Mehr als Jesus light

Predigt zu Hebr 1,1-4 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 26. Dezember 2021 (zweiter Weihnachtsfeiertag)

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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

lassen Sie uns den Predigttext für heute hören. Es sind die ersten Verse aus dem Brief an die Hebräer.

Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen geredet durch den Sohn,
    den er eingesetzt hat zum Erben über alles,
    durch den er auch die Welten gemacht hat.
    Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit
    und das Ebenbild seines Wesens
    und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort
    und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und
    hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe
    und ist so viel höher geworden als die Engel, wie der Name, den er ererbt hat, höher ist als ihr Name.
(Luther 2017)

[1. Das Sprechen der Klugen]

Auch in Luthers Übersetzung spürt man: Dieser Text ist von einem sehr gelehrten Menschen geschrieben. Keiner von uns würde wohl auf die Idee kommen, einen Brief so anzufangen: Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat… Es klingt eher wie eine Abhandlung, in der die Gedanken der Zeit nach geordnet vorgetragen werden.

Ich musste bei diesem Predigttext an eine Mahnung meines Doktorvaters denken. Einige von Ihnen werden ihn noch kennen, er war hier oft im Gottesdienst. Er sagte: „Mädle, wenn du einen Vortrag hältst und jeder dich versteht, dann hascht du was falsch gmacht.“ – Ja, Sprache ist ein Unterscheidungsmerkmal. An Universitäten. Und auch sonst. Und wenn einer klug ist und auch will, dass andere das merken, dann muss er so sprechen, dass ihn nicht alle verstehen.

[2. Wort für Wort]

Im Griechischen ist der Predigttext ein einziger Satz. Er hat einen Hauptsatz und acht Beifügungen. Der Hauptsatz enthält die hauptsächliche Aussage, nämlich: Zu den Vorfahren hat Gott durch die Propheten geredet, jetzt hat er durch seinen Sohn geredet. Die Hauptsache, um die es dem Schreiber geht, ist also: Jetzt redet Gott durch seinen Sohn, und der kennt Gottes Willen genau. Auf ihn sollen wir hören.

Dieser Sohn wird dann noch durch acht Aussagen näher beschrieben.

     Er ist als Erbe eingesetzt.
     Er war schon bei der Erschaffung der Welt dabei.
     Er ist der Abglanz von Gottes Herrlichkeit.
     Er ist ein Abbild von Gottes Wesen.
     Er trägt mit seinem Wort die ganze Welt.
     Er hat die Reinigung von den Sünden bewirkt.
     Er sitzt zur Rechten Gottes im Himmel.
     Und er ist in der himmlischen Hierarchie viel, viel höher als die Engel.

Mehr Macht kann ein Vater seinem Sohn nicht verleihen.

[3. Die Klugheit der Hebräer]

Wir, die wir diese ersten Briefzeilen etwa eintausendneunhundert Jahre später lesen, wir denken: Ja, so in etwa ist alles klar. So steht es in unserem Glaubensbekenntnis: das Sitzen zur Rechten Gottes und die Vergebung der Sünden. Im Jahr 2021 kennen wir die Schlagworte christlicher Theologie und „wissen“, was das Christentum für eine Religion ist.

Das war am Ende des ersten Jahrhunderts, als der Brief an die Hebräer geschrieben wurde, noch nicht so. Oder nicht mehr. Denn Jesus Christus ist in diesem Text nicht der Jesus, der Blinde heilt und in Gleichnissen vom Kommen des Reiches Gottes spricht. Er ist auch nicht der Jesus, der gekreuzigt wird und stirbt. Er ist auch nicht das Kind in der Krippe, den nur Hirten und Magier als göttliches Kind erkennen. Alles Menschliche spielt in diesem Text keine Rolle mehr.

Und mit diesem Jesus, mit diesem Christus, lässt sich deshalb nicht so leicht eine Beziehung auf du und du eingehen. Bei einem, der sich zur Rechten Gottes gesetzt hat, die Reinigung von den Sünden bewirkt hat und ein Abbild von Gottes Wesen ist, da ist wenig übrig von „O Jesulein süß, o Jesulein mild“, wie es in einem alten Weihnachtslied heißt. Jesus ist der „Herr, unser Gott“, der Mensch geworden ist. Hinter dem Text steckt die Vorstellung von der Menschwerdung Gottes. Die vollständige Strophe heißt ja auch: „O Jesulein süß, o Jesulein mild, / deins Vaters Will‘n hast du erfüllt: / bist kommen aus dem Himmelreich, / uns armen Sündern worden gleich.“

Wer die „Hebräer“ genau sind, denen der Brief oder die Abhandlung gilt, war bisher von der theologischen Forschung nicht zu enträtseln. Aber eines kann man über die „Hebräer“ sicher sagen: Sie waren ebenso kluge Lesende wie es der Schreiber war. Ganz und gar nicht kann ich mir vorstellen, dass der Verfasser des Briefes an die Hebräer so kompliziert geschrieben hat, um dem Rat meines Doktorvaters zu folgen: Wenn alle verstehen, was du sagst, dann hast du etwas falsch gemacht.

Diese Hebräer müssen sich also ausgekannt haben. Sie müssen die biblischen Propheten-Bücher gekannt haben, um zu wissen, wie denn Gott durch die Propheten geredet hat. Und sie müssen die kultischen Formen der Versöhnung mit Gott gekannt haben, die Reinigung von den Sünden. Wenn nämlich einmal im Jahr der Hohepriester am Versöhnungstag (Jom Kippur) das Allerheiligste im Jerusalemer Tempel betrat und das Blut von Opfertieren darbrachte und die Vergebung der Sünden stellvertretend für das Volk empfing. Ein Reinigungsritual, das den gläubigen Menschen und Gott wieder zusammenbringt.

Das Tempelritual gibt es natürlich nicht mehr. Denn der letzte Tempel wurde 70 n. Chr. von den Römern zerstört. Das priesterliche Opferritual verlagerte sich ins Innere des Menschen: kein blutiges Opfer mehr, sondern stattdessen innere Einkehr. Auch heute noch ist der Versöhnungstag der höchste jüdische Feiertag: ein Tag der Ruhe und Besinnung und des Fastens. So wird dieser Feiertag von der Mehrheit der Juden, auch den nicht-religiösen, in unserer Zeit begangen.

Die „Hebräer“ Ende des ersten Jahrhunderts werden noch eine Ahnung gehabt haben vom Opferritual im Tempel am Versöhnungstag: an die alljährliche Reinigung von den Sünden und die Wiederherstellung einer ungebrochenen Gott-Mensch-Beziehung.

Der Verfasser des Briefes konnte darauf bauen, dass seine Leserinnen und Leser mit seiner Sprache und seinen Bildern etwas verbinden konnten. Dass da etwas abgerufen wurde und seine Worte in einem bestimmten Horizont gehört wurden: Gott hat durch die Propheten geredet, zuletzt aber durch den Sohn. Und dieser Sohn taucht nicht unter in der Menge der Söhne und Töchter des Hauses Israel, sondern er ist wirklich einzigartig.

[4. Horizonterweiterung]

Eine der acht Beifügungen für den Sohn lautet: und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden. Was uns an das Glaubensbekenntnis erinnert, erinnerte die Leserinnen und Leser des Hebräerbriefes an den Versöhnungstag. Ein Fest, das sie kennen, das sie vielleicht in ihrer Zeit, bevor sie Christen wurden, selbst mitgefeiert haben. Später im Brief wird es heißen: Darum war es notwendig, dass Jesus in jeder Hinsicht den Brüdern und Schwestern gleich wurde. Denn er sollte ein barmherziger und treuer Hohepriester werden. Er sollte vor Gott für sie eintreten, um für die Sünden des Volkes Vergebung zu erlangen (Hebr 2,17).

Jesus Christus ist nicht nur „das eine Wort Gottes“ (Barmer Erklärung These 1), sondern auch der Hohepriester, der für das Volk Vergebung der Sünden erwirkt. Neben die Bilder vom Kind in der Krippe, vom prophetisch auftretenden Jesus, vom Opferlamm, vom himmlischen Thron – neben alle diese Bilder tritt nun auch das Bild vom Hohepriester.

Für die christlichen Leserinnen und Leser am Ende des ersten Jahrhunderts war damit ein neuer Horizont eröffnet: Jesus Christus ist der, der uns versöhnt mit Gott. Nicht jedes Jahr neu am Versöhnungstag, sondern ein für allemal. Er ist Opferlamm und Hohepriester. Er ist Mensch und Gott. Er ist das Kind in der Krippe und der erhöhte Christus neben Gottvater auf dem himmlischen Thron.

[5. Weihnachten – mehr als „Jesus light“]

Und für die christlichen Leserinnen und Leser heute? Für uns? Spannt sich da auch ein neuer Horizont auf? – Opferkult ist uns fremd, uns Reformierten allemal. Viele Bilder sind uns fremd oder fremd geworden. Von anderen Bildern, ich sag‘ mal: den „Jesus light“-Bildern, werden wir an Weihnachten überschüttet: das liebliche Kind in der Krippe, das Licht des Weihnachtssterns – ein Licht, das in den Städten vor allem die Kaufhäuser erhellen soll.

Es ist ganz gut, dass wir heute Morgen Zeit haben, um über andere Bilder nachzudenken – zum Beispiel über diesen erhöhten Christus, der die Reinigung von den Sünden vollbracht hat, und so viel höher steht als alle Engel.

Ist das zu verstehen? Nicht ganz. Aber wir haben Verstand und Herz. Deshalb singen wir Texte, die wir nicht sprechen würden. Deshalb hören wir die alten, vertrauten Abendmahlsworte, ohne sie ganz einfach in unsere Alltagssprache übertragen zu können. Deshalb haben wir Rituale wie Taufe und Abendmahl, die uns jenseits aller Logik „erinnern und gewiss machen“, wie es der Heidelberger Katechismus sagt.

Und deshalb ist Jesus Christus das Kind in der Krippe, der als Sohn Gottes in unsere Welt gekommen ist. Gott ist in diesem göttlichen Kind nahbar und menschlich, damit wir gewiss werden: Nichts kann uns mehr trennen von der Liebe Gottes.

Amen.


Bärbel Husmann