Dr. Michael Volkmann, Pfarrer für das Gespräch zwischen Christen und Juden, Bad Boll, schreibt im Ölbaum online (der ganze Rundbrief ist online zu lesen unter: www.agwege.de):
Ein Artikel des Pfarrers i. R. Jochen Vollmer aus Reutlingen unter dem Titel „Vom Nationalgott Jahwe zum Herrn der Welt und aller Völker“ im Deutschen Pfarrerblatt im August 2011 rief teils scharfe Kritik hervor (hier der Artikel auf der Homepage des Pfarrerverbands: http://pfarrerverband.medio.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=3030 und hier auf einer islamistischen Homepage: http://islamicrevolutionservice.wordpress.com/2011/08/17/vom-nationalgott-jahwe-zum-herrn-der-welt-und-aller-volker/).
Das exklusive Selbstverständnis des Staates Israel, so der Autor, stehe dem Frieden in Nahost im Weg. Landnahme sei das oberste Prinzip von Israels Politik, die nach Palästina gekommenen Juden seien einem „Eindringling und Räuber“ zu vergleichen. Jüdisches Volk und jüdischer Staat seien unvereinbar. Das jüdische Volk sei nicht mehr ethnisch und territorial gebunden zu denken, sondern als exterritoriale Glaubensgemeinschaft. Ihm werde „die Erde zur Heimat, auf der man Gottes Tora leben und seinen Willen tun kann“. Wenn deutsche evangelische Kirchen (wie die Rheinische oder die Pfälzische Kirche) den Staat Israel als Zeichen der Treue Gottes sähen, sei dies ein vergeblicher Versuch der Kompensierung eigener Schuld. Eine solche Theologie müsse aus ihrer nationalistischen Gefangenschaft befreit werden.
Vollmers Beitrag zeigt das Elend einer Palästina-Solidarität, die sich in Angriffen gegen Israel erschöpft und die Option einer durch Verhandlungen zu erzielenden Konfliktregelung aufgegeben hat. Sein Versuch zur historischen, politischen und theologischen Delegitimierung des Staates Israel beruht auf zumeist falschen Fakten und aus Reduzierungen komplexer Sachverhalte auf klischeeartige Denkmuster. Aus ihnen leitet er teils unhaltbare Folgerungen, teils lieblose, manchmal gehässige Werturteile ab. Etliche der untern angeführten Reaktionen kritisieren denn auch die Inkompetenz bzw. Selbstüberforderung des Autors bezüglich der von ihm angesprochenen Themen. Manche werfen ihm Antisemitismus vor.
Vollmers Ausführungen sind keine Einzelmeinung, vielmehr sind sie repräsentativ für manche Kreise von Theologen, die sich in Opposition zu kirchlichen Erklärungen stellen, die den Staat Israel und seine Bedeutung für das jüdische Volk würdigen.
„Theologe als Judenfeind. Deutsches Pfarrerblatt in der Kritik“ titelte die Frankfurter Rundschau am 25.8.2011 und beschrieb damit unverblümt die doppelte Problematik des Artikels und seiner Herausgeber. Tatsächlich bietet die kirchliche Presse Freiräume für Judenfeindschaft, Antisemitismus ist unter Kirchenmitgliedern weiter verbreitet ist als unter Konfessionslosen (so die von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie „Die Mitte in der Krise“ auf S. 88: http://library.fes.de/pdf-files/do/07504.pdf: Konfessionslose 6,4 %, Evangelische 7,7 %, Katholiken 11,3%). Daran wird sich solange nichts ändern, als der „kalte protestantische Antisemitismus“ (Amos Oz) in der kirchlichen Erwachsenenbildung und Publizistik als sachlicher Diskussionsbeitrag gewertet wird. wie es etwa der Herausgeber des Pfarrerblatts in seiner Stellungnahme tut: http://www.pfarrerverband.de/meldungen_1468.htm.
Zwar haben sich alle Landeskirchen vom Antisemitismus distanziert, aber der Frage, was Antisemitismus heute ist und worin er sich äußert, wird selten nachgegangen. Vielen Theologen und offensichtlich auch der Redaktion des Deutschen Pfarrerblatts sind die Kriterien, wann Kritik am jüdischen Volk und am Staat Israel die Grenze zum Inakzeptablen überschreitet, nicht geläufig (hierzu: http://www.compass-infodienst.de/Martin_Kloke__Wann_ist_oder_wird_Israelkritik_antisemitisch.10126.0.html). Außerdem fehlt den meisten die geschichtswissenschaftliche Kompetenz sich sachgerecht zum Nahostkonflikt zu äußern, sie tun es aber dennoch und häufig verbunden mit Israel belastenden Werturteilen.
Der Münchner Historiker Dr. Jürgen Zarusky kritisiert in einem Leserbrief an das Pfarrerblatt die „dilettantische, einseitige und offenkundig auf die Schaffung eines antiisraelischen Feindbildes abzielende Darstellung“ Vollmers (http://www.deutscher-koordinierungsrat.de/_downloads/Zarusky_Leserbrief.PDF). Eine Darstellung wie die Vollmers, in der die Bedrohungslage Israels völlig ignoriert werde, lasse das Bemühen um Objektivität und Gerechtigkeit in einem erschreckenden Maße missen. Dies kann man analog an der ACK-BW-Arbeitshilfe zum Kairos-Palästina-Dokument (Ölbaum online Nr. 52) oder an der vom Evangelischen Entwicklungsdienst mitfinanzierte und von Kirchengemeinde zu Kirchengemeinde weitergereichte „Nakba“-Ausstellung (Ölbaum online Nr. 47) kritisieren. „Was Israel und das Judentum betrifft stehen die christlichen Kirchen offensichtlich doch erst ganz am Anfang eines Umdenkens. Vieles ist an vielen vorbei gegangen, wie der Beitrag im Pfarrerblatt zeigt“, schreibt Wolf-Rüdiger Schmidt in einem sehr materialreichen Beitrag für den Compass-Infodienst: http://www.compass-infodienst.de/Debatte__Antijudaismus_im__Deutschen_Pfarrerblatt.10046.0.html.
Eine sachliche Auseinandersetzung vor allem mit den theologischen Thesen des Aufsatzes hat Stefan Meißner verfasst. Sie erscheint gekürzt im Deutschen Pfarrerblatt 10 / Oktober 2011. Meißners ungekürzte Entgegnung ist im Internet unter http://www.christen-und-juden.de/html/vollmer.htm zu finden.
Der Journalist und Theologe Johannes Gerloff beschreibt in der Jüdischen Zeitung Nr. 10 / Oktober 2011 ein Dilemma: „Tut man einem Pfarrer, der sich auf ein solches akademisches Niveau herablässt, nicht eigentlich zu viel Ehre an, wenn man den Fehdehandschuh aufgreift? Oder muss man Vollmers Artikel ernstnehmen, weil er ein Symptom des heute wieder in deutsch-christlichen Kreisen herrschenden Zeitgeistes ist?“ Gerloff zählt in seinem Beitrag nicht weniger als 35 „Lügen“ Vollmers auf. „Mit Lügen kann man nicht diskutieren …“