besonnenheit einkehren. Dann werden wir wieder aufeinander hören können. 6 Dann werden die zum Nichtstun Gezwungenen wieder Pläne verwirklichen. Dann werden wir wieder zuversichtlich denken und reden. Denn – wo Gespräche versickert waren, wird wieder diskutiert und gelacht werden,
7 wo Hitzköpfe einander beschimpft hatten, wird man sich wieder mit kühlem Kopf verständigen und Kompromisse schließen, wo die Hoffnung ausgetrocknet war, werden viele kreative Ideen aufkeimen. Und wo wir durch Krankheit und Tod verstört und verzweifelt waren, 8 werden wir Wege aus der Trauer finden. Ja, es wird für alle einen Weg in die Zukunft geben. Einen Weg für uns Menschen, die wir als Gottes Ebenbild geschaffen sind. Einen Weg für eine Welt, wie sie sein soll.Keine Menschenfeinde werden ihn betreten. Er wird allen gehören, selbst die Uneinsichti-gen werden nicht mehr in die Irre gehen.
9 Keine Gewalt wird uns dort bedrohen und kein Terror uns in Panik versetzen. Wir werden dort gerettet sein. 10 Denn die von Gott aus der Geiselhaft Befreiten werden zurückkehren. Wir werden die gefährliche Krankheit in den Griff bekommen. Wir werden wieder eine freie Gesellschaft werden. Wir werden aus unseren Fehlern und Versäumnissen lernen. In den Kirchen, Synagogen und Moscheen wird man dankbare Stimmen hören. Und auf allen Plätzen werden die Menschen feiern. Frohlocken und Freude holen sie ein, und Kummer und Seufzen fliehen.

Zürcher Übersetzung:

1Wüste und trockenes Land werden sich freuen, und die Steppe wird jauchzen und blühen wie die Lilie. 2 Üppig wird sie blühen und jauchzen, jauchzen und jubeln! Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr gegeben, die Pracht des Karmel und der Ebene von Scharon.
Diese werden die Herrlichkeit des Herrn sehen, die Pracht unseres Gottes.
3 Stärkt die schlaffen Hände und macht die weichen Knie stark! 4 Sagt denen, die bestürzt sind: Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott! Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes, er selbst kommt, um euch zu retten.
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet. 6 Dann wird der Lahme springen wie der Hirsch, und die Zunge des Stummen wird jubeln, denn in der Wüste brechen Wasser hervor und Flüsse in der Steppe.
7 Und die glühende Hitze wird zum Schilfteich, und aus dem Trockenland wird ein Land voller Quellen. An der Stätte, wo Schakale lagerten, wird das Gras zu Schilfrohr und Papyrus. 8 Und dort wird eine Straße sein und ein Weg: Weg-der-Heiligkeit wird er genannt werden. Kein Unreiner wird ihn betreten, ihnen wird er gehören, die auf dem Weg gehen, und Toren werden nicht in die Irre gehen.
9 Dort wird kein Löwe sein, und kein reißendes Tier zieht auf ihm hinauf, kein Einziges wird dort gefunden. Erlöste werden darauf gehen, 10 und die Ausgelösten des Herrn werden zurückkehren und nach Zion kommen unter Jubel, und über ihrem Haupt wird ewige Freude sein.
Frohlocken und Freude holen sie ein, und Kummer und Seufzen fliehen.

Mit diesen Worten habe ich mich selbst mit dem, was mich gerade bewegt, mitten in den alten Text hineinversetzt. Aber ob mein Anliegen dadurch leichter wird? Meine Suche nach den paar Sätzen, mit denen ich erklären könnte, warum es sinnvoll ist, immer wieder solche Texte zu lesen und ihre Botschaft zu feiern.

Ich höre Einwände:

Ja, das hoffen wir doch alle, dass das Leben wiederkehrt. Darüber sind wir uns doch alle einig, dass für den Neubeginn viel investiert werden muss, an Finanzen und an politischen Ideen. Die meisten sind doch sensibel geworden für Versäumnisse. Ja, auch die meisten Querdenker werden ihren Kopf wieder geraderücken. Ja, das hoffen wir alle, dass das Leben wiederkehrt. Und es zeichnet sich mit dem Impfstoff ja auch schon ein Ende der Pandemie ab. Aber dazu brauchen wir keinen Gott. Und kein Fest der Geburt eines Gottessohns.
Das sagen die einen.

Ja, ich möchte dankbar sein dafür, dass ein Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird. Ja, ich möchte einstimmen, wenn in manchen Gottesdiensten Gott gepriesen wird für die schnelle Entwicklung des Impfstoffs. So wie die Heimkehrer aus dem Exil Ihn priesen. Aber dann wieder bleibt mir das Lob im Hals stecken. Eine schöne Idee, dass es Gott ist, der rettet und befreit. Aber wäre es nicht besser gewesen, er hätte das ganze Elend gar nicht erst zugelassen. Wie werden wir den Toten gerecht, wenn wir unser Überleben als Gottes Geschenk betrachten.
Das sagen andere.

Und die Entgegnung lässt nicht lange auf sich warten. Wie könnt ihr so gottlos daherreden? Wegen eurer Sünde ist das Unheil über euch gekommen. Über euch wie damals über die Israeliten im Exil. Gottes Strafe war das und ist es heute: für euren falschen Lebenswandel. Solches höre ich nicht nur von Fundamentalisten, sondern auch von Atheisten. Da ist es dann nicht Gott, der straft, sondern die Natur, die zurückschlägt. Oder das gesellschaftliche Unrecht, das wir nicht verhindert haben und das jetzt uns selber trifft.
Das sagen nicht wenige.

Andere stimmen ein: Glaubt doch ja nicht, dass sich irgendetwas ändern wird. Die Dummen werden weiter ihre absurden Erzählungen durchs Netz schicken, Gewalt und Terror werden niemals aufhören. Wann hätte jemals ein Löwe neben dem Lamm geweidet? Bleibt mir weg mit euren süßlichen Bildern. Und hört auf, alle Jahre wieder vom Frieden auf Erden zu singen!

Da sitz ich also mitten drin in diesem alten Text und habe geglaubt, ich könnte die Kleider meiner Vorfahren im Glauben anziehen. Ihre poetischen Bilder auf unsere Situation beziehen. Einen bekannten Text habe ich in die Gegenwart gebracht. Ein Versuch. Ob er glaubwürdig ist? Glaubenswürdig? Die Einwände machen mich unsicher. Sie kommen ja auch aus mir selber. Und beinahe hätte ich aufgegeben. Was Leichteres für diesen Sonntag gesucht. Aber hatte ich nicht – unbewusst – einen Anker gesetzt? Zwei Verse hatte ich bei meiner Übertragung unverändert gelassen und fett markiert. Vielleicht weil sie so oft zitiert werden. Jetzt riefen sie mich aus dem Text an:

3 Stärkt die schlaffen Hände und macht die weichen Knie stark! 4 Sagt denen, die bestürzt sind: Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott!

Mitten in diesem Hoffnungsgedicht voll phantastischer Zukunftsbilder – dieser Satz. Ein Appell. Eine Ermunterung. Es geht also nicht nur um Visionen. Die schlaffen Hände tatenlos in den Schoß legen und angstvoll über die weichen Knie jammern – das kann es nicht sein. Ihr sollt stark sein, stark werden. Und ihr sollt andere dazu ermuntern. Mit eurem Vorbild und mit eurer Engelsstimme. Ja, mit unserer Engelsstimme. 4 Sagt denen, die bestürzt sind: ... Fürchtet euch nicht! Das erzählen doch die Evangelisten von den Engeln. Fürchte dich nicht, Maria. Fürchtet euch nicht, ihr Hirten. Und siehe da – nun bin ich bei der Weihnachtsgeschichte angekommen. Vielleicht bringe ich jetzt sogar die paar notwendigen Sätze zustande, um zu begründen, warum das Weihnachtsfest so wichtig ist. Naja, Sie kennen mich ja – es werden wohl doch mehrere Sätze ...

Also, man muss nicht religiös sein, um Hoffnungsbilder zu entwerfen, um Visionen einer ge-rechteren Welt zu entwickeln, um human zu handeln. Man muss nicht christlich sein, um Weihnachten zu feiern. Aber wer die Suche nach Gott nicht aufgeben will, braucht einen Weg heraus aus den quälenden Fragen nach dem göttlichen Wirken in der Welt. Ich glaube nicht daran, dass Er sich Krankheiten und Katastrophen als Strafen ausdenkt, um Menschen zum Umdenken zu bewegen. Ich glaube aber auch nicht daran, dass Er den Impfstoffforschern Lösungen eingibt. Ein allmächtiger Schöpfer kann nur jenseits unserer Vorstellungen von Ursache und Wirkung sein. Und er tut keine Wunder. Das haben schließlich auch die Nachfahren der Propheten schmerzlich erfahren müssen. Das Exil endete, aber nicht die Kriege und Verfolgungen. Immer trifft es Unschuldige wie Schuldige gleichermaßen. Und die Fortschritte in der Wissenschaft kommen nicht einfach vom Himmel. Beides ist Menschenwerk: mitleidlose Gewalt und verantwortungsvolle Forschung. Gott bleibt mir dahinter verborgen.

Und gerade darum sind mir die Weihnachtstexte unverzichtbar. Aus ihnen bekomme ich Ant-worten von den Menschen, die Jesus von Nazaret nachgefolgt waren. Sie glaubten, dass der unsichtbare und unnahbare Gott sich in diesem Menschen eine Gestalt gegeben hat. Seht, euer Gott! Von einer Frau geboren, wie wir alle. Und in seine jüdische Umwelt hineingeboren, die ihn prägte. (Gal 4,4). Wer ihn sieht und sein Leben und Sterben, der sieht Gott. (Joh 12,45) Und wer sich ihm im Heiligen Geist anvertraut, ist hineingenommen in diese Gemeinschaft (Joh 15).

Fürchtet euch nicht! Die Botschaft reicht vom Prophetenwort hinüber in die Lebenspraxis Jesu. Verdichtet wird sie in den Weihnachtslegenden mit ihrem Engelszauber. Und auch in ihnen ist beides verknüpft. Die großartigen Visionen von der Rettung aller, vom Frieden auf Erden sind das eine. Die Appelle das andere: Macht euch auf den Weg, Hirten und Weise und alles Volk. Keine schlaffen Hände und keine müden Knie! Seid stark! Zur Nachfolge hat Jesus aufgerufen. Ganz konkret.

Ja, ich kann und will auf die Advents- und Weihnachtstexte nicht verzichten. In ihnen haben die Evangelisten die Heiligen Schriften ihrer Vorfahren in ihre Zeit und in ihre eigenen Hoff-nungen und Erwartungen hinübergenommen. Sie lasen sie so, als ob sie über Jesus geschrie-ben seien. Und mit ihrem Glauben angereichert kamen die prophetischen Verheißungen auch zu uns. Erfüllt von der Botschaft Jesu. Darum lesen wir sie in dieser doppelten Perspektive. Und dürfen selbst unseren Platz in ihnen finden. Verfasst für eine je konkrete Zeit wird die Heilige Schrift offen für alle Zeiten.

So offen, dass auch unsere Einwände und Bedenken darin vorkommen können. Wenn Sie die Originalversion des Predigttextes lesen, werden Sie mir vielleicht vorwerfen, dass ich mich um eine sehr anstößige Stelle herumgemogelt habe. Heißt es doch: Seht, euer Gott! Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes. Ein Einfallstor für verhängnisvolle Auslegungen ist das: Rechtfertigung des Heiligen Krieges oder der Hölle für die Verdammten. So funktioniert fundamentalistische Schriftauslegung. Sie verzichtet auf die Über-Setzung von Begriffen. Aber mit ‚Rache‘ und ‚Vergeltung‘ waren keine primitiven Gefühle gemeint, wie wir es heute verstehen und ablehnen. ‚Rache‘ und ‚Vergeltung‘ waren Pfeiler des antiken Rechts: die Wiederherstellung eines durch Unrecht zerstörten Zustands. Vergeltung bot die Chance, etwas wieder gut zu machen. Um die Sicherung von Gerechtigkeit ging es den biblischen Propheten, um eine staatliche Gemeinschaft, in der die Schwachen geschützt waren: Witwen und Waisen, Fremde und Notleidende. Als Garant dieser Gerechtigkeit, die wieder herzustellen oder sogar erst neu zu schaffen war, stand Gott, vor dem sich alle zu verantworten hatten. Als Garant und als Beistand. Er selbst kommt um euch zu retten. Und weil das so ist, antwortet Jesus im Matthäusevangelium auf die Fragen des Johannes mit dem Prophetenwort: „5 Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; 6 und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.

Ja, ich will Advent und Weihnachten feiern. Mit Deko und Kulinarischem wie alle anderen. Mit Brauchtum und alter Musik wie viele andere. Mit der Bibel wie vielleicht nur wenige. Ich will ein Fest feiern, das mich hineinstellt in eine andere Zeit: Jesus ist gekommen. Jesus wird kommen. Jesus ist da. In seiner Heils-Geschichte finden auch wir unseren Platz. Es ist keine Geschichte voller wunderbarer Errettungen aus Zweifeln und Leid und Trauer. Kein leicht hingesagter Trost in Pandemie-Zeiten. Es ist eine Geschichte des Vertrauens auf einen Gott, der uns nicht in eine vollkommene und gerechte Welt hineinstellt, der uns vielmehr zum Widerstand gegen die unvollkommene und ungerechte Welt befähigt. Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. (1. Joh. 3,2) Die Wüste wird blühen singen wir, gerade weil sie nicht blüht. Es ist ein Ros entsprungen singen wir, obwohl der Friede auf Erden fern ist. Komm o mein Heiland Jesu Christ singen wir, weil er schon gekommen ist.

Das Vertrauen auf Gott, das Jesus gelebt hat und das er mit seinem Tod besiegelt hat, wünsche ich mir, wenn ich Advent und Weihnachten feiere. Ich habe es nötiger denn je, um die schlaffen Hände zu stärken und die weichen Knie stark zu machen. Und um mir und anderen immer wieder zu sagen: Fürchte dich nicht!

AMEN


Gudrun Kuhn