Interviewerin: Monsieur Calvin, in unserem Gesprächskreis haben wir uns in den vergangenen Monaten ausführlich mit Ihrem Leben und Ihrem Werk beschäftigt. Daher ist es mir eine große Freude, Sie heute persönlich hier begrüßen zu dürfen.
Calvin: Die Freude ist ganz meinerseits, Madame. Ich bin gern in diese wunderbar schlichte Kirche gekommen und schon sehr gespannt auf Ihre Fragen.
Interviewerin: Und die erste zielt gleich auf Ihr Lebenswerk. Wenn Sie auf diese 500 Jahre zurückblicken, worin liegt Ihrer Meinung nach Ihr bleibender Verdienst?
Calvin: Nun, von „Verdienst“ spreche ich in Bezug auf meine Person nicht so gern. Ich habe mich stets darum bemüht, Gott die Ehre zu geben und durch meinen bescheidenen Beitrag seinen Ruhm in dieser Welt zu mehren. In der Rückschau würde ich vor allem drei Dinge hervorheben: ich denke, ich habe viel dafür tun können, Menschen aus ihrer Unmündigkeit herauszuholen und sie zu verantwortlichen und aufrechten Christenmenschen zu machen; ich glaube zweitens, dass mein Werk zu demokratischen Kirchenstrukturen in vielen Ländern geführt hat, in denen gegenseitiger Dienst ohne Herrschaft der einen über die anderen im Zentrum steht; das hat dann gewiss auch zur Entwicklung staatlicher Demokratie beigetragen. Und drittens schließlich habe ich mich zeit meines Lebens dafür eingesetzt, dass Christsein nicht nur sonntags in der Kirche stattfindet, sondern an jedem Tag und an jedem Ort; und dass der Staat dafür zu sorgen hat, dass solches Christsein ungehindert gelebt werden kann. Diese Betonung auf der „Heiligung“ der Lebens-führung spielt bis heute eine große Rolle in den Kirchen, die sich auf mich berufen.
Interviewerin: Manch einer würde als viertes vermutlich noch Ihre Bedeutung für die Entstehung des Kapitalismus nennen …
Calvin: … ach, das ist oft stark übertrieben worden. Wobei ich aber sicher Wert darauf gelegt habe, dass jeder seine von Gott geschenkten Gaben auch wirklich investiert und vermehrt und sie nicht im Boden vergräbt – um mit dem biblischen Gleichnis zu sprechen. Und das haben andere dann weitergedacht und auf weitere Lebensbereiche übertragen.
Interviewerin: Viele Menschen stoßen sich an Ihrer Lehre von der „doppelten Prädestination“. Sie besagt, dass das Geschick eines jeden Menschen von Gott vorherbestimmt ist – seine Erwählung ebenso wie seine Verwerfung. Warum liegt Ihnen so viel daran?
Calvin: Darüber könnten wir jetzt sehr, sehr lange reden. Ich möchte hier dazu nur so viel sagen: Ich denke einfach, man muss sich trauen, Dinge zu Ende zu denken. Das habe ich versucht. Sehen Sie, wenn Gott allmächtig ist, und wenn der Glaube ein Geschenk von ihm ist, ohne Zutun des Menschen, dann stoßen Sie, wenn Sie es weiterdenken, irgendwann logischerweise auf die Frage nach der Erwählung und, pardon, auch nach der Verwerfung des Menschen.C´est la vie.
Interviewerin: Aber warum nicht nur die Erwählung? Warum muss es auch eine Verwerfung geben?
Calvin: Ach, Sie meinen, Erwählung für alle? Das können Sie nicht wirklich wollen, wenn Sie sich das Elend in der Welt anschauen und die, die dafür verantwortlich sind. Nein, Madame, der ewige Gott lässt nicht mit sich spaßen.
Interviewerin: Nun, nach so viel Theologie würde ich an dieser Stelle gerne einen Schritt zurückgehen und einen Blick auf die Anfänge Ihres Lebens werfen. Geboren wurden Sie am 10. Juli 1509 in der Kleinstadt Noyon in Nordfrankreich. Vielleicht erzählen Sie uns etwas über Ihre Familie?
Calvin: Heute würde man sagen: Man Vater war ein sozialer Aufsteiger. Er hat es bis zum Sekretär des Bischofs gebracht. Sein Vater, mein Großvater, war noch Flussschiffer gewesen. Meine Mutter war eine Gastwirtstochter. Meine Eltern haben sehr viel dafür getan, dass aus mir etwas wird.
Interviewerin: In Ihrer Jugend galten Sie als Streber …
Calvin: Nun, ich wusste, was ich meinen Eltern schuldig war. Und ich wusste auch, dass Bildung ein hohes Gut ist, mit dem man die Welt verändern kann.
Interviewerin: Es heißt, man habe Sie „accusativus“ gerufen, was man als „Ankläger“ übersetzen kann - oder auch schlicht als „Petze“.
Calvin: Ach, das ist so lange her, daran erinnere ich mich nicht mehr.
Interviewerin: Im Jahre 1534 mussten Sie aus Frankreich fliehen. Wie war es dazu gekommen?
Calvin: 1533 hatte ich mich den Evangelischen zugewandt. Die Einsicht Martin Luthers und seiner Freunde, dass der Glaube allein selig macht, dass allein die Gnade zählt, allein die Schrift und allein Jesus Christus, das wurde zu meinem Bekenntnis. Familiäre Gründe kamen auch noch dazu: die schäbige Art und Weise, wie der Bischof mit meinem Vater umging. Nun, als ich dann gemeinsam mit anderen an der Pariser Sorbonne Werbung für die evangelische Sache machte, wurde das dem König zu gefährlich. Er ließ viele von uns verhaften. Mit etlichen anderen bin ich dann aus meiner Heimat geflohen.
Interviewerin: Und nach manchen Umwegen landeten Sie schließlich in Genf.
Calvin: So ist es, und ich bin dem Genfer Magistrat bis heute dankbar für das große Vertrauen, das er mit, dem Fremden, entgegengebracht hat. Die Stadt Genf mit ihrer freien eidgenössischen Verfassung war für mich der ideale Ort, um meine Ideen von einer christlichen Gesellschaft in die Tat umzusetzen. Von 1541 bis zu meinem Tod 1564 habe ich dort gelebt und gearbeitet.
Interviewerin: Ihre Frau Idelette de Bure ist ja sehr früh gestorben …
Calvin: Ja, und daran habe ich sehr schwer getragen – wie auch am frühen Tod unseres Sohnes. Ich habe mich dann um die beiden Kinder aus der ersten Ehe meiner Frau gekümmert. Und ich bin wohl auch in die Arbeit geflüchtet damals.
Interviewerin: Überhaupt galten Sie ja als „Workaholic“, und man sagt, dass Sie, mit Verlaub, nicht eben ein „Spaßmacher“ waren.
Calvin: Nun, Humor war wohl eher nicht meine Stärke, das ist wahr. Und Pflichterfüllung war für mich sehr wichtig. Wobei ich mit meinen Freunden durchaus auch lachen konnte. Ich muss aber zugeben, dass spöttische Ironie mir eher lag. Na ja, auch ich hatte eben meinen Anteil an der Arroganz der Intellektuellen …
Interviewerin: Sie haben einmal über einen Ihrer Gegner gesagt, ich zitiere: „Seine ausgerülpsten Verleumdungen können mich nicht mehr erschüttern als das Bellen eine Hundes vom Misthaufen.“
Calvin: lacht … Na, wir waren damals alle hart im Austeilen und Einstecken. Was meine Gegner über mich alles geschrieben haben!
Interviewerin: Und davon ja doch auch manches zu recht, Monsieur Calvin. Ich muss da eine Sache ansprechen, die bis heute einen dunklen Schatten auf Ihren Charakter wirft
Calvin: Sie meinen den Ketzer Servet, nehme ich an.
Interviewerin: Ich spreche in der Tat von Michel Servet. Wie konnten Sie nur einen Mann wegen Bestreitens der göttlichen Trinität auf den Scheiterhaufen schicken?
Calvin: Das, Madame, war damals ein staatliches Gesetz, und nicht nur in Genf. Und ich bin bis heute der festen Überzeugung, dass Atheismus an die Grundfesten der Gesellschaft rührt und der Staat die Pflicht hat, ihm entgegenzuwirken. Es ist allzu leicht, von heute aus auf meine Zeit zu blicken und sich über uns Damalige zu erheben. Servet war ein notorischer Querulant und Störenfried.
Interviewerin: Hätten Sie denn nicht einfach für seine Ausweisung plädieren können?
Calvin: Damit er woanders sein Gift verströmt? Nein, das wäre keine Lösung gewesen.
Interviewerin: Nun, ich sehe schon, in dieser Sache werden wir einander jetzt nicht näher kommen.
Calvin: So sieht es aus, ja.
Interviewerin: Gehen wir zum Schluss doch noch einmal auf weniger schwieriges Terrain. Auf den Bildern, die es von Ihnen gibt, schauen Sie immer so furchtbar ernst. Wie kommt das eigentlich?
Calvin: Nun, ich musste eine große Verantwortung tragen und habe viel gearbeitet. Hinzu kommt, dass ich – vor allem in meinen letzten Lebensjahren – unter vielen Krankheiten litt, die mir das Leben vergällt haben.
Interviewerin: Irgendwo habe ich gelesen, dass Sie – entgegen dem Bild, das viele von Ihnen haben – dem Wein wie auch dem Spiel durchaus nicht abgeneigt waren.
Calvin: Das ist wahr. Doch alles in Maßen. Ein Gläschen Wein habe ich nie verschmäht, und eine schöne Partie Billard …
zieht einen Schlüsselbund hervor
Am liebsten war mir aber das Schlüsselspiel. Wenn Sie möchten, kann ich es Ihnen gern erklären.
Interviewerin: Ich denke, dazu wäre nachher beim Kirchenkaffee eine wirklich gute Gelegenheit. – Monsieur Calvin, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch und dass Sie sich die Zeit genommen haben, zu uns zu kommen.
Calvin: Sehr gern. Adieu, Madame.