Bequeme Lehre für die Reichen
von Hans-Werner Hatting
»Sicher aber ist, dass Gott die Güter dieser Welt ungleich verteilt, um zu prüfen, wie es um des Menschen Herz steht. (...) Ist ein Mensch reich, so kann man gut beurteilen, wie er ist. Er hat die Mittel zu schaden (...). Wenn er nun davon absieht und gegenüber seinen Nächsten sich der Grausamkeiten enthält und nicht nach mehr gelüstet, als Gott ihm gibt, dann ist das ein Zeichen seiner Klugheit und Rechtschaffenheit, die sich ohne Gelegenheit nicht gezeigt hätte. Wenn nun ein solcher Mensch freigiebig ist und versucht, Gutes zu tun denen, die seine Hilfe nötig haben, wenn er sich nicht in Hochmut und Pomp groß macht, sondern gerade seinen Weg geht, so hat er die Prüfung gut bestanden.«
(Calvins Predigt zu Dtn 15 von 1555)
Diese Forderung ist weniger radikal als das Jesuswort in Mk 10,21 »Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib‘s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!«. Aber Calvins Forderung enthält doch einen höheren Anspruch als die Einstellung vieler Apologeten des Reichtums heute, die davon überzeugt sind, dass – solange der Reiche sein Geld am freien Markt verdient – Reichtum das Ergebnis eigener Leistung und der Reiche daher niemandem etwas schuldig ist. Andererseits überlässt Calvin hier offensichtlich den Grad der Bescheidenheit und Freigiebigkeit dem Gewissen des Reichen. Eine Basis zur Beschränkung und Umverteilung von Reichtum durch die Gesellschaft lässt sich hier nicht ableiten. Man könnte sogar argumentieren, dass durch solche Maßnahmen der Plan Gottes gestört würde, den Reichen zu prüfen. Das ist eine bequeme Lehre für die Reichen, wenn sie selbst nicht an Gott glauben oder fühlen, dass sie bescheiden und freigiebig genug sind.
Hans-Werner Hatting
Hans-Werner Hatting, Pierre Bühler und Ulrich Thielemann legen Zitate Calvins aus:
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