'Scham über das Leid'

ForuM-Studie zum Thema sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche: 1259 mutmaßliche Täter

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Die am 25. Januar 2024 veröffentlichte Studie sorgt für Entsetzen - auch in den Landeskirchen. Kirchenvertreter versprechen weitere Aufarbeitung und Projekte zur Prävention.

Ende 2020 hat der Forschungsverbund ForuM (Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland) mit einer breit angelegten unabhängigen Studie zum Thema sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche seine Arbeit aufgenommen. Die Ergebnisse wurden am 25. Januar 2024 veröffentlicht. Die Studie spricht von "mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern". Vertreter der Landeskirchen sieht in vielen Fällen unzureichende Aufarbeitung.

Evangelisch Reformierte Kirche: "Auch die Institution trägt Schuld"

Mit Erschütterung hat Kirchenpräsidentin Susanne Bei der Wieden auf die Veröffentlichung der ForuM-Studie reagiert. „Da ist die tiefe Scham über das Leid, das Menschen in unserer Kirche angetan worden ist“, sagte sie. „Ich bin auch wütend auf die, die ihre Ämter zur Befriedigung der eigenen Macht missbraucht haben“. Darüber hinaus trage aber auch die Institution Schuld am Leid der Betroffenen. Sie habe im Umgang mit sexualisierter Gewalt versagt.

Die Evangelisch-reformierte Kirche wolle alles daran setzen, in Zukunft sexualisierte Gewalt in der Kirche zu verhindern und die noch im Verborgenen liegenden Machenschaften der Täter aufzudecken. „Wir alle sind uns bewusst, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist.“ Die Evangelisch-reformierte Kirche hat in den vergangenen Jahren ein Angebot zur Sensibilisierung und Schulung zur Prävention sexualisierter Gewalt. Seit Anfang des Jahres 2023 gibt es in der Evangelisch-reformierten Kirche eine Fachstelle für die Prävention von sexualisierter Gewalt.

Lippische Landeskirche: "Nicht hinreichend notwendige Konsequenzen gezogen"

Landessuperindentend Dietmar Arends bat die Betroffenen „aufrichtig um Entschuldigung für das damalige Vorgehen und die seinerzeit unterlassene Aufklärung.“ Er bedaure zutiefst, wenn Menschen seinerzeit innerhalb der Lippischen Landeskirche Schaden zugefügt wurde und sie dadurch schmerzhafte Erfahrungen erlitten haben. Arends versprach eine rückhaltlose Aufklärung: „Wir sehen nach Einsicht der Akten in beiden Fällen schon jetzt, dass die damalige Aufarbeitung nicht ausreichend war, Fragen offengeblieben sind und nicht hinreichend notwendige Konsequenzen gezogen wurden.

Die Lippische Landeskirche geht demnach zwei Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt nach, über die sie durch ihre Meldestelle bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. (Diakonie RWL) sowie die Fachstelle Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) informiert wurde. Beide gemeldete Fälle ereigneten sich in den 1980er- und 1990er-Jahren. Und beide Verdächtigte waren in der Jugendarbeit tätig. Die Lippische Landeskirche habe den Wunsch der betroffenen Personen berücksichtigt, die Vorgänge öffentlich zu machen – mit dem Ziel, dass sich gegebenenfalls weitere Betroffene oder Zeugen melden können.

Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck:

Aus diesem Wissen entsteht die Verpflichtung, dass wir uns dem Thema stellen. Dabei stehen die Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen im Mittelpunkt: Wir hören sie und unterstützen sie individuell; ihnen gegenüber fühlen wir uns verpflichtet. Die Verantwortung, die daraus erwächst, ist uns bewusst. Wir sind ihr leider bisher nicht immer gerecht geworden. Aufarbeitung muss daher ehrlich im Blick auf unser eigenes Versagen stattfinden – dies auch im Blick auf täterschützende Strukturen. Wir stehen ein für die konsequente Aufklärung und Ahndung zurückliegender Taten. Und wir machen uns stark für klare Aufarbeitungsstrukturen.

Gemeldet wurden 34 beschuldigte Personen, die bei der EKKW angestellt sind oder waren; für die Studie waren Fälle bis zum Jahr 2020 angefordert. Dabei handelt es sich um Fälle von sexualisierter Gewalt gegenüber Minderjährigen. Die Dunkelziffer sei deutlich höher. Durch weitere Recherchen kamen demnach mehr Fälle ans Licht, unter anderem mit erwachsenen Betroffenen. Aufgrund der in der Aktenreche ermittelten sowie der laufenden und geschätzten Fälle sei nach jetzigem Kenntnisstand von 40 bis 50 Tatpersonen auszugehen.

Die haupt-, ehren- und nebenamtlichen Mitarbeitenden der EKKW würden seit 2020 geschult, um sexualisierte Gewalt bzw. die Risiken ihrer Entstehung zu erkennen und Betroffenen professionelle Unterstützung zu vermitteln.

Konförderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen: "Große Versäumnisse bis hin zur Vertuschung"

Die Bevollmächtigte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, OLKRin Dr. Kerstin Gäfgen-Track, sagte dazu:
"Menschen, die in den Kirchen der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen gearbeitet haben oder es bis heute tun, haben schwere Schuld auf sich geladen." Es könne außerdem nicht ausgeschlossen werden, dass auch aktuell Menschen in unseren Kirchen arbeiten, deren Taten noch nicht bekannt sind. Es habe in der evangelischen Kirche im Hinblick auf die Aufarbeitung "große Versäumnisse bis hin zur Vertuschung gegeben: "Die evangelischen Kirchen sind an den betroffenen Menschen schuldig geworden."

Es sei existentiell für die Kirchen und für Christinnen und Christen, den von sexualisierter Gewalt betroffenen Personen Räume zu eröffnen: "Entscheidend ist jetzt, dass die Studienergebnisse auf allen Ebenen der Kirchen intensiv diskutiert werden, um dann die im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD von Betroffenenvertreterinnen und -vertretern sowie kirchlichen Beauftragen gemeinsam erarbeiteten Konsequenzen und Empfehlungen für kirchliches Handeln konkret umzusetzen."

Bremen: "Erwarten Empfehlungen und Arbeitsaufträge aus Sicht der Betroffenen"

"Wir wissen, dass es sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie gibt", sagte Präsidentin Edda Bosse. "Seit vielen Jahren sind wir auf dem Weg, sexualisierte Gewalt grundsätzlich besprechbar zu machen. Wir unterstützen als Bremische Evangelische Kirche ausdrücklich das Beteiligungsforum auf Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland und hoffen und erwarten Empfehlungen und Arbeitsaufträge aus Sicht der Betroffenen, um unsere eigenen Vorhaben und Projekte verbessern zu können."

Für die ForuM-Studie hat die Bremische Evangelische Kirche (BEK) 850 Personalakten der Pfarrpersonen, die zwischen 1946 und 2020 in ihrem Dienst standen, nach Hinweisen auf Grenzverletzungen und Disziplinarmaßnahmen untersucht. Ferner ist sie Aussagen von Betroffenen und Zeitzeugen nachgegangen. Dabei wurden acht Verdachts-Fälle von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch identifiziert.

Evangelische Kirche im Rheinland: "Ergebnisse sind erschütternd"

Vertreter*innen der Evangelischen Kirche im Rheinland haben mit tiefer Bestürzung auf die Ergebnisse der ForuM-Studie zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit reagiert. „Das Leid der Betroffenen, die Zahl der Fälle und das institutionelle Versagen, das die Studie darlegt, sind erschütternd. Hinter jedem Fall stehen erlittenes Unrecht und Leid der Betroffenen sowie Schuld und Versagen von Verantwortungsträgern unserer Kirche“, erklärte Präses Dr. Thorsten Latzel.

„Wir werden die Ergebnisse der umfassenden ForuM-Studie gründlich analysieren und ihnen weiter nachgehen – ohne jedes Ansehen von Personen oder Institution“, kündigte Latzel an. „Wir müssen bei der Auswertung ganz genau hinschauen. Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist auch in der rheinischen Kirche ein steter Lernprozess. Wir müssen vor allem den Betroffenen gut zuhören, um das erlittene Unrecht in seiner ganzen Dimension begreifen zu können“, sagte der Präses.

Evangelische Kirche von Westfalen: "Schonungslos – und deshalb hilfreich"

Die Evangelische Kirche von Westfalen (EKvW) begrüßt die Veröffentlichung der umfangreichen ForuM-Studie, die heute in Hannover der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Studie biete eine neue Grundlage für weitere systematische Aufarbeitungsschritte zum Themenfeld sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie, so der Theologische Vizepräsident der EkvW, Ulf Schlüter. „Sie hilft uns dabei, Zusammenhänge besser zu verstehen und künftig alle Formen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch noch wirksamer zu bekämpfen.“

Als wichtigstes Ziel bezeichnete es der Leitende Geistliche der westfälischen Landeskirche, dass kirchliche Räume in Zukunft überall und für alle Menschen sichere Orte seien. Dazu trägt das 2021 in Kraft getretene Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt bei. So konnten im Bereich der EKvW bis Ende vergangenen Jahres schon 16.632 Personen eine Präventionsschulung absolvieren, um darin Hintergründe über Taten sexualisierter Gewalt zu erfahren und für den Umgang mit problematischen Situationen und Verdachtsmomenten sensibilisiert zu werden.

Evangelische Kirche in Mitteldeutschland: "Verantwortung übernehmen"

Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), begrüßt die heute veröffentlichte Studie vom Forschungsverbund ForuM zu sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland. „Wir wollen hinsehen, wahrnehmen und dann einstehen dafür, was geschehen ist. Wir wollen Verantwortung übernehmen. Dafür müssen wir uns konfrontieren lassen von dem, was Betroffene durchlitten haben und welch furchtbare Folgen das für ihr gesamtes Leben hat“, so Friedrich Kramer.

In der EKM sind bei der Auswertung von mehr als 9.000 Personalakten von Pfarrpersonen aus den Jahren 1946 bis 2020 insgesamt 49 Beschuldigte und 125 Betroffene ermittelt worden. „Dies ist aber nur das Hellfeld sexualisierter Gewalt. Wir müssen mit einem sehr viel größeren Dunkelfeld rechnen. Wir werden die Studie genauestens auswerten“, so Kramer.

Evangelische Kirche in Baden: "Das Leid ernst nehmen und daraus lernen"

„Wir müssen uns den erschütternden Geschichten der Betroffenen stellen. Auch in unserer Kirche und Diakonie war der Umgang mit Übergriffen und sexualisierter Gewalt lange Zeit von Versagen und Wegsehen geprägt“, erklären die badische Landesbischöfin Heike Springhart und Oberkirchenrat und Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Baden, Urs Keller.

Die badische Landeskirche hat nach Aktenlage 88 Beschuldigte und 178 betroffene Personen anonymisiert an den Forschungsverbund gemeldet. Die Fälle sexualisierter Gewalt fanden zwischen 1946 und 2020 in Gemeinden und (stationären) Einrichtungen von Kirche und Diakonie statt.

Mit Hilfe der Aufarbeitung sollen die bisherigen Maßnahmen zur Prävention weiterentwickelt werden. „Der Blick auf das Versagen von Personen und auf Strukturen, die dieses Versagen begünstigen, lässt uns als Organisation lernen“, erläutern Landesbischöfin Springhart und Oberkirchenrat Keller. „Diese Erkenntnisse fließen ganz konkret in Schutzkonzepte ein. Die Erarbeitung und Aneignung dieser Schutzkonzepte in unseren Gemeinden und Einrichtungen ist ein Weg zur Sensibilisierung, die auch weit über den kirchlichen Tellerrand hinaus Wirkung zeigen kann.“

Evangelische Landeskirche in Württemberg: "Sich der Perspektive der Betroffenen stellen"

Die ForuM-Studie bilde nicht den Abschluss, sondern einen wichtigen Meilenstein bei der Aufarbeitung, bei der Intervention und bei der Prävention von sexualisierter Gewalt in der Landeskirche", sagte Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl. "Wir, und damit meine ich alle, die in der Landeskirche haupt- und ehrenamtlich mitarbeiten, haben in unseren jeweiligen Positionen und Arbeitsbereichen die Aufgabe, dazu beizutragen, dass Kirche mit ihrer Diakonie ein Schutzort ist. Dazu gehört auch, dass wir klare Leitlinien haben, wie wir mit Hinweisen oder Vermutungen von sexualisierter Gewalt umgehen."

In Reaktion auf die Studie werde nun eine unabhängige regionale Kommission für die vertiefende Weiterverarbeitung der Studienergebnisse eingerichtet. Ziel seien weitere quantitative Erhebungen von Fällen sexualisierter Gewalt sowie Analysen zur Identifikation von Strukturen, die sexualisierte Gewalt ermöglichen.

Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz: "Wichtiger Schritt zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt"

„Es ist entscheidend, dass mit dieser Studie die Perspektive der Betroffenen in die Mitte rückt", sagte Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Ebenso der "entwürdigende Umgang mit betroffenen Menschen, die so oft die Erfahrung machen mussten, dass sie nicht gehört wurden". Darum müsses jetzt und in Zukunft gehen, "dass endlich nicht mehr die Institution gedeckt wird, sondern von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen gehört werden und alle Hilfe und Unterstützung erhalten." Der sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche sei "unerträglich".

Insgesamt sind 116 von sexualisierter Gewalt betroffene Personen und 41 beschuldigte Personen gemeldet worden. Unter den beschuldigten Personen sind 39 Pfarrer und zwei privatrechtlich angestellte Mitarbeiter der Kirche. Einer der Fälle reicht bis in das Jahr 1925 zurück. In allen gemeldeten Fällen handelt es sich um männliche Einzeltäter.

Bezüglich der Verfolgung der Taten werde zwischen dem innerkirchlichen Disziplinarrechtsweg und dem staatlichen Strafverfahren der Strafverfolgungsbehörden unterschieden. Gegen 29 Beschuldigte wurden innerkirchliche Disziplinarverfahren eingeleitet, gegen  22 Beschuldigte wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet.

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

„Sexualisierte Gewalt zu bekämpfen, betroffenen Personen Recht zu verschaffen und ihr Leid anzuerkennen, ist der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und auch mir persönlich seit vielen Jahren ein besonderes Anliegen“ erklärte Dr. Volker Jung, Kirchenpräsident der EKHN. Der Kirchenpräsident stellt aber auch fest, dass die ForuM-Studie "erschreckende Hinweise auf institutionelles Versagen gibt."

Jung versichert, dass in der EKHN die Studienergebnisse genau studiert werden. Mit der EKD und dem Beteiligungsforum zusammen sollen Ableitungen getroffen werden. "Diese Ergebnisse werden uns helfen, Risiken in unseren kirchlichen Strukturen zu erkennen und in unsere Schutzkonzepte einzuarbeiten..


Quellen: ForuM/ErK/Lippe/EKvKW/KonfEN/Bremen/EKiR/EKvW/EKM/EKiBa/EKHN/

Zu den Ergebnissen ForuM-Studie