Wer leidet eigentlich?

Hiob 27, 2-6 - von Georg Rieger

Mauer und Deckenpaartie der St. Martha Kirche in Nürnberg, Foto: Georg Rieger

Die Freunde Hiobs wollen ihm sein Unglück erklären. Doch er stemmt sich vehement dagegen und hält sich für gerecht.

Liebe Gemeinde, der Predigttext ist ein Ausschnitt aus dem Buch Hiob und es geht um das Thema dieses Sonntags Judika: um Gerechtigkeit. Zum Hintergrund dessen, was ich gleich vorlese, kurz die Geschichte: Hiob gerät als frommer und wohlhabender Mann zwischen die Fronten: Gott und Teufel wetten quasi, ob Hiob ein Frommer bleibt, wenn es ihm nicht mehr so gut geht.

Und so bekommt Hiob in kurzer Abfolge die nach ihm benannten Botschaften: Seine verschiedenen Herden samt den Knechten wurden entführt, verbrannt und niedergemetzelt. Seine zehn Kinder werden unter den Trümmern eines Hauses tot aufgefunden. Und zu guter Letzt wird Hiob noch krank. Sein ganzer Körper ist überzogen von Geschwüren. In dieser Situation spricht Hiob die folgenden Worte:

So wahr Gott lebt, der mir mein Recht entzogen, und der Allmächtige, der mein Leben verbittert hat: Solange noch Lebensgeist in mir ist und Gottes Atem in meiner Nase, sollen meine Lippen kein Unrecht reden, und meine Zunge soll nichts Falsches sprechen. 5 Fern sei es mir, euch Recht zu geben, bis in den Tod gebe ich meine Unschuld nicht preis. 6 An meiner Gerechtigkeit halte ich fest, und ich lasse sie nicht, keinen meiner Tage hält mein Gewissen mir vor.

So redet Hiob zu seinen Freunden Bildad, Zofar und Elifas. Sie sind zu ihm gekommen, um ihn zu trösten. Aber sie versuchen auch, ihm sein Unglück zu erklären. Es müsse so sein, dass er Schlimmes getan habe. Anders sei es nicht zu erklären, dass er so gestraft würde. Der Streit darüber eskaliert, weil Hiob keinen Zentimeter davon abweicht, dass ihm zu Unrecht dieses Unglück widerfährt. Und seine Freunde bezichtigen ihn der Überheblichkeit.

Eigentlich nicht verwunderlich. „An meiner Gerechtigkeit halte ich fest, und ich lasse sie nicht, keinen meiner Tage hält mein Gewissen mir vor.“ Wer so einen Satz von sich sagen kann, braucht schon eine gehörige Portion Selbstbewusstsein. Durch Hiobs Reaktion sind seine Freunde natürlich aufgestachelt. Sie spekulieren zunehmend darüber, wie sich Hiob falsch verhalten haben könnte. 

Dabei wollten sie ihm ja eigentlich helfen – wie Freunde das eben tun. Und so stellt Elifa am Anfang noch Fragen: „Kann ein Mensch im Recht sein vor Gott, ein Mann vor seinem Schöpfer rein?“ (4, 17) Und auch Hiob gibt sich noch bescheiden: „Gewiss, ich weiß, so ist es, und wie könnte ein Mensch im Recht sein vor Gott? 
Wenn er mit ihm streiten wollte, könnte er ihm nicht auf eins von tausend Antwort geben.“ (9, 2f)

Doch schon bald folgen Sätze, die seine Freunde nicht mehr nachvollziehen können: „Schuldlos bin ich, er aber hat mich schuldig gesprochen. Schuldlos bin ich! Ich sorge mich nicht, ich verachte mein Leben.“ Auch uns, liebe Gemeinde, bleibt bei solchen Worten der Atem weg. Das ist eine komische Mischung aus Ergebenheit und Arroganz, die uns gelinde gesagt irritiert.

Und so liegt es nahe, mit Elifa zu entgegnen: „Dein Mund spricht dich schuldig und nicht ich, und deine Lippen sagen gegen dich aus. (15, 6) Und ein bisschen später stellt Elifa die Frage, die es auf den Punkt bringt: „Was weißt du, was wir nicht wissen, was verstehst du, was wir nicht verstehen?“ (15, 9)

Ich muss an diese Stelle etwas machen, was im Zeitalter der Netflix-Serien höchst verpönt ist, nämlich spoilern – vorhersagen, wie es ausgeht. Am Ende des Buches über die Geschichte des Hiob greift Gott selbst ein, sagt den Freunden, dass sie falsch über ihn gesprochen hätten und Hiob im Recht sei. Und dieser bekommt alles doppelt zurück – außer Kinder, das sind wieder zehn, dafür werden die drei Töchter die schönsten des Landes.

Wie in einem Märchen. Das es ja irgendwie auch ist, denn die Geschichte ist ja ein Experiment. Hiob ist nichts Normales widerfahren, sondern er ist Teil eines Wettstreits. Und ganz ehrlich: Es bleiben viele Fragen offen. Auch wenn Hiob Recht bekommt, ist sein Verhalten und die Position, die er einnimmt, überzogen.

Doch manchmal ist Übertreibung ja nötig, um auf ein Problem aufmerksam zu machen. Und von daher lohnt es sich, noch einmal hinzuschauen. Hiob lässt nämlich insofern aufhorchen, als er in seiner schrecklichen Situation an seinem Glauben an Gott unbeirrt festhält. Er hält ihn weiter für den Schöpfer, nennt ihn den Allmächtigen und bezeichnet ihn als seinen Erlöser (19, 25). Gleichzeitig klagt er Gott aber an: „Auch heute ist meine Klage Widerspruch“ (23, 2a), sagt er. „Ich möchte wissen, was er mir erwidert, und erfahren, was er mir zu sagen hat“ (23, 5). Kampfeslustig tritt er Gott entgegen und sagt ihm – sozusagen ins Gesicht – dass er sich von ihm zu Unrecht so behandelt sieht.

Die spannende Frage ist nun, ob er tatsächlich Gott diese Ungerechtigkeit zutraut und sich selbst im Recht fühlt. So scheint es zu sein. Aber stimmt das? Oder gibt es da noch einen feinen Unterschied? Das wird klarer, wenn wir uns nochmal mit den Freunden befassen und mit der Position, die sie vertreten. Das ist schon alleine von der Dynamik interessant, die sich entwickelt. Am Anfang sind sie noch recht einfühlsam, bedauern ihren Freund und versuchen ihn zu trösten.

Doch bald drängen sie ihn zu der Einsicht, dass in seinem Leben etwas schiefgelaufen sein muss, wenn es ihm jetzt so schlecht gehe. Nachdem er selbst sich diesem Rückschluss verweigert, dichten sie ihm alle möglichen Vergehen an, die bei einem so reichen und erfolgreichen Mann ins Bild passen: dass er seine Brüder gepfändet habe, bedürftige Witwen mit leeren Händen fortgeschickt und vieles mehr. „Ist deine Bosheit nicht groß und sind deine Sünden nicht endlos? (22, 5).

Das ist keine Frage, die wir Freundinnen und Freunden so stellen. Aber unberechtigt ist sie anderseits auch nicht. Es kann ja gar nicht sein, dass Hiob frei von Schuld ist. Das geht überhaupt nicht. Schon, indem er Teil einer Gesellschaft ist, in der den Mächtigen das Land gehört (22, 8), kann er sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen. Denn er war einer von diesen mächtigen Landbesitzern.

Von daher ist uns die Argumentation der Freunde sympathisch, sie befriedigt unseren Sinn für Gerechtigkeit. Und so ein bisschen Häme kennen wir ja auch, wenn so ein Superreicher abstürzt. Aber das ist gar nicht die Motivation von Elifa, Zofar und Bildad. Sie möchten ihrem Freund wirklich helfen. Sie glauben, es ihm leichter zu machen, wenn er sich sein Leid erklären kann. Sie wünschen ihm, dass er zur Ruhe kommt, Fehler zugibt und einsieht, dass alles seinen Grund hat.

Liebe Gemeinde, dass Erklärungen tröstlich sein können, ist uns nicht fremd. Auch nicht, dass wir uns Gedanken machen, was der Grund sein könnte, wenn etwas Schlimmes passiert. Schließlich lernen wir so ja auch aus Fehlern. Und selbst wenn etwas nicht mehr gut zu machen ist, kann den Grund zu wissen, beruhigend sein, weil es uns anderweitige Befürchtungen nimmt und weitere Spekulationen überflüssig macht. Doch unser Drang danach, alles erklären zu wollen, verleitet uns auch dazu, Dinge anzunehmen, die wir nicht wissen, sondern über die allerhöchstens Spekulationen möglich sind. Bei Krankheiten gibt es zum Beispiel oft solche Zusammenhänge, die hergestellt werden, einfach um uns etwas zu bieten, an dem wir uns festhalten können.

Ähnlich ist es bei Schicksalsschlägen. Da sucht unser Hirn geradezu reflexhaft nach Erklärungen. Was haben wir falsch gemacht, dass es uns jetzt so hart trifft? Und natürlich findet sich da immer auch etwas. Wer von uns ist schon frei von Tadel? Und wer ist schon immer pfleglich mit seinem Körper umgegangen? Irgendwie muss das doch erklärbar sein, was uns zustößt und – gerecht. Wäre das nicht gut, wenn jede und jeder das bekommt, was ihr und ihm zusteht? Beziehungsweise ist es nicht so und wir müssen nur lange genug suchen, bis wir den Zusammenhang finden?

Der Zusammenhang zwischen dem, was wir tun, und dem, wie es uns ergeht, würde uns die Welt erklärbar machen. Wir würden ja umgekehrt sogar die guten Menschen daran erkennen, dass es ihnen gut geht. Das wäre doch prima!Das ist genau die Gedankenwelt der Freunde Hiobs. Und die ist – wie gesagt – so abwegig nicht. 

Aber Hiob lehnt sich genau gegen diese Vorstellung auf. Er will nicht akzeptieren, dass sein Schicksal gerecht sei. Und er will auch nicht, dass Gott so durchschaubar ist. Denn das ist ja die logische Konsequenz: Wenn wir uns die Welt erklären können und warum alles passiert, dann haben wir auch Gott durchschaut. Dann stellen wir uns zwar – wie das die Freunde tun – freundschaftlich an seine Seite. Aber wir tun auch so, als wüssten wir, was Gott für Pläne hat und fühlen uns als seine Anwälte.

Diesen Eindruck macht „die Kirche“ auf viele Menschen – auf Kirchenmitglieder wie auf Andere – dass in unseren Reihen ein tieferes Wissen darüber vorhanden sei, was Gottes Wille ist. Und was das Thema Gerechtigkeit angeht, wird den Kirche immer noch eine hohe Kompetenz zugesprochen.

Wenn wir Hiob ernst nehmen, dann geschieht uns Christen damit Unrecht. Wir wissen keinen Deut besser, was gut und was böse ist. Und haben auch keine besseren Erklärungen für das, was geschieht. Ganz im Gegenteil! Wir stemmen wir uns mit Hiob gegen die allzu einfachen Erklärungen. Wir halten das, was auf unserer Welt passiert, weder für gerecht noch kennen wir die oder den Schuldigen. Diese Einsicht hat in der momentanen Situation besondere Brisanz, in der Erklärungen und Schuldzuweisungen in aller Munde sind. Das ist nicht unser Ding, es besser zu wissen und Erklärungen für Unerklärliches zu liefern. Und auch nicht, Zusammenhänge herzustellen zu Gottes Plänen. Weil wir die nicht besser kennen als jeder andere Mensch.

Was uns möglicherweise unterscheidet – wenn es uns gelingt – ist das Vertrauen auf Gott, dass er es auch dann gut mit uns meint, wenn wir das gerade nicht spüren. Das führt uns Hiob in einer geradezu übermenschlichen Deutlichkeit vor Augen. Wie schon gesagt, nennt er Gott selbst in seinem schlimmsten Leid immer noch seinen Erlöser. Er klagt und schimpft über die ungerechte Behandlung. Aber er zweifelt nicht daran, dass Gott für ihn da ist.

Wie auch schon gesagt ist diese Geschichte ein Märchen – eine konstruierte Geschichte, um etwas zu zeigen. Sie markiert einen Umbruch im Denken der Gläubigen – nicht nur der Juden und Christen übrigens. In anderen Religionen und Kulturen gibt es ähnliche Geschichten, die sich mit der Gerechtigkeit Gottes auseinandersetzen. Und es ist eine Geschichte, die wir uns immer wieder anhören oder lesen müssen, weil uns auch das Thema eigentlich unser Leben lang begleitet: Wie gehen wir mit den unerklärlichen und ungerechten Geschehnissen um? Wie schauen wir auf unser Leben? Als ein Geschenk oder als eine Zumutung?

Wir brauchen eine gute Portion von dem Widerstandsgeist von Hiob. Wir dürfen uns ungerecht behandelt fühlen und natürlich auch an seiner Fürsorge zweifeln, wenn wir sie gar nicht mehr spüren. Schön wäre, wenn wir dabei auch dieses Gottvertrauen haben könnten, das Hiob am Leben hält und das ihn ins Leben zurückholt. In der Geschichte ist das sehr holzschnittartig, wie uns das nicht passieren wird. Wir müssen auch nicht so von uns überzeugt sein wie Hiob, um denen zu widerstehen, die uns einreden wollen, wir seien am eigenen Leid selber schuld. Aber es wäre gut, wenn wir im Vertrauen auf Gott mit Hiob der Versuchung widerstehen könnten. Gottes Gerechtigkeit verstehen, das geht gar nicht! „Und die Weisheit, woher kommt sie, und wo hat die Erkenntnis ihren Ort?“, fragt Hiob rhetorisch. „Den Augen aller Lebenden ist sie verborgen und vor den Vögeln des Himmels ist sie versteckt.

Wenn uns Gottes Plan aber so wenig bekannt sein soll, und wir keine Zusammenhänge herstellen sollen, bleibt er uns dann nicht für immer fremd? Hier kommt nun ins Spiel, warum wir uns ausgerechnet in der Passionszeit mit Hiob befassen. Denn seine Reden an die Freunde und auch seine Beschwerden an Gottes Adresse zeugen von einem großen Vertrauen auf Gottes Gnade.

Und diese Gnade ist in der Leidensgeschichte Jesu sozusagen Fleisch geworden. Einer, der noch viel weniger als Hiob Leiden und Tod verdient hatte, endete als Schwerverbrecher am Kreuz. Und indem Gott sich in diesem Jesus selbst sterben lässt, zeigt er so deutlich wie es nur geht, dass der Zusammenhang von Schuld und Strafe nicht stimmt, sondern es die Gnade Gottes ist, die unser Leben tragen soll. Der etwas mystische Satz, dass der Tod überwunden sei, meint ja nicht, dass kein Mensch mehr stirbt. Es bedeutet vielmehr, dass der Tod keine Strafe mehr ist. Entsprechend auch nicht irgendein Leid.

Hiob hat also eine tiefe Einsicht, die zwar in eine drastische Geschichte eingebaut ist, die uns Gott aber trotzdem als einen nahebringt, der uns mit Gnade begegnet. Nicht durch unsere Versuche, seine Pläne zu interpretieren, kommen wir Gott näher, sondern indem wir auf seine Liebe vertrauen und darauf, dass er es gut mit uns meint. Amen.

gehalten am 21. März 2021 in der Evangelisch-reformierten Kirche St. Martha in Nürnberg - Pfarrer i.E. Georg Rieger

Der gesamte Gottesdienst auf YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=op3lU9JfdU0 mit Orgelvariationen über die Melodie von "Herzlich tut mich verlangen" bzw. "O Haupt voll Blut und Wunden" von Buxtehude, Walther, Bach, Töpfer, Pachelbel und Brahms (Orgel: Andy Tirakitti).