Dennoch

Predigt zu Psalm 73

© Pixabay

Von Sylvia Bukowski

Liebe Gemeinde,

Mein heutiger Predigttext ist der 73. Psalm. Er ist ein Psalm gerahmt von dem Wort Dennoch: Gott ist dennoch Israels Trost für alle, die reinen Herzens sind, heißt es im 1. Vers. Und der Schluss wird eingeleitet von dem Bekenntnis: Dennoch bleibe ich stets an dir, Dennoch. Wir würden heute sagen: Trotzdem. Trotz allem. Dieser Psalm ist in der Tat ein Trotzpsalm – und zugleich ist er ein Trostpsalm.

Das Tröstliche an ihm kommt am deutlichsten in der Begründung für das letzte Dennoch zur Sprache. Da heißt es: Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an.

Diesen Satz kennen Sie vielleicht auswendig, haben ihn vielleicht einmal als Konfirmationsspruch bekommen. Aber wogegen muss sich das Dennoch, das trotzdem eigentlich behaupten? Den Inhalt des ganzen Psalms haben in der Regel nur wenige vor Augen. Auch im Gesangbuch ist nur der letzte, tröstliche Teil abgedruckt, nicht das, wogegen sich der Glaube trotzig behaupten muss. Dabei werden Sie merken, dass die Zustände, die in den Versen 2-12 beschrieben werden auf beklemmende Art aktuell sind und auch viele von uns im Glauben verunsichern.

2 Ich aber wäre fast gestrauchelt mit meinen Füßen; mein Tritt wäre beinahe geglitten.
3 Denn ich ereiferte mich über die Ruhmredigen, da ich sah, dass es den Frevlern so gut ging.
4 Denn für sie gibt es keine Qualen, gesund und feist ist ihr Leib.
5 Sie sind nicht in Mühsal wie sonst die Leute und werden nicht wie andere Menschen geplagt.
6 Darum prangen sie in Hoffart und hüllen sich in Frevel.
7 Sie brüsten sich wie ein fetter Wanst, sie tun, was ihnen einfällt.
8 Sie höhnen und reden böse, sie reden und lästern hoch her.
9 Was sie reden, das soll vom Himmel herab geredet sein; was sie sagen, das soll gelten auf Erden.
10 Darum läuft ihnen der Pöbel zu und schlürft ihr Wasser in vollen Zügen.
11 Sie sprechen: Wie sollte Gott es wissen? Wie sollte der Höchste etwas merken?
12 Siehe, das sind die Frevler; die sind glücklich für immer und werden reich.

Ich habe vorhin gesagt, dass Vieles von dem, was hier beschrieben wird, immer noch aktuell ist. Sie alle könnten wahrscheinlich Geschichten erzählen von Menschen, die sich über alle Regeln hinwegsetzen, wenn es um den eigenen Vorteil oder um die eigene Karriere, um die eigene Beliebtheit geht. Und dabei haben diese Leute meistens nicht einmal ein schlechtes Gewissen, sondern leben völlig unbehelligt und im Reinen mit sich, dazu oft in hohen Positionen. Solchen Menschen begegnet man manchmal im persönlichen oder beruflichen Umfeld. Noch eher kennt man sie aus dem öffentlichen Leben, speziell der Politik.

Ein besonders krasses Beispiel ist da in meinen Augen der gegenwärtige Präsident der USA. Völlig skrupellos setzt Trump seine Interessen durch. 1000ste Mitarbeiter staatlicher Behörden werden von einem Tag auf den anderen gefeuert, erhalten oft nur durch eine läppische e-mail ihre Kündigung. Migranten müssen täglich bangen, abgeholt und abgeschoben zu werden, Kinder sogar mitten aus dem Unterricht heraus, und die Ärmsten der Armen, die von der USAid, sprich der amerikanischen Entwicklungshilfe abhängig sind, erhalten plötzlich keine Unterstützung, vor allem keine lebensnotwendigen Medikamente mehr.

Recht und Gesetz? Für Trump gilt nur das Recht des Stärkeren. Das Schicksal der Menschen, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, interessiert ihn und sein serviles Gefolge nicht die Bohne. Barmherzigkeit, wie sie die Bischöfin bei der Amtseinführung angemahnt hat: Für Trump ein Fremdwort. Wie der Psalm sagt: „Sie achten alles für nichts. Sie brüsten sich wie ein fetter Wanst und tun, was ihnen einfällt.

So beschreibt der Psalm, was die Gottlosen ausmacht. Wir denken bei diesem Ausdruck zuerst an Atheisten. Im hebräischen kommt aber gleich heraus, was eigentlich gemeint ist: Die reschajim sind die skrupellosen Egomanen, die größenwahnsinnigen Menschenverächter, die nach ihrem eigenen Belieben Gewalt ausüben und das Leid anderer locker in Kauf nehmen. Und die ihre Untaten oft auch noch mit einem heiligen Zweck verbrämen. „Was sie reden, soll vom Himmel herab geredet sein, was sie sagen, soll gelten auf Erden“.

Genau das ist das auch das besonders Verstörende bei den gefährlichen Machthabern unserer Zeit. Trump gibt sich ausgesprochen fromm. Gott selbst habe ihn erwählt, behauptet er nach dem überstandenen Attentat. Und auch der Kriegsherr Putin betet angeblich und zeigt sich gern in den Gottesdiensten der staatstreuen orthodoxen Kirche. Den Vorwurf, gottlos zu sein, würden beide Machthaber weit von sich weisen – und auf die anderen zeigen, die mit ihrer liberalen Lebensart, ihrem kritischen Denken, ihrer Weltoffenheit.

Verstörend ist auch, dass es immer Menschen gibt, die massenhaft solchen skrupellosen Anführern nachlaufen. Im Psalm werden sie Pöbel genannt, aber es sind beileibe nicht nur unterprivilegierte oder ungebildete Menschen, die sich von übler Propaganda und Hetze verführen lassen. Immer gibt es auch akademisch gebildete, hochintellektuelle Leute, die solchen Machthabern bereitwillig folgen, und die sich mit ihren besonderen Fähigkeiten für deren Machenschaften einspannen lassen. Das wissen wir nicht zuletzt auch aus unserer eigenen Geschichte.

Tag für Tag erfahren wir neue Ungeheuerlichkeiten. Tag für Tag machen uns die Nachrichten Angst. Was kommt noch alles auf uns zu? Wer die gegenwärtige Weltlage nicht einfach ausblendet, wen das Schicksal anderer Menschen nicht kalt lässt, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, gerät immer mehr an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Und vielleicht auch an die Grenzen seines Gottvertrauens. Die quälende Anfechtung, die der Psalmbeter durchmacht wird auf diesem Hintergrund, glaube ich gut verständlich.

Der fragt zuerst: was ist mit der alten biblischen Gewissheit, die lehrt, dass Gott es guten Menschen gutgehen lässt und dass er die Bösen bestraft? Die wird doch durch solche Erfahrungen von Ungerechtigkeit krass widerlegt. Durchschaut Gott die Bosheit der scheinheiligen Machthaber etwa nicht? Ist ihm gleichgültig, wenn Autokraten und Kriegstreiber die Grundfesten der Erde einreißen, wie es in Psalm 11 heißt.

Schläft er, wie in Ps 44 vermutet wird, oder warum verbirgt er sich so oft vor denen, die auf ihn hoffen? Wo bleibt Gottes heilsames Eingreifen, wo bleibt seine Gerechtigkeit? Die Psalmen sind voll von solchen Fragen und Klagen, und immer wieder drängen sie Gott, doch endlich seine Macht zu beweisen, aller Welt zu zeigen, dass er sich nicht spotten, sich nicht alles gefallen lässt? Und seien Sie ehrlich: wer könnte diesen Wunsch nicht nachvollziehen!

Angesichts seiner Zweifel an Gottes Verlässlichkeit fragt der Beter dieses Psalms dann auch: Soll es denn umsonst sein, dass ich mein Herz rein hielt und meine Hände in Unschuld wasche? Anders gesagt: hat es überhaupt Sinn, wenn ich die kleinen oder größeren krummen Sachen nicht mitmache, die alle machen? Lohnt es sich, aus Gewissensgründen berufliche Nachteile in Kauf zu nehmen, oder die eigene Beliebtheit aufs Spiel zu setzen? Ist nicht letztlich alles egal, weil Gott eh nicht darauf achtet?

Diese Fragen verschärfen sich für den Psalmbeter, weil er sie nicht aus einem komfortablen Sessel heraus stellt. Ihm geht schlecht. Er leidet. Nicht nur seelisch. Offenbar auch körperlich. „Ich bin täglich geplagt!“ klagt er. Warum schmeißt er dann seinen Glauben nicht hin? Hat er vielleicht doch irgendwo Antworten auf seine Fragen gefunden, oder neue Einsichten, die seine Zweifel vertreiben? Das scheint nicht der Fall. Er sagt: „So sann ich nach, ob ich`s begreifen könnte, aber es war mir zu schwer.“ Seine Fragen bleiben offen. Und sie bleiben es bis heute. Niemand kann ergründen, warum Gott zulässt, dass gute Menschen, ja, dass unschuldige Kinder leiden müssen, während es skrupellosen Machtmenschen oft so gut geht. Jede Antwort wäre eine Anmaßung, so als könnte ein Mensch Gottes geheimnisvolles Handeln ergründen.

Der Psalmbeter entscheidet sich für ein Dennoch, für ein Dabeibleiben trotz aller quälenden Fragen. Auch wenn er noch keine eigene Gewissheit erlangt hat, dass auf Gottes Gerechtigkeit trotz allem Verlass ist. Aber er bleibt in der Gemeinde, lässt sich dort tragen von den Worten der heiligen Schrift, an die sich Generationen vor ihm geklammert haben, singt die Lieder mit, die seiner aufgebrachten Seele Trost spenden, leiht sich im Gebet die Worte anderer, die fest im Glauben stehen und spricht sie vielleicht erstmal nur nach: dennoch bleibe ich stets an dir. Vielleicht dauert es, bis diese fremden Worte zu eigenen werden. Aber es ist immer gut, sich Trost und Trotzworte anderer zu leihen, wenn man keine eigenen hat, wenn die Fragen und Zweifel einem selbst die Sprache des Glaubens rauben. Auch geliehene Worte wirken. Und in der Kraft des heiligen Geistes können sie irgendwann zu eigenen Worten werden, zu Worten, die ich aus tiefster Überzeugung nachsprechen kann.

Sie sehen: Die Gemeinde ist wichtig. Sie ist wichtig für Menschen, die wie der Psalmbeter am Zustand unserer Welt verzweifeln. Die Gemeinde kann die, die angefochten sind, tragen. Sie kann mit ihnen gemeinsam ein Dennoch einüben. Ein trotz allem dabeibleiben. Nicht, weil alles doch nicht so schlimm ist. Sondern weil es Grund gibt, zu hoffen, dass Gott sich und seinen Versprechen treu bleibt, dass er sich nicht vereinnahmen lässt von den Einflussreichen mit ihrem scheinheiligem Gerede. Gott bleibt an der Seite der Empfindsamen, er hört die Klagen der Gedemütigten und sammelt die Tränen der verzweifelten in seinem Krug. Gott bleibt trotz allem, was dagegen spricht, der Trost derer, die reinen Herzens sind. Das kann die Gemeinde bezeugen. Und Angefochtene mitnehmen in die Hoffnung: du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an.

Die Gemeinde ist wichtig. Sie als Gemeinde sind wichtig.

Glauben braucht die Gemeinschaft der Gemeinde, um nicht zu zerbrechen. Er braucht die gemeinsame Erinnerung an die Geschichte Gottes mit den Seinen, er braucht die gemeinsamen Lieder, die tiefer reichen als gesprochene Worte, er braucht das gemeinsame Gebet und er braucht die gemeinsam gelebte Glaubenspraxis. Nur gemeinsam kann man den großen Verunsicherungen unserer Zeit mit Gottvertrauen trotzen.

Noch eine Anmerkung zu einem verstörenden Vers am Ende des Psalms. Es mag aus der Situation des Psalmbeters verständlich sein, dass er hofft, Gott werde alle skrupellosen Machtmenschen aus der Welt schaffen und sie umbringen. Solche finsteren Wünsche mögen auch wir manchmal haben. Aber die Bibel lehrt: Gott hat andere Wege: Er wird die gewissenlosen Menschen zu sich bekehren, wird ihr steinernes Herz in ein menschliches, in ein empfindsames Herz verwandeln. Gott wird sie sie zu neuen Menschen machen. Also nicht auf die Vernichtung böser Menschen sollen wir hoffen, sondern auf die Vernichtung menschlicher Bosheit, von der wir ja selbst auch nicht frei sind. Sie kann nicht immer weiter Leben zerstören. Sie hat keine Zukunft. Dafür steht Gott ein. Das Kreuz und die Auferweckung seines Sohnes besiegeln diese Hoffnung. Sie ist der Grund für das Dennoch. Das ist der Grund für einen trotzigen und getrosten Glauben. Ihn möge Gott uns in diesen unsicheren Zeiten schenken.


Sylvia Bukowski