Was jetzt ist und was irgendwann sein wird

Predigt zu Lk 17,20-24 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 6. November 2022 (drittletzter Sonntag im Kirchenjahr)

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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

es gibt Erfahrungen von Gemeinschaft und Liebe, die einen selig machen. Die dich tragen, auch wenn das Ereignis längst vorbei ist. Die nachklingen in deiner Seele. Die dich umhüllen mit Gefühlen von Satt-Sein und Geborgen-Sein und Genau-richtig-am-Platz-Sein. Manchmal ist das bei Hochzeiten so. Manchmal bei Konzerten. Oder in der Natur. Oder wenn dir vergeben wird. Oder wenn eine Freundschaft erblüht.

Erinnern Sie sich? Kennen Sie so ein Lebensgefühl?

[I. Der Text]

Der Predigttext für heute steht im Lukas-Evangelium im 17. Kapitel, die Verse 20-24. Jesus ist unterwegs auf dem Weg nach Jerusalem. Wenn man ganz vom Norden in Galiläa startet und nach Jerusalem zum Pessachfest pilgern will, dann muss man Samarien durchqueren. Das ist zur Zeit Jesu Feindesland, wie folgende Begebenheit, datiert etwa 50 n. Chr. aus dem Buch „Der judäische Krieg“ von Josephus zeigt:

„Bei dem Dorfe Gema nämlich, das in der großen Ebene Samariens liegt, wurde aus der großen Zahl Juden, die zum Fest hinauf [nach Jerusalem] zogen, ein Galiläer ermordet. Darauf rotteten sich zahlreiche Galiläer zusammen, um gegen die Samaritaner Krieg zu führen. […] als die Kunde von dem traurigen Geschick des Ermordeten [Galiläers] in Jerusalem bekannt wurde, gerieten die Massen in Weißglut; sie verließen das Fest, stürmten ohne Führer auf Samarien zu, […] mordeten ohne Rücksicht auf das Alter und brannten die Dörfer nieder.“

In diesem Gebiet also befindet sich Jesus. Zunächst erzählt Lukas, wie Jesus zehn Aussätzige heilt. Einer der zehn, ein Bewohner Samariens, kommt zurück und bedankt sich. Sieben Kapitel zuvor hatten die Leserinnen und Leser schon die Parabel vom barmherzigen Samariter gehört. Hier nun ein dankbarer Samariter. Nach dieser Geschichte vom geheilten und dankbaren Samariter folgt der Predigttext.

20Als er [Jesus] aber von den Pharisäern
gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?,
antwortete er ihnen und sprach:
Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen;
21man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da!
Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
22Er sprach aber zu den Jüngern:
Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.
23Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!
24Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

[II. Mehr als Glück und Seligkeit]

Erfahrungen von Glück und Seligkeit lassen sich nicht planen. Sie kommen zu ihrer Zeit. Und dann lassen sie Zeit und Raum vergessen. Das Reich Gottes – ist das solches Glück und solche Seligkeit?

Vielleicht auf der individuellen Ebene. Aber im Text schwingt noch viel mehr mit als Glück und Seligkeit, nämlich die Perspektive des kommenden Königtums Gottes. Denn unser Wort „Reich“ ist im Griechischen ganz klar ein Königreich: basileia von basileus, der König. Das deutsche Wort „Basilika“ kommt daher. Basiliken sind vom Papst ausgezeichnete Kirchen. Basilika ist also ein Titel, ein Titel, der vom Papst verliehen wird sozusagen. Und wenn wir beten Dein Reich komme, wie im Himmel so auf Erden, dann bitten wir Gott um seine Königsherrschaft in seinem Königreich hier bei uns.

[III. Eine Vision]

Ja, wie wäre das? Wenn Gott regierte und das Sagen hätte? Wenn es wie im Himmel wäre?

  • Dann gäbe es keine Kriege mehr, sondern Schwerter werden zu Pflugscharen.
  • Dann gäbe es keine Menschen mehr, die hungern, sondern Gott gibt ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.
  • Dann gäbe es keine kleinen Männer mehr, die groß rauskommen müssen (darin sieht zumindest meine Blumenhändlerin den Grund allen Übels…), sondern Frauen und Männer, alle Menschen würden Gottes Gerechtigkeit rühmen.
  • Dann regierte nicht mehr das Geld die Welt, sondern den Armen würde Recht geschaffen werden.
  • Dann hätten wir keine Landeskirchenämter mehr und keine Diözesanverwaltungen, sondern einer trüge des anderen Last.
  • Dann gäbe es für die Krankenhäuser keine Fallpauschalen mehr, sondern die hilfsbedürftigen Alten und Kranken würden aufgerichtet und behütet.
  • Dann – würden Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.

Zu schön, um wahr zu sein. Und trotzdem eine Sehnsucht, die die Bibel hochhält und ihr immer neue Nahrung gibt: in den Psalmen, bei den Propheten, bei Jesus.

[IV. Zusammenhänge]

Lukas hat in unserem Predigttext zwei Gesprächsorte und zwei Gesprächspartner zusammengespannt. Die Szene des Predigttextes umfasst einen Wortwechsel mit pharisäischen Schriftgelehrten und dann noch einen mit Jesu Weggefährten, den Jüngern.

Szene 1 also im Feindesland Samarien und die Gesprächspartner sind Pharisäer. Das lässt Gefährdungen mitschwingen.
Szene 2 spielt im intimen Kreis der Gefährtinnen und Gefährten. Jesu Worte über das Kommen des Menschensohnes sind eingebettet in eine einverständliche Situation der Freundschaft.

Beide Male formuliert Lukas mit einer Schwarz-Weiß-Folie. Zuerst sagt er, wie es nicht sein wird: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; 21man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Und in Szene 2: Ihr werdet den Tag des Menschensohns nicht sehen, auch wenn ihr das begehrt. 23Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!

Und dann kommt bei Lukas eine positive Aussage: Zu den Pharisäern sagt Jesus: Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Und zu den Jüngern sagt er: Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

[V. Mitten unter euch]

In den meisten Bibeln, in der Lutherbibel und in der BasisBibel sind die beiden Szenen durch eine neue Zwischenüberschrift getrennt. Nur die Übersetzerinnen und Übersetzer der Zürcher Bibel tun das nicht. Sie folgen in ihrer Einteilung dem Charakter der Erzählung bei Lukas und fassen beide Szenen unter einer Überschrift zusammen.

So merkt man besser, dass es Lukas darum ging, diese beiden Dinge zusammenzuhalten: Jetzt schon, in der uns feindlich gesonnenen Gegenwart, ist das Reich Gottes mitten unter uns. Aber, liebe Freundinnen und Freunde, es wird auch eine Zeit kommen, wo wirklich ganz unmissverständlich mit Blitzen und Lichterscheinungen vom Himmel her der Menschensohn auftritt und es gar keinen Zweifel mehr gibt, für Freunde – und für Feinde – keinen Zweifel mehr gibt, was die Stunde geschlagen hat.

Für Lukas war klar: Der Menschensohn, der Sohn eines Menschen aus dem biblischen Buch Daniel, das wird der wiederkehrende Jesus Christus sein.

Man wird schon merken, wann es soweit ist. Bis dahin aber, bis dahin ist das Reich Gottes mitten unter euch, ihr Lieben. Es ereignet sich, wenn ihr in eurem Umfeld, mit euren Möglichkeiten, Menschen verköstigt, Menschen verzeiht, in Kontakt bleibt auch wenn’s gerade etwas ungemütlich ist, wenn ihr die Armen nicht vergesst, Geflüchteten beisteht, die Natur nicht zerstört und Gutes, das euch zuteil wird, mit anderen teilt.

Mit anderen Worten: Erfahrungen von Gemeinschaft, Einklang und Liebe ermöglichen, Erfahrungen, die nachklingen und die einen umhüllen mit Gefühlen von Satt-Sein und Geborgen-Sein und Genau-richtig-am-Platz-Sein.

Amen.


Bärbel Husmann