"Wir warten! Wir sind dem Hebräerbrief zufolge weniger das wandernde, als vielmehr das wartende Gottesvolk! Wir können den Himmel nämlich nicht durch eine noch so anstrengende Wanderung, keinen noch ausdauernden Gewaltmarsch erlangen. Per pedes ist der Himmel nicht erreichbar."
Semestergottesdienst am 6.6.2012 in der Kreuzkirche Hannover, veranstaltet von der Fachschaft Ev. Theologie an der Leibniz Universität Hannover.
Predigttext: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,14)
Liebe Studierende,
vor kurzem hat mich meine jüngste Tochter gefragt: Papa, was hast Du eigentlich gemacht, als Du noch klein warst? Ich vermute, dass sie wissen wollte, ob ich damals auch schon so oft am Schreibtisch saß wie heute. Ich konnte sie beruhigen: „Ich kann mich eigentlich nur an zwei Dinge erinnern, die ich gemacht habe: Fußball gespielt und Buden gebaut. Beides mit mäßigem Erfolg, aber großer Leidenschaft: In unserem Fußballclub, den wir Jungs aus der Nachbarschaft zugleich gründeten, trainierten und managten, brachte ich es allerdings nur bis zum Co-Trainer, während mein bester Freund gleich Präsident, Trainer und Kapitän in einer Person war.“
Als ich meiner Tochter dann mehr von meiner gescheiterten Fußballerkarriere berichten wollte, winkte sie sofort ab und fragte stattdessen: „Stehen die Buden noch, die Du damals gebaut hast?“ „Keine Ahnung! Ich glaube, eher nicht, aber vielleicht gibt es noch einzelne Bretter im Wald an der Stelle, wo die Bude stand.“ „Oh ja, Papa, lass uns doch mal nachschauen“. Nun ja, es dauerte eine Weile, bis ich meine Tochter davon überzeugt hatte, dass wir jetzt nicht sofort zu Oma auf’s Land fahren konnten, um nach den Resten der Welt meiner Kindheit zu schauen. Stattdessen einigten wir uns darauf, dass ich ihr zum gefühlten zwanzigsten Mal die Bullerbü-Geschichte vorlese, wie Oles Hund Swipp den Mädchen den Weg zur geheimen Hütte der Jungs zeigt.
Auf solch einen Vorschlag lässt sich vermutlich jedes sechsjährige Kind gerne ein. Denn von Buden, egal ob tatsächlich gebauten oder nur in der Lesewelt imaginierten, geht eine eigentümliche, ja geradezu unwiderstehliche Faszination aus. Es ist der Duft der Heimat, den uns dieses Motiv um die Nase weht. Die Sehnsucht nach Heimat verschafft sich im Hüttenbau Ausdruck, die Sehnsucht nach dem, was der Philosoph Ernst Bloch in seinen berühmten Worten als „etwas“ umschrieb, „was allen in die Kindheit scheint und wo noch niemand war“ .
Nicht wahr, wir Menschen möchten Heimat finden, möchten uns niederlassen, sesshaft werden, möchten das Gefühl von „Angekommen-Sein“ erleben. Wir sehnen uns nach dem Ort, von dem wir sagen können: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Auch ich darf sagen, dass ich sehr froh bin, nach einigen Jahren des wissenschaftlichen Nomadentums nun in Hannover den Übergang in die akademische Sesshaftigkeit antreten zu dürfen. Und ähnlich dürfte es vielen Studiumsanfängerinnen und -anfängern der Ev. Theologie gehen, die Heimat bei uns finden möchten, einen kleinen „Appelgarten“, in dem wohl weniger die Frucht der Versuchung, als vielmehr ein kleines, ein klitzekleines Bisschen womöglich von jener Geselligkeit angeboten wird, die einst das Paradies in seiner Fülle kennzeichnete. Wir trauern dem Paradies als Ort nach, wo Menschen so leben dürfen, wie Gott sie eigentlich gewollt hat: in aller unwissentlichen Nacktheit gut aufgehoben in der Nähe von Gott und in der Nähe von Menschen, die wir mögen und die uns mögen.
Unser Predigttext aus dem Hebräerbrief ernüchtert uns freilich in unseren vielfältigen Bemühungen sehnsüchtiger Heimatsuche. Denn dort heißt es: „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Das muss man erst einmal verkraften, ich meine die Aussage, dass wir hier auf der Erde nichts Bleibendes finden. Erfolglose Wohnungssuchen frustrieren immens und machen unglücklich, davon wissen diejenigen Erstsemester ein Lied zu singen, die von außerhalb kommen und zu Studiumsbeginn eine Wohnung in Hannover finden müssen. Zudem ist eine Heimat auf Zeit grundsätzlich immer nur die zweitbeste Heimat. Unserem Predigttext zufolge haben wir es auf der Erde mit einem „Vize-Drama“ ganz eigener Natur zu tun: nämlich nur mit zweitbesten, vorläufigen Heimatorten, Heimaten auf Zeiten. Wir leben im „Vorletzten“, noch nicht im „Letzten“. Wir sind – mit anderen Worten – sterblich. Der Psalmist weiß: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon“ (Ps 90,10). Die Aussage unseres Predigttextes erschöpft sich allerdings nicht in dieser Allerweltsweisheit, die sie gleichsam zum bevorzugten Beerdigungsevergreen macht. Die Botschaft unseres Predigttextes geht auch nicht auf in dem so gern gesungenen Vers von Gerhard Tersteegen:
„Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit. O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne,
mein Heim ist nicht in dieser Zeit.“
Nein, wenn wir wissen wollen, wo das Evangelium steckt, das unser Predigttext für uns bereithält, dann müssen wir fragen, wie die Heimat, wie die zukünftige Stadt eigentlich aussieht, von der hier kurz und knapp geredet wird. Also: Wie ist sie beschaffen?
Weiter kommen wir mit dieser Frage, wenn wir uns den gesamten Hebräerbrief näher anschauen und dabei feststellen, dass das im Predigttext gebrauchte Bild von der kommenden Stadt, vom himmlischen Jerusalem (vgl. 10,10.16; 12,22; 13,14) neben einem anderen Bild steht. Beide Bilder bilden gleichsam dieselbe Sache ab. Ich meine mit dem anderen Bild das Bild vom wahren Heiligtum, von der katapausis (8,2; 9,11 u.ö.), wie es im Griechischen heißt. Das ist der Vorstellung nach ein endzeitlicher Ruheort, eine „himmlische Wohnung Gottes, die Gott seinem Volk zur […] Ruhestätte bestimmt hat“. Der Hebräerbrief greift mit dieser seiner Vorstellung von einem endzeitlichen Ruheort zurück auf die Vorstellung aus dem Alten Testament vom Tempel – vom Tempel als dem Ort, „an dem Gott gegenwärtig ist und sein Volk sich ihm nahen, seine Herrlichkeit erkennen und ihn anbeten soll. Im Tempel allezeit bei Gott zu wohnen, das erscheint den Betern Israels als das höchste Glück, als die Fülle des Heils. Der Verfasser des Hebräerbriefes teilt diese Auffassung, – allerdings mit einem ganz wesentlichen Unterschied: Nicht ein irdischer Tempel gilt ihm als die Wohnung Gottes, sondern das wahre Heiligtum, das sich in der himmlischen Welt befindet. Dieses Heiligtum ist Gottes ‚Ruhestätte’ (katapausis), und es soll nach seinem ewigen Heilswillen auch des Menschen ‚Ruhestätte’ sein. Im himmlischen Heiligtum in der unmittelbaren Nähe und Gegenwart Gottes zu wohnen, ihn dort zu schauen und ihm in Lobpreis und Anbetung priesterlich zu dienen, – das ist somit das ‚Heil’, das Gott dem Menschen von Ewigkeit her zugedacht hat“ .
Halten wir fest: Genau diese himmlische Ruhestätte ist mit der zukünftigen Stadt in unserem Predigttext gemeint. Auf sie bezieht sich das „Suchen“, das „Wünschen“, das „Ersehnen“, das „Erwarten“, von dem im Text die Rede ist. Die Aussage, die hier getroffen wird, lautet also: Wir haben hier, d.h. auf der zum alten Äon gehörenden und mit ihm vergehenden Erde, keine solche Ruhestätte, die in Ewigkeit Bestand haben könnte, sondern wir sehnen uns nach der zukünftigen. Auf das Offenbarwerden dieser kommenden Stadt warten wir als Gemeinde.
Wir warten! Wir sind dem Hebräerbrief zufolge weniger das wandernde, als vielmehr das wartende Gottesvolk! Wir können den Himmel nämlich nicht durch eine noch so anstrengende Wanderung, keinen noch ausdauernden Gewaltmarsch erlangen. Per pedes ist der Himmel nicht erreichbar. Deshalb sollten wir es gar nicht erst versuchen, uns den Himmel unter Stöhnen und Schnaufen, mit Blasen an den Füßen zu erwandern, um dann vermeintlich am großen, letzten Volkswandertag die dicke Plakette um den Hals gehängt zu bekommen. Nein! Wir dürfen warten! Nicht auf Godot – aber auf Jesus Christus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, wie es im Hebräerbrief (12,2) heißt.
Inzwischen wissen wir, von der neutestamentlichen Wissenschaft belehrt, dass nicht die Mythologie und Erlösungslehre der Gnosis den religionsgeschichtlichen Hintergrund des Hebräerbriefes bildet. Die Trostlehre des Hebräerbriefes wurzelt im apokalyptischen Denken des antiken Judentums. Der Autor des Hebräerbriefes, der kein Gnostiker, sondern ein Apokalyptiker war, kennt „den Gedanken einer Wanderschaft zum Himmel, zu den im Himmel bereiteten Stätten nicht, sondern er teilt die apokalyptische Erwartung, dass die […] Heilsorte am Tag der Endvollendung aus der Verborgenheit heraustreten werden. Dementsprechend wird die Gemeinde nicht als das zum Himmel wandernde Gottesvolk, wohl aber als das auf die Heilsvollendung wartende Gottesvolk gesehen. Und der Verfasser will dieses Volk nicht etwa ‚auf seinem Weg in die himmlisch-zukünftige Welt anspornen’, sondern es mit aller Dringlichkeit dazu aufrufen, die Erwartung nicht preiszugeben, der allein die Erfüllung verheißen ist.“ Denn der, der diese Verheißung verbürgt, ist niemand anderes, als allein Christus.
Hier nun sind wir beim Evangelium unseres Predigttextes angelangt, beim Kern dessen, was er uns zum Thema „Heimat“ sagen möchte: Wir dürfen in all unseren Bemühungen der letztlich vergeblichen Heimatsuche dies eine wissen: Nicht wir finden die Heimat, sondern die Heimat findet uns! Nicht wir kommen zu Gott, Gott kommt zu uns. Und genau darum geht es dem Hebräerbrief, darin ist er Apokalyptiker, dass er betont: Gott kommt und der Mensch findet Heimat.
Nicht wahr, das hört sich gut an. Aber was heißt das jetzt für uns – für uns Menschen, die wir so gerne Hütten bauen? Übrigens genau wie die Jünger Jesu, die auf dem Berg der Verklärung, den lichten Moment des Erscheinens Moses und Elias festhalten möchten, in ihm ausschweifend Schwelgen wollen. Nicht wahr, vom Gipfelpunkt religiöser Erfahrung möchte man nicht so schnell herunterkommen: „Herr, hier ist gut sein! Willst du, so wollen wir hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine“ (Mt 17,4). Freilich ist die Antwort, die die Verklärungsgeschichte auf dieses Ansinnen des Hütten-Bauens gibt, genau die, die auch der Hebräerbrief auf die Frage gibt, wie wir denn auf die zu uns kommende Heimat warten dürfen. Die Antwort gibt die Stimme aus der Wolke, die bereits ertönt, während die Jünger noch über’s Hüttenbauen reden: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ (Mt 17,5). Uns auf Christus auszurichten, das ist angemessenes Warten auf die zu uns kommende Heimat. Der Hebräerbrief bestätigt dies. Auf unsere Frage: Warten – wie macht man das eigentlich?, antwortet er: „Lasst uns laufen in Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,1f.).
Laufen in Geduld? Sollen wir also doch wandern, wandern und nicht warten? Laufen in Geduld – so heißt es jedenfalls in der Lutherübersetzung. Wenn wir uns allerdings den griechischen Text anschauen und die griechische Wendung dia hypomonē, die in der Lutherbibel mit „Laufen in Geduld“ wiedergegeben wird, so können wir feststellen, dass hier ein Ausharren, ein Standhalten gemeint ist. Derselbe Begriff wird in der Johannesoffenbarung (1,9) gebraucht, um die Erwartung Jesu zum Ausdruck zu bringen: „Ich Johannes, euer Bruder und Mitgenosse in der Bedrängnis und dem Königtum und in der Erwartung Jesu, war auf der Insel, die Patmos genannt wird“. Es geht im Hebräerbrief durchaus um ein Laufen, ja sogar ein Laufen im Wettkampf, also ein Rennen. Wir sollen uns beeilen. Gleichwohl schärft uns der Hebräerbrief ein: Ein solches Laufen ist ein Laufen in Erwartung! Wir können uns noch so sehr beeilen, noch so sehr rennen, uns die Kräfte noch so gut einteilen, um ausdauernd zu laufen: Wir erreichen das Ziel nicht kraft unserer Anstrengung, sondern allein dadurch, dass das Ziel zu uns kommt. Es geht also um ein Laufen in Erwartung, ein Eilen, das darauf aufgerichtet ist, dass Jesus Christus und mit ihm das Reich Gottes zu uns kommt. Es kommt zu uns und nicht wir kraft unseres sportlichen Betätigung zu ihm. Im Zentrum steht deshalb der Hinweis auf Christus: Wir dürfen warten, indem wir aufsehen zu Christus. Es bleibt also dabei: Im Hebräerbrief geht es in erster Linie um das wartende Gottesvolk. Und Warten heißt hier, den Kopf heben und loszurennen, dem Kommen Jesu entgegen.
Ich kenne keine theologisch trefflichere Umschreibung für das, was uns hier vom Hebräerbrief empfohlen wird, als Karl Barths, in Anlehnung an den jüngeren Blumhardt gebrauchte Rede vom „eilenden Warten“ - „A Hastening that Waits“ : Diesen Titel hat der Oxforder Theologe Nigel Biggar seinem Buch über die Ethik Barths zu Recht gegeben und damit – ohne es zu wissen – ein zentrales Stück der Ethik des Hebräerbriefes aufgegriffen. Bei Barth heißt es: Christenmenschen „‚warten und eilen dem Anbruch des Tages Gottes’, der Erscheinung seiner Gerechtigkeit, der abschließenden Parusie Jesu Christi entgegen (2. Petr. 3,12). Also: sie warten nicht nur, sie eilen auch – vielmehr: sie warten, indem sie eilen, ihr Warten selbst geschieht in diesem ihrem Eilen. Ausgerichtet auf Gottes Reich, jetzt schon nicht auf den status quo, sondern auf sein Kommen eingerichtet, blicken sie nicht nur nach ihm aus, sondern eben: laufen sie ihm – und das, so schnell ihre Füße tragen wollen – entgegen.“ Genau darum geht es: um ein eilendes Warten, „A Hastening that Waits“, also weder ein „Wir legen die Hände in den Schoß“, noch ein „Wir stellen das Reich Gottes am besten selber gleich her“.
Freilich wird es bis zur Vollendung des Kommens unserer himmlischen Heimat so sein und auch so bleiben, dass wir auf der Erde Hütten bauen werden. Hütten in so mancherlei Gestalt:
- Hütten als Dome und Kathedralen, die bis in den Himmel hinein ragen und deren Mauern uns ewig mit Gott auf seinem höchsten Thron zu verbinden scheinen.
- Denkerische Hütten in Gestalt von festen theologischen Lehrsystemen, die uns Sicherheit und Schutz in den weltanschaulichen Stürmen zu versprechen scheinen, die über uns hereinbrechen.
- Hütten in Gestalt eines scheinbar unumstößlichen, situationsunabhängigen Bekenntnisses, das wir bloß zu rezitieren brauchen, um wahre Sätze zu formulieren.
- Und sicher werden wir auch im kleinen, privaten Alltag weiterhin unsere Hütten bauen in Wohnblocks, als Einfamilienhäuser, als Apartmentwohnungen – und das in einer Welt voller Wellblechhütten und Slums.
Ich komme zum Schluss: Meine Tochter hatte mich gefragt: Papa, was hast du eigentlich getan, als du klein warst. Gott wird uns, wie der Hebräerbrief bezeugt, dereinst wohl eher fragen: Was hast du getan, als du groß warst. Ja, wenn wir so gefragt werden, dann bleibt uns scheinbar nur das Eingeständnis, dass wir oft, zu oft Hütten gebaut haben, die dem Kommen der Hütte Gottes zu uns nicht entsprechen. Dann bleibt uns scheinbar nur das Eingeständnis, dass unser eilendes Warten, allzu oft weder eilend noch wartend war. Doch der Hebräerbrief weiß es besser: Was uns bleibt, ist er allein: Christus, der Anfänger und Vollender des Glaubens. Wie sollte der, der den Glauben ins uns geweckt hat, ihn nicht auch in uns vollenden? Vollenden, indem er uns schauen lässt, was wir glauben: Die Stadt Gottes kommt zu uns, seine Hütte. In ihr ist Platz genug für alle Menschen.
Amen