Die Erhöhung der Niedrigen: Marias Magnificat in Luthers und Calvins Auslegung

Ein Weihnachtsimpuls

Marienstatue am Marienhospital Stuttgart © Thomas Tews

In Luthers und Calvins Auslegung des als „Magnificat“ bekannten Lobgesanges der schwangeren Maria richtet die beginnende Geburtsgeschichte Jesu den Blick auf die sonst oft ungesehenen belasteten Menschen ein jeder Gesellschaft.

Laut Lukasevangelium wurde Maria durch den Engel Gabriel angekündigt, dass sie durch Wirkung des Heiligen Geistes schwanger werden würde (Lk 1,26–38). Sowohl in der Übersetzung der auf die Reformation Huldrych Zwinglis zurückgehenden Zürcher Bibel in der Fassung von 2007 als auch in der Übersetzung der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 2017 spricht der Engel zu Maria: „Sei gegrüßt, du Begnadete“ (Lk 1,28, LU17/ZÜ). Den Gotteszuspruch „Begnadete“ übersetzte Martin Luther ursprünglich mit „Holdselige“, was „mit Gottes Zuneigung Beglückte“ („Huld“ = Zuneigung; „selig“ = glücklich) bedeutet.

Etwas weiter überliefert das Lukasevangelium einen Lobgesang Marias (Lk 1,46–55), der nach dem ersten Wort des lateinischen Vulgatatextes „Magnificat“ genannt wird und im Lied der Hanna (1. Sam 2,1–10) sein literarisches Vorbild hat. In diesem Gebet antwortet die mit Jesus schwangere Maria auf die Seligpreisung durch ihre Verwandte Elisabeth:

„Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd. Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter, denn Großes hat der Mächtige an mir getan. Und heilig ist sein Name, und seine Barmherzigkeit gilt von Geschlecht zu Geschlecht denen, die ihn fürchten. Gewaltiges hat er vollbracht mit seinem Arm, zerstreut hat er, die hochmütig sind in ihrem Herzen, Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen. Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen und seiner Barmherzigkeit gedacht, wie er es unseren Vätern versprochen hat, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“ (Lk 1,46–55, ZÜ)

Zu Luthers und Zwinglis Zeit wurde das Magnificat täglich gebetet und war einer der meistgelesenen oder rezitierten Bibeltexte, dem auch die Theologen große Aufmerksamkeit widmeten. Luther teilte und verteidigte diese Hochschätzung ausdrücklich und begann deshalb im November 1520 seine Übersetzungs- und Interpretationsschrift „Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt“. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits mit dem Bann bedroht und wenig später, am 20. Dezember desselben Jahres, verbrannte er die Bannandrohungsbulle. Am 2. April des darauffolgenden Jahres brach er zum Reichstag in Worms auf, der ihn in die Acht erklärte, woraufhin er am 4. Mai auf die Wartburg gebracht wurde, wo er sich wieder dem Magnificat zuwenden konnte.

In einem Moment der Unsicherheit sowie heftiger Kontroversen zu seiner theologischen Anthropologie mit dem Löwener Theologen Jacobus Latomus versenkte sich Luther in Marias Lobgesang, einen mystisch-spirituellen Text, der zu Polemik und Kontroverse gänzlich ungeeignet ist. Als Seelsorger und Reformator verdeutschte und deutete er das Gebet der Mutter Jesu für die Laien, für deren Trost und Seligkeit er sich verantwortlich fühlte, und widmete die Schrift dem achtzehnjährigen Herzog Johann Friedrich, der als Neffe des kinderlosen Kurfürsten von Sachsen später einmal die Regierung übernehmen sollte, als Dank für den Schutz durch dessen Dynastie, vor allem aber zur religiösen Festigung und Erziehung des zukünftigen Herrschers nach Art eines Fürstenspiegels („dies heilige Lied der hochgesegneten Mutter Gottes, das wahrhaftig allen, die gut regieren und heilsam Herren sein wollen, gut zu lernen und zu behalten ist“). Die von Luther auf der Wartburg fertiggestellte Schrift erschien Ende August oder Anfang September 1521 im Druck.

Für Luther stellt „dies ewige Magnificat“ „ein geistliches, reines, heilsames Lied“ dar. Daher sei es „auch kein unbilliger Brauch, dass in allen Kirchen dies Lied täglich in der Vesper gesungen“ werde. Luther zufolge kreist das Magnificat um den Gedanken, dass Gott das Gewaltige niederwirft und das Niedrige erhöht (ein für eine einem Fürsten gewidmete Schrift durchaus kritisches Thema). In seiner Auslegung stellt Luther Maria zu den Niedrigen, die allein durch Gottes Gnade erhöht würden, denn Gott erwähle eben das Niedere und nicht das Hohe. Dieses Sein bei den Niedrigen habe Maria auch nach dem Empfang der großen Verheißung beibehalten.

Luther vertritt die Auffassung, dass in ihrem „heiligen Lobgesang“ „die hochgelobte Jungfrau Maria aus eigner Erfahrung redet, in der sie durch den heiligen Geist ist erleuchtet und gelehrt worden“:

„Als sie in sich selbst erfahren hat, dass Gott in ihr so große Dinge wirkt, wo sie doch gering, unangesehen, arm und verachtet gewesen, lehrt sie der heilige Geist diese reiche Kunst und Weisheit, dass Gott ein solcher Herr sei, der nichts anderes zu schaffen habe, denn nur erhöhen, was niedrig ist, erniedrigen, was da hoch ist, und kurzum: zerbrechen, was da ist gemacht, und machen, was zerbrochen ist.“

Aus Marias Deklaration ihrer eigenen „Niedrigkeit“ (V. 48) leitet Luther ab, dass Maria niederer Herkunft gewesen sei:

„Denn weil sie mit fröhlichem, springendem Geist hier sich rühmt und Gott lobt, er habe sie angesehen, obwohl sie niedrig und nichts gewesen sei, muss man glauben, dass sie arme, verachtete, geringe Eltern gehabt. Und dass wir’s vor die Augen bilden um der Einfältigen willen: Es sind ohne Zweifel zu Jerusalem der obersten Priester und Ratsherren Töchter reich, hübsch, jung, gelehrt und in höchsten Ehren gehalten gewesen im Ansehen des ganzen Landes wie jetzt der Könige, Fürsten und Reichen Töchter. Ebenso auch in noch vielen anderen Städten. Auch zu Nazareth, in ihrer Stadt, ist sie nicht der obersten Regenten, sondern eines einfachen, armen Bürgers Tochter gewesen, auf welche niemand groß gesehen noch acht gehabt. Und sie ist unter ihren Nachbarn und deren Töchtern ein einfaches Mädchen gewesen, das des Viehes und Hauses gewartet hat, ohne Zweifel nicht anders, als jetzt eine arme Hausmagd sein mag, die tut, was man sie im Haus zu tun heißt.“

Dabei betont Luther, dass mit „Niedrigkeit“ (im lateinischen Vulgatatext „humilitas“) nicht Demut, sondern eine geringe soziale Stellung gemeint sei:

„Das Wörtlein humilitas haben etliche hier zur Demut gemacht. Als hätte die Jungfrau Maria ihre Demut angegeben und sich ihrer gerühmt. […] Wie sollte man denn soviel Vermessenheit und Hochmut dieser reinen, richtigen Jungfrau zuschreiben, dass sie sich vor Gott ihrer Demut rühmte, welche die allerhöchste Tugend ist. Und niemand achtet oder rühmt sich als demütig, als wer der Allerhochmütigste ist. Gott allein erkennt die Demut, richtet und offenbart sie auch allein, so dass der Mensch niemals weniger von der Demut weiß, als eben wenn er recht demütig ist. Der Schrift Brauch ist, dass sie humiliare nennt erniedrigen und zunichte machen. Und darum heißen die Christen in der Schrift an vielen Orten arme, nichtige, verworfene Leute. Wie Ps. 116,10: ‚Ich bin gar sehr zunichte geworden oder erniedrigt.‘ So ist humilitas nichts anderes als ein verachteter, unangesehener, niedriger Stand und Wesen, als da sind die armen, kranken, hungrigen, durstigen, gefangenen, leidenden und sterbenden Menschen.“

Dass von diesem „geringen, armen Mädchen“, das „Herrn Hannas’ und Kaiphas’ Töchter nicht hätten für würdig erachtet, ihre geringste Magd zu sein“, Christus geboren werden sollte, war Luther zufolge „nicht vorauszusehen“. Hier zeige sich der große Unterschied zwischen den Menschen, die ihre Augen vor dem Elend verschlössen, und Gott, der hinsehe:

„Wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, da läuft jedermann davon, da flieht, da scheut, da lässt man sie und denkt niemand, ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, dass sie auch etwas sind. Müssen also in der Tiefe und der niedrigen, verachteten Masse bleiben. […] Darum bleibt Gott allein solches Hinsehen vorbehalten, das in die Tiefe, die Not und den Jammer sieht und ist nah allen denen, die in der Tiefe sind. […] Wo aber erfahren wird, wie er ein solcher Gott ist, der in die Tiefe sieht und nur hilft den Armen, Verachteten, Elenden, Jämmerlichen, Verlassenen und denen, die gar nichts sind, da wird er einem so herzlich lieb. Da geht das Herz über vor Freuden, hüpft und springt vor großem Wohlgefallen, das es in Gott empfangen hat.“

Wie schon bei V. 48 legt Luther auch bei V. 52 Wert auf die Unterscheidung zwischen „niedrig“ und „demütig“, wobei die „Niedrigen“ durchaus demütiges Verhalten an den Tag legen könnten:

„Niedrige sollen hier nicht heißen die Demütigen, sondern alle, die vor der Welt ohne Ansehen sind und ganz nichtig. […] Doch welche von Herzen gern so niedrig und nichtig sind und suchen nicht, hoch zu sein, die sind gewiss demütig. Das Erheben ist nun nicht so zu verstehen, dass er sie in die Stühle und an die Statt derer setzte, die er abgesetzt hat. […] Sondern er gibt ihnen viel mehr: dass sie in Gott und geistlich erhoben über Stühle und Gewalt und alle Gelehrsamkeit Richter werden, hier und dort. […] Es ist alles zum Trost den Leidenden und zum Schrecken den Tyrannen gesagt, wenn wir soviel Glauben hätten, dass wir’s für wahr hielten.“

Im Unterschied zu Luther unterschied sein Zürcher Reformatorenkollege Zwingli in einem im Jahre 1522 verfassten Predigttext nicht zwischen „Niedrigen“ und „Demütigen“, sondern setzte sie gleich:

„Es ist die Art des Gotteswortes, die Gewaltigen in ihrem Hochmut zu erniedrigen und den Demütigen gleich zu machen. So singt die Jungfrau Maria: ‚Er hat die Gewaltigen von seinem Stuhl gestoßen und die Demütigen erhöht.‘“

Dagegen folgte Luthers Genfer Reformatorenkollege Johannes Calvin, der Maria als „Lehrmeisterin“ des Glaubens charakterisierte, in seinen Ausführungen über „das schöne und denkwürdige Lied der heiligen Jungfrau“ der lutherschen Interpretation, dass mit „Niedrigkeit“ nicht Demut, sondern eine geringe soziale Stellung gemeint sei:

„Maria erklärt, weshalb die Freude ihres Herzens in Gott gegründet ist, weil er sie nämlich gnädig angesehen hat. Indem sie sich selbst niedrig nennt, entsagt sie aller eigenen Würdigkeit, damit die unverdiente Güte Gottes allein den Ruhm habe. Das Wort Niedrigkeit ist hier nicht in dem Sinn von Demut oder Bescheidenheit gebraucht, sondern bedeutet soviel wie niedrige oder unangesehene Stellung. Die Meinung ist also: dass ich unbekannt und ungenannt in der Welt war, hat Gott nicht abgehalten, nach seiner Gnade auf mich herabzublicken.“

In seiner Auslegung von V. 52 erblickt Calvin in den „Niedrigen“ ähnlich wie Luther die „Geringen“, „Schwachen“ und „Unbekannten“:

„Die Mächtigen werden vom Thron gestoßen, damit die Unbekannten und Geringen an ihren Platz kommen. So frohlockt Maria. […] Jetzt begreifen wir, weshalb Maria sagt, Gott stoße die Gewaltigen vom Thron und erhebe die Schwachen.“

Nach Luthers und Calvins Auslegung von Marias Magnificat dürfen sich also alle Niedriggestellten durch die Geburt Jesu in armen, verachteten Verhältnissen gesehen und getröstet fühlen sowie Hoffnung schöpfen. Für sie vermag Jesu Geburtsgeschichte eine gute Nachricht und Grund zur Freude zu sein, so wie es Luther im Jahre 1535 in lyrischer Form zum Ausdruck brachte: „Euch ist ein Kindlein heut geborn / von einer Jungfrau auserkorn, / ein Kindelein so zart und fein, / das soll eu’r Freud und Wonne sein.“ (EG 24,2)

 

Literatur und Quellen:

  • Johannes Calvin: Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe. In Zusammenarbeit mit anderen hrsg. von Otto Weber. Band 12: Die Evangelien-Harmonie. 1. Teil. Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 1966.
  • Hans Grass: Traktat über Mariologie. Marburger Theologische Studien 30. Elwert, Marburg 1991.
  • Martin Luther: Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt. 1521. In: Martin Luther: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling. Band 2: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie. Insel, Berlin 2016, S. 115–196.
  • Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. 4. Auflage der Sonderausgabe. C.H.Beck, München 2017.
  • Huldrych Zwingli: Die Klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes (September 1522). In: Peter Opitz/Ernst Saxer (Hrsg.), Zwingli lesen. Zentrale Texte des Zürcher Reformators in heutigem Deutsch. Unter Mitwirkung von Judith Engeler. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2018, S. 31–73.
  • Evangelisches Gesangbuch. Antwort finden in alten und neuen Liedern, in Texten und Bildern. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg. 3., durchgesehene Auflage. Gesangbuchverlag Stuttgart, Stuttgart 2022.
  • Sein Wort – Meine Welt. Die Studienbibel für das 21. Jahrhundert. Elberfelder Bibel. 4. Auflage. SCM R. Brockhaus, Holzgerlingen 2024.
  • Stuttgarter Erklärungsbibel. Lutherbibel mit Einführungen und Erklärungen. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2023.
  • Zürcher Bibel. 2007. 3. Auflage. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2020.

Thomas Tews