In aller Herrgottsfrühe

Predigt über Joh 21,1-14 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 11. April 2021 (Quasimodogeniti)

© Pixabay

Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

das Johannes-Evangelium erzählt die Zeit nach der Kreuzigung Jesu so: Zwei Männer nehmen den Leichnam vom Kreuz ab. Sie haben vorher Pilatus gefragt, ob sie das dürfen. Er hat es erlaubt. Die zwei sind Josef von Arimathäa, der über eine unbenutzte Grabstätte in einem nahegelegenen Garten verfügt, und Nikodemus. Der hatte mal mit Jesus ein Nachtgespräch. Dazu können Sie am Sonntag nach Pfingsten etwas hören. Diese beiden jedenfalls, Josef von Arimathäa und Nikodemus, legen den Leichnam in Leintücher und salben ihn. Alles, bevor der Schabbat beginnt. Nach dem Ruhetag, am Sonntag, ganz in der Früh, als es noch dunkel ist, geht Maria Magdalena zum Grab und sieht, dass Eingang zum Grab offen ist. Sie benachrichtigt zwei Jünger, nämlich Simon Petrus und den Lieblingsjünger. Er lag beim letzten Abendmahl zu Tisch an Jesu Brust und Jesus hatte ihn lieb, heißt es bei Johannes. Simon Petrus und dieser Lieblingsjünger trauen sich und gehen hinein ins Grab, sehen die Leintücher und auch das Gesichtstuch. Die beiden Jünger gehen zurück zu den anderen Jüngern, Maria Magdalena bleibt und weint. Ein Engel begegnet ihr und dann der Auferstandene selbst, von dem sie zunächst glaubt, es sei der Gärtner. Danach erscheint Jesus zwei Mal allen Jüngern und lässt den ungläubigen Thomas seine Seitenwunde fühlen. Hier setzt der heutige Predigttext ein:

Danach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern am See Tiberias. Er offenbarte sich aber so:

Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sprechen zu ihm: Wir kommen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts.

Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten’s nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische.

Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte: „Es ist der Herr“, da gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich in die See. Die anderen Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa zweihundert Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen.

Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg herauf und zog das Netz an Land, voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht.

Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten: Es ist der Herr. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt‘s ihnen, desgleichen auch den Fisch.

Das ist nun das dritte Mal, dass sich Jesus den Jüngern offenbarte, nachdem er von den Toten auferstanden war. (Übersetzung: Luther 2017)

[Zurück auf Start]

Wie finden die Jünger zurück ins Leben? Maria Magdalenas Spur verliert sich, wir wissen nicht, was aus ihr wurde. Wie sie damit umging, so etwas Außerordentliches erlebt zu haben. Die Jünger gehen offenbar zurück in ihre Heimat und tun, was sie zuvor getan haben. Schließlich müssen sie auch von etwas leben. Sie arbeiten als Fischer am See Genezareth, Johannes nennt ihn See von Tiberias. Die Jünger werden genau bekannt: Simon Petrus, Thomas, Nathanaël, die Söhne des Zebedäus (Jakobus und Johannes) und noch zwei andere, einer davon der Lieblingsjünger. Sieben ehemalige Jünger, die fischen gehen und zurück ins Leben kommen müssen.

Was machst du, wenn du vor den Trümmern deines bisherigen Lebens stehst? Hast alles auf eine Karte gesetzt. Und dann bleibt nichts. Du bist allein zurückgeblieben. Dein Zentrum, um das alles bisher gekreist hat, fehlt. Ja, noch irgendwie da – in deinen Erinnerungen, in Traumgesichten, in deinem Herzen. Du traust diesen Traumgesichten nicht. Sie taugen nicht, um Fuß zu fassen. Denn handfest und real ist das alles ja nicht. Und so gehst du zurück zu dem, was du kennst. Zurück in die Landschaft deines früheren Lebens, zurück in deinen alten Beruf, zurück dahin, wo du dich auskennst.

Alle, die einen Menschen verlieren an den Tod, müssen sich und ihr Leben neu wiederfinden. Müssen sich neu ausrichten. Die sieben ehemaligen Jünger, die zusammen wieder fischen gehen, haben immerhin einander. Sie teilen ihre Erfahrungen, ihre enttäuschten Hoffnungen, ihre Trauer. Sie sind Männer, die pragmatisch entscheiden: Wir gehen zurück nach Galiläa.

[Fischer fischen]

Fischen, das ist Broterwerb. Nahrung, wenn man hungrig ist. Aber es steht auch für geistige Nahrung. Fünf Brote, zwei Fische – davon werden im 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums fünftausend Menschen satt. Sie werden satt, weil sie hungrig sind. Aber sie sind auch hungrig gewesen nach Jesu Gegenwart.

Fische fangen, darin steckt auch eine Verheißung von Wachstum. Schon Markus, Matthäus und Lukas erzählen davon, Jesus habe gesagt, die Jünger sollten „Menschenfischer“ werden. „Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt!“, fordert der Auferstandene die Fischer auf. Die 153 gefangenen Fische, die das Netz nicht zerreißen lassen – die sind jedenfalls weit mehr, als sie hinterher essen können. Symbolisch klingt die frühe christliche Mission an. Und wenn Johannes vielleicht schon auf die 153 Fischarten angespielt haben sollte, die es einem griechischen Gelehrten aus dem zweiten Jahrhundert zufolge gab, dann würde auch anklingen, dass allen Menschen die gute Nachricht gilt.

Die ehemaligen Jünger wollten wieder normale Fischer werden, wollen mit Fischfang für ihren Lebensunterhalt sorgen. Aber ihr neues altes Leben scheint mehr werden zu sollen als nur ein „Zurück auf Start“.

[Nicht-Nacktsein am Kohlenfeuer]

Petrus war nackt und als ihm der Lieblingsjünger sagt, wer da am Strand steht, wirft er sich schnell sein Obergewand über. Und springt damit ins Wasser, um das Fangnetz an Land zu ziehen – und dann seinem Herrn nicht nackt gegenüberzutreten. Nacktheit ist mit Scham verbunden. Jedenfalls in den meisten Kulturen. Adam und Eva schämen sich voreinander und vor Gott. Ihre Unbefangenheit ist vorbei, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. So wie Gott sie geschaffen hat, wollen sie ihm nicht mehr gegenübertreten. Petrus als Fischer kann nackt sein, aber nicht Petrus, der in dem Mann am Strand den Auferstandenen erkennt. Dieses Erkennen des Auferweckten spiegelt sich in Petrus‘ Bekleiden.

Auch das entfachte Kohlenfeuer am Strand lässt an ein anderes Kohlenfeuer denken. Für die Leser des Johannes-Evangeliums ist das gerade mal zwei Kapitel her. Da stand Petrus schon einmal an einem Kohlenfeuer – und diese beiden Kohlenfeuer sind die einzigen im Neuen Testament, beide im Johannes-Evangelium. Das erste Feuer (Joh 18,18) haben die Diener und Knechte des Hohepriesters entfacht. Es war kalt. Drinnen fand ein Verhör statt. Und Petrus wärmte sich am Feuer. Drei Mal wird er gefragt, ob er nicht auch einer von denen sei, die Jesus begleitet haben. Drei Mal sagt er: Nein! Unter dem Kreuz finden wir Petrus nicht. Nur den Lieblingsjünger und die Frauen.

Der Leser weiß, mit wie viel Scham das wärmende Kohlenfeuer für Petrus verbunden ist. Petrus weiß es auch. Er ist derjenige, der das Geschehen voranbringt. Von Petrus kommt die Idee, doch wieder fischen zu gehen. Petrus hört vom Lieblingsjünger, dass es der Auferstandene ist, der ihnen den reichen Fischfang beschert hat. Und Petrus glaubt das, zieht sich was über, springt ins Wasser und zieht das Netz an Land.

[In aller Herrgottsfrüh]

Und Petrus glaubt – das sagt sich so leicht. Er hat das leere Grab gesehen, zwei Mal ist der auferstandene Jesus den Jüngern erschienen. Sie sind von ihm mit Vollmacht ausgestattet worden, Sünden zu vergeben. Aber dann gehen sie offenbar doch zurück in ihre Heimat und machen, was sie früher gemacht haben. Es ist schwer, der Gegenwart gerecht zu werden. Dieses letzte Zeichen im Johannes-Evangelium spielt an der Grenze von Tag und Nacht. In dieser Nacht fingen sie nichts. Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen?

An der Grenze von Nacht und Tag spielen sich Wunder ab. Sie sättigen Leib und Seele. Sie sättigen die, die sich als Kinder ansprechen lassen. Die sieben werden Apostel werden. Aber sie können nur denken, was sie waren: Jünger. Nicht, was sie sind: Kinder. Der sie so anspricht, hat das Feuer entzündet, einige Fische liegen schon darauf und werden gar. Auch Brot ist da. Weitere Fische werden gebraten. Das Mahl wird gehalten. Die sieben Jünger wissen, wer der ist, der das Brot bricht. Auch ohne dass sie ihn fragen. Eine heilige Scheu markiert den Unterschied zwischen ihrem früheren Leben und dieser dritten Offenbarung des Auferstandenen, die sie erleben.

Im letzten Jahr, da steht einer am Fenster. Er ist allein. An der Grenze von der Nacht zum Tag. Es ist still, noch kein Vogel zwitschert. Der Apfelbaum ist gerade erblüht. Seinen Glauben hat er im Laufe der Jahre verloren. Er steht da, weil seine Pastorin angesichts der ausfallenden Ostergottesdienste einen Rundbrief verschickt hat. Und darin hat sie vorgeschlagen, in aller Herrgottsfrüh jeder für sich (und irgendwie auch mit vielen anderen) am offenen Fenster den Osterhymnus zu singen. Der Brief aktiviert die Erinnerung. Er denkt an sein früheres Leben, an diesen Hymnus aus dem 11. Jahrhundert, noch viel älter als sein alter Glaube: „Christ ist erstanden von der Marter alle; des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Kyrieleis. Wär‘ er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen; seit dass er erstanden ist, so lobn wir den Vater Jesu Christ. Kyrieleis.“ Mehr als diese Erinnerung gibt es nicht. Eine gewisse Scheu lässt ihn kurz zögern, dann traut er sich – und singt.

Amen.


Bärbel Husmann