Der Gastgeber wird aufgefordert, da, wer sich selbst erhöht, erniedrigt werden soll, und wer sich selbst erniedrigt, erhöht werden soll, diejenigen einzuladen, die es ihm nicht vergelten können: „Wenn du ein Mittags- oder Abendmahl machst, so lade weder deine Freunde noch deine Brüder noch deine Verwandten noch reiche Nachbarn ein, damit sie dich nicht etwa wieder einladen und dir vergolten wird. Sondern wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein, dann wirst du selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten; es wird dir aber vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten.“
Hier werden Behinderte zu „Demonstrationsobjekten“ funktionalisiert, zu „Prüfsteinen der Moralität der anderen“. Dies sei „eine – sanfte? – Art der Ausnutzung, selbst wenn zuweilen die Missbrauchten Profit daraus schlagen.“ (vgl. Krahe, 44f.)
Behinderung als „alternative Lebensform“ wahrzunehmen gelingt nur wenigen biblischen Protagonisten. Neben Isaak mit seiner Blindheit, Jakob mit seinem Hüftleiden, Mose mit seiner Sprachbehinderung und Ezechiel mit seiner Geisteskrankheit zählt Krahe zu ihnen auch Paulus mit seiner unbenannten Krankheit. Hinter ihr könnte sich eine Epilepsie verbergen. Der Apostel redet seinen „Stachel im Fleisch“ (2. Kor 12,7), seine chronische Krankheit, nicht klein, er kompensiert seine körperliche Schwäche nicht mit geistiger Stärke und erhofft sich auch keine (jenseitige) Belohnung als Ausgleich. Paulus sage nämlich nicht, „er sei gegen allen Anschein und Augenschein stark. Er behauptet seine Stärke nicht, obwohl er schwach ist. Er sucht keinerlei Ausgleich oder Belohnung. Er zählt auch keine Stärken auf, die eine solche Kompensation nahe legen könnten, beruft sich nicht auf seelisch-geistige Leistungen, die seine schwache Körperlichkeit in den Schatten stellen.“ (Krahe, 51)
Nur „indem“ und „wofern“ Paulus schwach ist, „wird die Kraft Gottes sichtbar, die von außen und für die anderen durchaus unsichtbar bleiben kann“ (ebd.).
Das „Lebensmotto des Apostels“: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (2. Kor 12,10), deutet Krahe als „strategische Aussage“:
„Es drückt keine Hoffnung, keine Zukunftsvision, keine Regel des erwarteten Gottesreichs aus, es ist auch keine Philosophie. Vielmehr will es in einer Situation, da irgendwelche ‚Überapostel’ die Korinther für sich gewinnen und sich selbst gegen den Schwächling Paulus ausspielen, diesen Schwächling außer Konkurrenz platzieren und mit den Augen Gottes sehen lassen. Es ist Taktik, die aber weder mit Mitleidsbonus noch mit Koketterie arbeitet.“ (Krahe, 51)
Diese „paulinische Rechtfertigung des Gebrechlichen“ mache deutlich, was Gottes Gnade heißt:
„Sie wirft die Normalurteile über Kranksein und Gesundsein, über wertvolles und unwertes Leben über den Haufen. Sie revolutioniert die Maßstäbe des Menschseins vielleicht noch radikaler als der Schöpfungsgedanke. Die Behinderung des ersten wirklichen Theologen entspricht der Paradoxie, die zur Substanz dieses Glaubens gehört.“ (Krahe, 51)
Von Jesus Christus ausgesprochen heißt diese Paradoxie: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Kor 12,9).
Quelle:
(1) Krahe, Susanne, Sonderanfertigung oder Montagsmodell? Behinderte Menschen in der Bibel, in: Grenzen in einem weiten Raum. Theologie und Behinderung, hg. von Gottfried Lutz und Veronika Zippert. Eine Publikation des Konvents von behinderten SeelsorgerInnenen und BehindertenseelsorgerInnen e.V. (kbS), Leipzig 2007, 33–52.