Bahnfahrt mit Geheimnis

Predigt mit I. Korinther 2, 1-10 – 16. Januar 2022

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Von Pastor Michael Ebener, Evangelisch-Reformierte Gemeinde Göttingen

Biblische Lesung als Predigttext

Auch ich, meine Brüder und Schwestern, als ich zu euch kam,
kam nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit,
euch das Geheimnis GOttes zu predigen.
Denn ich hielt es für richtig,
unter euch nichts zu wissen
als allein JESUS CHRISTUS,
IHN, den GEKREUZIGTEN.

Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht
und mit großem Zittern;
und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht
mit überredenden Worten der Weisheit,
sondern im Erweis des Geistes und der Kraft,
auf dass euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit,
sondern auf GOttes Kraft.

Von Weisheit reden wir aber unter den Vollkommenen;
doch nicht von einer Weisheit dieser Welt,
auch nicht der Herrscher dieser Welt,
die vergehen.
Sondern wir reden von der Weisheit GOttes,
die im Geheimnis verborgen ist,
die GOtt vorherbestimmt hat vor aller Zeit
zu unserer Herrlichkeit,
die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat;
denn wenn sie die erkannt hätten,
hätten sie den HERRn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.
Sondern wir reden, wie geschrieben steht:
»Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat
und in keines Menschen Herz gekommen ist,
was GOtt bereitet hat denen, die ihn lieben.« Jesaja 64, 3

Uns aber hat es GOtt offenbart durch den GEIST;
denn der GEIST erforscht alle Dinge,
auch die Tiefen GOttes.
Amen.

 

Predigt

Die Gnade unseres HERRn JESUS CHRISTUS
und die Liebe GOttes
und die Gemeinschaft des HEILIGEN GEISTES sei mit uns allen. Amen.


1.
Neulich in der Bahn,
kurz hinter Leer.

Ich sitze gerade im Abteil,
da öffnet sich die Schiebetür.
Ein freundlicher Herr mit Aktentasche tritt ein,
setzt sich schräg gegenüber.
Mit kurzer Kopfbewegung
nicken wir einander zu.

Nach einigen gedankenverlorenen Blicken
in die Tiefe Ostfrieslands
spricht mich mein Reisegefährte an:
Da wir uns im Neuen Jahr nun häufiger begegnen,
erlauben Sie mir bitte,
mich persönlich vorzustellen:
Ich bin der Zweifel.

Astreine Manieren,
denke ich und antworte entsprechend:
Angenehm,
obwohl ich mir gar nicht sicher bin,
ob es wirklich angenehm ist,
mit dem Zweifel durchs Neue Jahr zu fahren.

Wie kommen Sie darauf,
dass wir uns häufiger sehen?

setze ich nach. - - -
Zufällig weiß ich,
dass Sie vor schwierigen Entscheidungen stehen,
sagt der Zweifel.
Und bedenken Sie:
die allgemeine Lage –
leichter wird’s nicht!
Da könnte mein Rat nützlich sein. - - -
Ich möchte nicht unhöflich sein,

wende ich ein,
aber eigentlich wäre mir Zuversicht lieber. - - -
Mein Gegenüber lächelt nachsichtig:
Das denken die meisten.
Aber glauben Sie mir:
Ohne meine Unterstützung ist Zuversicht
in den seltensten Fällen zu haben! - - -
Wie würde Ihre Unterstützung denn aussehen?

möchte ich gerne wissen. - - -
Ich helfe Ihnen beim Nachdenken,
sagt der Zweifel,
beim Abwägen, beim Dinge hinterfragen –
nach allen Regeln menschlicher Weisheit tue ich das.
So können wir im besten Fall gemeinsam
vorschnelle Entschlüsse verhindern.
Sie glauben gar nicht,
wieviel Elend entsteht,
weil Menschen sich voreilig entscheiden
aus zu großer Sehnsucht nach Gewissheit. - - -
Oder weil die Menschen vielleicht fürchten,
Sie nicht auszuhalten,

werfe ich ein.
Lachend erhebt mein Mitreisender die Stimme –
„leiser Zweifel“ ist nicht seine Art:
Tiefgreifende Entscheidungen müssen reifen:
Sie brauchen Zeit, kluge Gedanken,
am besten auch von anderen Menschen,
und verschiedene Blickwinkel!
Und all das ist meine Spezialität.
Wenn Sie also erlauben,
würde ich Ihnen gern zur Seite stehen. - - -
Und wie lange wird es dauern,

frage ich zögernd,
bis ich wieder mit Zuversicht in die Zukunft blicke? - - -
Das kann man so nicht sagen,

antwortet der Zweifel,
ich sitze hier einfach mit im Abteil
und draußen –
draußen ist das Leben.
Wünschen Sie sich nicht,
dass ich nicht mehr da bin.
Manchmal bin ich auch still.
Aber Sie dürfen mich gern jederzeit aufwecken.

Und während wir gleichmäßig über die Schienen gleiten,
scheint es, als sei mein Gegenüber tatsächlich eingeschlafen.

Augustfehn, Westerstede-Ocholt, Bad Zwischenahn,
längerer Zwischenhalt in Oldenburg –
wir nähern uns der Hansestadt …

 

2.
Aber vorher Delmenhorst!

Schon auf dem Bahnsteig fällt mir die jüngere Frau auf,
die sich mit lauter Papiertüten abschleppt.
In ihrem modischen, bodenlangen weißen Daunenmantel,
steht sie am Gleis und eilt zum Waggon.
Das ist bestimmt mollig,
denke ich noch,
schon öffnet sich erneut die Schiebetür.
Darf ich?
fragt die junge Dame unter ihrer Maske.
Ich mache eine einladende Geste:
Aber gern!

Beim Hinsetzen kämpft sie mit den Tüten.
Das war wohl ein Großeinkauf,
eröffne ich unser Gespräch.
Wir sprechen beide leise,
denn der Zweifel schläft ja.
Sie schnauft dennoch hörbar durch,
zieht ihr Handy aus der Tasche, wischt übers Display
und hält mir einen eigen orthographierten Chatverlauf unter die Nase:
Ich besuche meinen Neffen,
der hat sich infiziert, leider –
aber lesen Sie selbst!

Da sie auf dieser Fahrt nicht die erste seltsame Gefährtin ist,
setze ich sogleich die Lesebrille auf:
Komme jetzt nach Hause,
steht da.
Mir geht’s echt schlecht
Wo bist du?
Bringst du was mit?
Soft drink
Haribo
Diese Käse sticks
Madarinen und Weintrauben
Und für heute Abend bitte eine Pizza
Und eis
Bitte
Und Prinzenrolle
Danke

Selbst unter der Maske,
muss sich herzlich lachen:
Und das ist nun alles in Ihren Tüten? - - -
Selbstverständlich,

sagt sie nachdrücklich,
das wird meinem Neffen guttun
und ohne Zweifel die Symptome lindern. - - -
Aber die Süßigkeiten werden auch seine Seele streicheln,

ergänze ich,
und er wird spüren,
wie gut Sie es mit ihm meinen.
Nichtalleinsein ist ein Riesentrost –
da ist der junge Mann bald wieder auf den Beinen. - - -
Zu zwingen ist aber gar nichts,

sagt sie bestimmt,
und dennoch haben Sie Recht:
Man muss sich das Gute auch gefallen lassen,
selbst wenn der volle Glaube fehlt,
weil es das Auge noch nicht sieht,
das Ohr es noch nicht hört
und es noch nicht in die letzte Herzkammer gedrungen ist.
Es ist alles immer im Werden,
selbst wenn draußen nichts danach aussieht,

setzt sie beim Blick aus dem Zugfenster nach. - - -
Lassen Sie mich raten,
verkünde ich wissend,
Sie sind die Zuversicht! - - -
Das ging aber schnell,

erwidert sie. - - -
Das habe ich auch nur rausgekriegt,
weil ich mit Ihnen gerechnet habe,

sage ich.
Sie sind meist zusammen mit dem Zweifel unterwegs, stimmt’s?
Hmhm!

brummt der aus seiner Ecke.
Sie hebt lächelnd die Schulter.


3.
In dem Moment zieht der Schaffner die Abteiltür auf:
Die Zuggestiegenen die Fahrkarten, bitte! - - -
Cool,

denke ich noch,
welche Looks die Bahn ihren Mitarbeitenden heutzutage erlaubt:
Was Kaftanähnliches unter der Uniformjacke
und offene Latschen im Januar –
der hat Feuer, der Mann!

Da ertönt über den Zuglautsprecher ein „Halleluja“,
alles scheint wie angehalten,
ein Erweis von Geist und Kraft,
und hinter den Fenstern über den grünen Wiesen schweben - - - Kühe.
Selbst unter der Maske ist nicht zu verbergen,
wie mir der Mund vor Staunen offensteht.
Entspann Dich:
ICH bin’s, wirklich!

ruft der Schaffner fröhlich und streift SEINE Maske ab.
Wer „Ich“?
frage ich verdattert.
ICH eben –
von DEM Du beruflich so viele Worte machst.
Da rauschst Du mit Zweifel und Zuversicht durchs Land … –
Entschuldigung, junge Dame, aber die Haribos,
dürfte ich da wohl kurz reingreifen? - - -
Herzlich gern, bedienen Sie sich,
ich hätte auch noch Schokobons,
die waren gar nicht auf der Liste, die sind eigentlich für ... - - -
Oh, die sind mir noch lieber,

sagt ER und langt beherzt in die Tüte. –
Wo waren wir?
Ach, ja:
… rauschst also mit Zweifel und Zuversicht durchs Land
und gleich musst Du umsteigen.
Da nimmt das Leben eine andere Richtung,
da geht’s ab ins Neue Jahr –
365 Tage Unsicherheiten und Möglichkeiten,
Chancen und Versäumnisse.
Da kommst Du mit Zweifel und Zuversicht allein nicht durch –
kannst Dich ja nicht nur auf menschliche Weisheit verlassen! –,
da muss doch mal jemand dem Geheimnis ein Gesicht geben. - - -
Bemerkenswert,

denke ich noch,
dass ER tatsächlich einen juvenilen Bart trägt.
Und wie ER die Haare zum Dutt hochgebunden hat … –

auch bei den Vollkommenen sollte mit religiösen Sehgewohnheiten
nie allzu sehr gebrochen werden!

Sind Sie denn sicher,
dass dieser Zug ausnahmsweise pünktlich ist –
ich habe da so meine Zweifel,

meldet sich nun Derselbe zu Wort,
der offensichtlich jede Regung mitbekommt.
Ist alles vorherbestimmt,
antwortet der Schaffner seelenruhig.

Und nun,
frage ich,
wie weiter, wo geht’s hier zum „Amen“? - - -
Na, die Fahrkarte, bitte! - - -

Ich nestele in meiner Tasche.
Meine Brieftasche – finde ich nicht …
Dann eben digital.
Schnell die DB-App geöffnet – nix, tot, Akku leer:
Mach mich nicht schwach …
Ich gerate in Furcht mit großem Zittern:
Tut mir leid,
ich kann meinen Fahrschein nicht vorweisen. - - -
Nun mal keine Angst,

ermutigt mich der Schaffner,
das findet sich!
Ich drücke wie wild an meinem Handy herum.
JESUS CHRISTUS!
entfährt es mir da.
Na also, Bruder, geht doch:
Schon ist Dein Ticket gültig.
Gute Reise!

Ich zweifle noch:
Sollte das so einfach sein?
Aber da überkommt mich große Zuversicht.

ER hebt grüßend zwei Finger an die Stirn
und richtet sich an meine beiden Mitreisenden:
Gute Reise auch Ihnen,
wir sehen uns!

Die Abteiltür schließt sich,
über den Zuglautsprecher ertönt das „Halleluja“,
der Zug rollt weiter --- Bremen Hauptbahnhof.

Nicht gerade pünktlich!
Aber mein Anschluss wartet …
Amen.


Michael Ebener