Calvins Theologie des Heiligen Geistes

Von Michael Beintker, Münster

Vorlesung, gehalten am 26. August 2008 auf der Reformierten Sommeruniversität in Apeldoorn.

''Was uns von Christus gesagt ist, das kommt uns durch das verborgene Wirken des Geistes zugute''
(Johannes Calvin)

1. Die Geisterfahrungen des Glaubens
2. Calvins Geistlehre in trinitätstheologischer Perspektive
3. Das Schöpferwirken des Heiligen Geistes
4. Das Wirken des Geistes in Wort und Sakrament
5. Resümee 

Michael Beintker,
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1. Die Geisterfahrungen des Glaubens
Unter dem Titel „De modo percipiendae Christi gratiae“ entfaltet Calvin im dritten Buch der Institutio[1] die eigentliche Soteriologie. Hier werden die Grundfragen des Christseins besprochen: Was ist überhaupt Glaube und wie entsteht er? Weshalb muss der Mensch durch Buße und Wiedergeburt erneuert werden und weshalb soll er die Sünde in sich bekämpfen? Welche Missverständnisse der Heilserfahrung sind in der römischen Kirche wirksam? Wie lebt man eigentlich als Christ? Was ist Gnade und was versteht man unter der Rechtfertigung durch den Glauben? Wie wird man ihrer gewiss und wie verhält sich die Rechtfertigung zur Bewährung der christlichen Existenz? Wie begegnet man den Zerreissproben des Leidens? Was ist Freiheit und wie frei ist eigentlich der Christenmensch? Das längste Kapitel der Soteriologie und auch der ganzen Institutio ist dem Gebet und dem Leben im und aus dem Gebet gewidmet (III,20). Erst dann entwickelt der Reformator die Lehre von der Erwählung (III,20-24), die manchen als das besondere Spezifikum Calvins und des Calvinismus gilt. Wie es sich gehört, gipfelt die Soteriologie in der Eschatologie – in der Klärung der Frage, was uns nach diesem Leben erwartet.

Alle diese Ausführungen werden mit einer Ouvertüre der besonderen Art eröffnet – mit einem Kapitel über den Heiligen Geist und seine Bedeutung für den christlichen Glauben: „Was uns von Christus gesagt ist, das kommt uns durch das verborgene Wirken des Geistes [arcana operatione Spiritus] zugute“ (so die Überschrift zu III,1). Ohne den Bezug auf den Heiligen Geist kann man nicht vom Heil und nicht vom christlichen Leben reden. Geisterfahrung ist die Voraussetzung aller Glaubenserfahrung, ja Glaubenserfahrung ist Geisterfahrung. Dem versucht Calvin Rechnung zu tragen, indem er seine Soteriologie ganz bewusst auf eine pneumatologische Basis stellt. Ja noch mehr: Schon an dieser Stelle erweist sich die Pneumatologie als ein ganz zentrales und profilbestimmendes Thema der Theologie des Reformators.

Die pneumatologische Dimension von Calvins Theologie und ihre Bedeutung für den heutigen pneumatologischen Diskurs wird immer wieder unterschätzt. Das kann man z.B. daran erkennen, dass sich bedeutende dogmatische Geistlehren der Gegenwart allenfalls beiläufig auf Calvin beziehen und die innovativen Potentiale seiner Geistlehre ungenutzt brach liegen lassen. Andererseits ist eine der bedeutendsten und gehaltvollsten Arbeiten zur Theologie Calvins gerade seiner Geistlehre gewidmet: die Untersuchung des Lutheraners Werner Krusche zum Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin[2]. Diese Arbeit hat Maßstäbe gesetzt und ist für die Beschäftigung mit Calvins Theologie im allgemeinen und mit seiner Pneumatologie im besonderen nach wie vor unverzichtbar. Die ältere Untersuchung des Niederländers S. van der Linde läuft auf eine Überprüfung der Barthschen Pneumatologie anhand der Auffassungen Calvins hinaus[3]. Hier in Apeldoorn wurde vor vier Jahren die Dissertation von Arie Baars über Calvins Trinitätslehre angenommen, die immer wieder auch auf Gottes Geist eingeht[4]. 2007 hat Myung-Sun Moon zum Wirken des Heiligen Geistes in der Christusgemeinschaft promoviert und dazu die erste und die letzte Ausgabe der Institutio verglichen[5].

Der Heilige Geist schafft Verbundenheit und Gemeinschaft. Das gilt auf verschiedenen Ebenen. Es gilt zuerst – wie wir noch sehen werden – auf der Ebene der trinitarischen Beziehungen im Geheimnis Gottes selbst. Es gilt sodann für die Gemeinschaft der Glaubenden untereinander – für die communio sanctorum. Und es gilt für die Art, in der Gott die Gemeinschaft zu uns Menschen selber sucht, herstellt und lebt, indem er in Jesus Christus zu uns kommt. In der Christusgemeinschaft des Glaubens ereignet sich die intensivste Begegnung zwischen Gott und Mensch. Ja, die Existenz im Glauben kann nach Calvin regelrecht als „unio cum Christo“, als Einung mit Christus verstanden werden (vgl. III,1,3). Calvin kann sich dafür etwa auf Eph 5,30 berufen, wo die Christen als Glieder am Leib Christi angesprochen und also „Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein […], ja, mit ihm gänzlich eins [unum cum ipso] werden“ (ebd.). Christsein ist nach Calvin intensiv verwirklichte und intensiv gelebte Christusgemeinschaft.

Dass dies sich aber überhaupt ereignen und unter uns Gestalt gewinnen kann, verdanken wir dem Wirken des Heiligen Geistes. Ohne ihn würde uns Christus ganz äußerlich – „extra nos“ – bleiben (III,1,1). Ohne ihn wären wir von Christus getrennt, wäre alles, was er für uns und unser Heil getan hat, ohne Nutzen und Bedeutung für uns (vgl. ebd.). Die ganze Christologie bliebe nichts anderes als eine fruchtlose Spekulation (vgl. III,1,3). Erst die verborgene Wirksamkeit des Geistes (arcana Spiritus efficacia) führt dazu, dass wir Christus und seine Güter genießen. So wird der Heilige Geist als das „Band“ definiert, „durch das uns Christus wirksam mit sich verbindet [Spiritum sanctum vinculum esse, quo nos sibi efficaciter devincit Christus]“ (III,1,1). Man beachte die für Calvins Geistlehre signifikante Betonung der „efficacia“ und des „efficaciter“. Durch den Geist kommt die Christusgemeinschaft überhaupt erst zur Wirkung. Dabei ist es wichtig, dass hier der Sohn das Subjekt des Handelns ist. Calvin beobachtet, dass in der Schrift sowohl vom Geist des Vaters als auch vom Geist des Sohnes die Rede sein kann (vgl. III,1,2). Im Horizont des christlichen Lebens wird der Geist primär als Geist Christi angesprochen. Christus vergegenwärtigt sich uns im Geist und durch den Geist – deshalb wird die Geistlehre von Calvin in dieser Hinsicht bewusst christologisch ausgerichtet.

Zwei weitere Konkretionen sind damit verknüpft: Heiligung und Glaube. Der so das Christusgeschehen zur Wirkung bringende Geist wird als „Geist der Heiligung“ (Spiritus sanctificationis) charakterisiert und von seinem allgemeinen Wirken im Bereich der Schöpfung unterschieden (vgl. ebd. sowie III,3,14). Der Geist der Heiligung – wobei hier an die Absonderung von der Welt der Sünde und die Bestimmung zur Hoffnung auf das ewige Leben gedacht ist – erweist sich „als die Wurzel und der Same des himmlischen Lebens in uns“ (III,1,2), mit 2 Kor 1,22 als „Unterpfand und Siegel unseres Erbes“ (III,1,3). Dies wiederum ist nur möglich, weil wir glauben können. Und so wird – und dies ist eine klassische Kennzeichnung – der Glaube als das „vornehmste Werk des Heiligen Geistes“ (III,1,4) hervorgehoben, muss auf die pneumatologische Ouvertüre folgerichtig das große Kapitel über den Glauben folgen (III,2).

Der Geist führt uns allein durch den Glauben an das Licht des Evangeliums heran; er ist unser innerer Lehrer (doctor internus), „durch dessen Wirken die Verheißung des Heils in unser Inneres eintritt“ (III,1,4). Ohne ihn würde man für die Erkenntnis Christi blind bleiben, seine erleuchtende Wirkung könne man durchaus als die Sehschärfe unseres Inneren (mentis nostrae acies) bezeichnen (ebd.). So fußt die Realität des ganzen christlichen Lebens auf dem Wirken des Heiligen Geistes.

2. Calvins Geistlehre in trinitätstheologischer Perspektive
Im Heiligen Geist begegnet uns authentisch Gott selbst. Und im Heiligen Geist begegnet uns authentisch Jesus Christus selbst. Beide begegnen uns, indem sie sich uns vergegenwärtigen und in einer spezifischen Weise von uns Besitz ergreifen. Dass sie dies tun, wirkt der Heilige Geist. Der Heilige Geist ist diejenige Seinsweise im Geheimnis des dreieinigen Gottes, die für Vergegenwärtigung, Gegenwart, Aktualität, dichteste Nähe und Gemeinschaft steht.

Solche Aussagen, mit denen ich bereits versucht habe, Calvins Denkansatz wiederzugeben, sind nur auf dem Boden trinitarischen Denkens möglich, eines Denkens also, das ganz bewusst von der Dreieinigkeit Gottes ausgeht und von daher die Realität und das Wirken des Heiligen Geistes zu verstehen versucht. Gott begegnet uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist und bleibt doch in allen drei Seinsweisen immer ein- und derselbe Gott (vgl. I,13,16). Aber Einheit kann nicht undifferenzierte Identität bedeuten. Calvin bemerkt, dass ihm ein Wort des Gregor von Nazianz besonders gefallen habe: „Ich vermag nicht, einen zu denken, ohne sofort von den dreien umstrahlt zu werden; und ich kann die drei nicht scheiden, ohne auf den einen zurückzukommen.“ (I,13,17)[6] Hier hängt tatsächlich alles mit allem zusammen, so dass nur von der Unterscheidung in der Einheit und Einheit in der Unterscheidung gesprochen werden kann. So muss die „unica Dei essentia“[7] im Sinne des biblischen Zeugnisses differenziert werden: einerseits darf die Einheit Gottes nicht verletzt werden und andererseits dürfen die besonderen Spezifika der drei göttlichen Seinsweisen nicht nivelliert werden.[8] Das erreicht Calvin, indem er die Spezifika über die Verhältnisse – die relationes – zwischen Vater, Sohn und Geist bestimmt.

Vater, Sohn und Geist sind in der unitas essentiae[9] vereint und haben ohne die geringste Einschränkung an ihr Anteil. Der einfache Gottesname (simplex Dei nomen) lässt eine Relation nicht zu, deshalb kommt er dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist ununterscheidbar in gleicher Weise zu.[10] Sobald aber das Verhältnis zwischen Vater, Sohn und Geist beachtet wird, kann man über die jeweilige Relation zwischen ihnen ihre Unterscheidung in der Einheit erfassen. „Tritt neben den Vater der Sohn, dann kommt die Relation zum Vorschein: und so unterscheiden wir zwischen den Personen [der Trinität].“[11] Calvin steht damit in einer bewährten Tradition: Er kann sich für diese Rezeption des Ausdrucks relatio auf Augustinus berufen und erweist sich diesbezüglich als sein adäquater Schüler.

Schon in der Kontroverse mit Peter Caroli, die eine wichtige Etappe auf dem Weg Calvins zu einer ausreflektierten immanenten Trinitätslehre darstellt, bezog sich Calvin auf Augustinus und auch auf den Relationsbegriff[12]. In der Institutio zitierte er unter anderem seit der Ausgabe von 1543 aus Augustinus’ Auslegung des 68. Psalms[13]: „Christus wird an und für sich Gott genannt, in seinem Verhältnis zum Vater aber Sohn. Und andererseits: der Vater wird an und für sich Gott genannt, in seinem Verhältnis zum Sohn aber Vater. Wenn er also dem Sohn gegenüber Vater ist, so ist er eben nicht der Sohn, und wenn der Sohn gegenüber dem Vater Sohn heißt, so ist er eben nicht der Vater; der aber an und für sich Vater und der an und für sich Sohn genannt wird, der ist derselbe Gott!“ (I,13,19) Sie unterscheiden sich gerade in ihrem jeweiligen Gegenüber von Ich und Du und sind doch immer Eines. Calvin schlussfolgert: Ohne Bezug auf den Vater können wir den Sohn sogar den einzigen Ursprung (unicum principium) nennen, „wenn wir aber seine Relation zum Vater [relatio quae illi cum Patre est] beachten, so sagen wir mit Recht, daß der Vater der Ursprung des Sohnes [Filii principium] sei.“ (Ebd.)[14] Ausdrücklich beruft sich Calvin für diese – von ihm als unspekulativ bewertete[15] – Relationentheorie auf Augustinus’ Ausführungen im fünften Buch von „De trinitate“[16].

Die Unterscheidung von Vater, Sohn und Geist hängt mit der Pluriformität des Wirkens Gottes zusammen: Gott als Vater tut etwas anderes als Gott als Sohn, und nochmals etwas anderes tut Gott als Heiliger Geist (vgl. I,13,17). So wird das Werk der Schöpfung auf Gott den Vater und das Werk der Versöhnung und Erlösung auf Gott den Sohn zurückgeführt. Das scheint – auch angesichts der biblischen Befunde – so gut wie selbstverständlich zu sein. Weitaus schwieriger ist es dagegen, eine spezielle Tätigkeitszuschreibung (Appropriation) für den Heiligen Geist vorzunehmen, die auf einen göttlichen Wirkungsbereich verweist, das sich von den Werken der Schöpfung, Versöhnung und Erlösung material unterscheidet. Die Appropriation für den Geist kann nicht in einem neuen thematischen Inhalt gesucht werden, der als Eigenthema gegenüber Schöpfung, Versöhnung und Erlösung darstellbar wird. Das zeigt sich auch im Neuen Testament und wird in Joh 16,13-15 sogar ausdrücklich unterstrichen:

„Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden[17]; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird’s von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.“ – Er wird nicht aus sich selber reden: Die Initiative des Geistes besteht nicht darin, dass er das Wirken und Reden des Vaters und des Sohnes mit einem gleichsam eigenen Thema anreichert und ergänzt. Er tritt – so gesehen – immer hinter dem Wirken und Reden des Vaters und des Sohnes zurück. Seine „arcana operatio“ (vgl. Überschrift zu III,1) liegt in seinem Wesen begründet. Auf dem Hintergrund des Wirkens des Vaters und des Wirkens des Sohnes ist Gottes Geist mit einem Transparent zu vergleichen, durch das das Licht ihres Wirkens in unser Leben fällt. Aber ohne dieses Transparent käme das Licht gar nicht zu uns! Ohne Gott in der Zuwendung des Heiligen Geistes blieben Gott in der Zuwendung des Vaters und in derjenigen des Sohnes fremde, ferne Größen.

Genau das hat Calvin mit seiner Pneumatologie herauszuarbeiten versucht. Gerade das aktuelle Zur-Wirkung-Kommen des Werks des Vaters und des Werks des Sohnes müssen nochmals als ein eigenes Werk verstanden werden. Das Werk des Geistes ist zwar transparent, aber zugleich ein unverwechselbar, unvertretbar eigenes Werk der göttlichen Trinität. Der Vater ist der Schöpfer. Aber dass in der Realisierung des Schöpferwortes Dasein entsteht, ist Werk des Geistes. Der Sohn ist der Versöhner und Erlöser. Aber dass in der Realisierung von Versöhnung und Erlösung Menschen tatsächlich versöhnt und erlöst werden, ist wiederum Werk des Geistes. Der Geist bringt zur Wirkung, was Gott der Vater und Gott der Sohn tun. Und indem der Geist das tut, schafft er Leben, schenkt er Wahrheit, stiftet er Beziehung, eröffnet er Kommunikation, durchbricht er jegliche Abschirmung von Gott, reißt er uns aus der Anfechtung, tröstet er in der Verzweiflung. All das geschieht, damit wir mit Gott und mit Christus zusammengeschlossen werden. Genauer: In der Zuwendung des Heiligen Geistes schließt sich Gott als der Vater und der Sohn mit uns zusammen. Er vergegenwärtigt sich auf die dichteste und innigste Weise, in der er sich vergegenwärtigen kann. Die Seinsweise des Geistes steht also für die Dimension der Gegenwart und der Selbstvergegenwärtigung im Geheimnis Gottes. Geist ist der sich selbst gegenwärtige Gott. Und so ist Geist der uns gegenwärtige Gott. Ohne das verborgene und in der Verborgenheit zuhöchst wirksame Handeln des Geistes wäre die Rede von der Gegenwart Gottes und die Rede von der Gegenwart Jesu Christi inhaltsleer, wäre bestenfalls von einer virtuellen (aber nicht aktuellen) Präsenz die Rede.

So werden Gottes Aktualität, seine Präsenz, sein Wirken in allen Dingen trinitätstheologisch identifizierbar – sie tragen den Namen des Heiligen Geistes. Alles, was Gott wirkt, und alles, was mit diesem Wirken im Zusammenhang steht, ereignet sich in der Gegenwart des Heiligen Geistes. Wenn wir die trinitarischen Relationen so genau wie möglich theologisch verstehen wollen, müssen wir sie als pneumatologische Kategorien begreifen: Indem Gott in der Seinsweise des Geistes in uns zur Wirkung bringt, was Gott in der Seinsweise des Vaters und Gott in der Seinsweise des Sohnes für uns tun, durchbricht er jegliche Selbstverschlossenheit, um uns mit sich zusammenzuschließen. Es gibt keine genauere Appropriationsbeschreibung für das Walten und Wirken des Heiligen Geistes als den Versuch, das Aktionsmoment im Leben des dreieinigen Gottes der Seinsweise des Geistes zuzuordnen. Gott in der Seinsweise des Geistes bedeutet Gott in der kommunikativen Aktion der Liebe. Gottes Gegenwart verwirklicht sich als Geistesgegenwart: Geist ist der uns gegenwärtige Gott. Und Geist ist der sich selbst gegenwärtige Gott.

Geist bedeutet für Calvin: Gott in Aktion, in Wirkung, in dichtester, intensivster Nähe, aber ebenso auch in anonymer, verborgen bleibender Vitalität. Gott in Aktion: Das ist die treffendste Kurzbeschreibung für das Wirken des Heiligen Geistes. Demgemäß hat Calvin die Spezifika der drei Seinsweisen Gottes bestimmt: Dem Vater wird der Anfang des Handelns („principium agendi“) zugeschrieben; er ist aller Dinge Quelle und Brunnen („fons et scaturigo“) (I, 13,18)[18]. Dem ewigen Sohne eignen Weisheit, Rat und „dispensatio in rebus agendis“ (ebd.)[19]. Dem Geist aber werden Kraft und Wirksamkeit im Handeln zugeordnet: „ ... at Spiritui virtus et efficacia assignatur actionis“ (ebd.)[20]. Virtus und efficacia dessen, was der eine Gott als der Vater und als der Sohn tut, bezeichnen die Eigenart des Heiligen Geistes im Geheimnis der Trinität. Gottes Geist wird von Calvin also als diejenige Seinsweise des dreieinen Gottes charakterisiert, in welcher das göttliche Planen und Handeln zur aktuellen Wirkung gelangen. Nochmals: Der Geist tut gegenüber dem Tun des Vaters und dem Tun des Sohnes nichts Eigenes, er präsentiert kein neues Thema, das ergänzend zu den großen Themen von Schöpfung und Erlösung hinzuträte. Das Eigene des Geistes – so Werner Krusche – ist gerade das, „daß er nichts Eigenes tut, sondern das Tun des Vaters und des Sohnes verwirklicht“[21]. Im Geist kommen das Handeln des Vaters und des Sohnes zur Wirkung.

Krusche hat Calvins pneumatologische Präzisierung des göttlichen Wirkens kongenial erfasst und einprägsam so beschrieben: Gott sei für Calvin Heiliger Geist „als der wirksam Handelnde und der handelnd zur Wirkung Gelangende“[22]. Darin bringe Gott als Heiliger Geist „das Wirken des Vaters und des Sohnes zum Ziel“[23]. „Alles, was Gott wirkt – und er wirkt alles und wirkt immer! –, ist in seiner Wirkung Wirken des Heiligen Geistes. Es gibt schlechterdings kein Handeln des Vaters und des Sohnes, das wirksam würde ohne das Wirken des Geistes. Alles göttliche Wirken ist in seiner Spitze pneumatisch. Der Geist ist die Dei manus, qua suam potentiam exercet[[24]]. Und es gilt auch die Kehrseite: wo Gott seinen Geist entzieht oder vorenthält, beläßt er sein Wirken in der Negativität, benimmt er ihm seine Wirksamkeit. Im Kreaturbereich heißt das: Aufhören der Lebendigkeit – also: Tod; im Heilsbereich: das große ‚frustra’ über dem gesamten Heilsgeschehen – und also: Verwerfung.“[25]

Damit wird der heilsgeschichtliche Horizont der Geistlehre deutlich überschritten. Wenn alles göttliche Wirken in seiner Spitze pneumatisch ist, dann gibt es auch einen kreatürlichen Horizont der Geistlehre, denn es muss ja nun realisiert werden, dass auch das Wirken des Schöpfers im Wirken des Geistes an sein Ziel gelangt.

3. Das Schöpferwirken des Heiligen Geistes
Folgerichtig entfaltet sich Calvins Pneumatologie in zwei Richtungen – einmal in die Richtung der Neuschöpfung und Erlösung, die wir im ersten Teil angesprochen haben, und sodann in die Richtung der Schöpfung und Erhaltung des Kosmos und des kreatürlichen Lebens. Wenn alles göttliche Wirken in seiner Spitze pneumatisch ist, müssen creatio und gubernatio der Welt als immer pneumatisch gewirkt sein. Die Pneumatologie wird an dieser Stelle zur trinitarischen Brücke zur Providenzlehre, denn Gottes Geist ist selbstverständlich der effector providentiae[26]. Mit seiner allgemein wirkenden Kraft („virtus generalis“), „wie sie an der Menschheit und auch an der ganzen übrigen Kreatur in Erscheinung tritt, belebt und erhält er uns“.[27] Damit bekommt das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens eine bemerkenswerte pneumatische Grundierung.

In der Geistlehre der Kirche hat es auch vor Calvin ein Wissen um die verborgene Präsenz des Geistes im Werk der Schöpfung gegeben[28]. Die Fülle der alttestamentlichen Belege für das Wirken einer ruah Gottes waren schwerlich zu übersehen. So wie Gott dem erstgeschaffenen Menschen seinen Lebensodem vermittelt (vgl. Gen 2,7), kann auch von ihm gesagt werden, dass er die Schöpfung schlechthin mit seiner ruah erfüllt und dadurch lebendig macht. Ohne Gottes ruah kann man sich im Alten Testament Leben nicht vorstellen. Wenn Gott den Geschöpfen die ruah nimmt, „vergehen sie und werden wieder Staub“ (Ps 104,29). Wenn er aber seine ruah aussendet, werden sie geschaffen – „und du machst neu die Gestalt der Erde“ (Ps 103,30; vgl. Hi 33,4; 32,8). Das alttestamentliche Wissen um die lebensspendende Kraft des sich an die Schöpfung mitteilenden Atems Gottes erlaubt es, Schöpfung und Erhaltung mit einer schöpferischen Beatmung des Geschaffenen durch den göttlichen Hauch zu vergleichen. So Jes. 42,5: Gott der Schöpfer gibt „dem Volk auf der Erde den Odem (nesama) und den Geist (ruah) denen, die auf ihr gehen.“ Oder Ps 33,6: „Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht und all sein Heer durch den Hauch seines Mundes.“

So hat auch Luther von einem „duplex Spiritus“ sprechen können: „Duplex spiritus, quem Deus donat hominibus: animans et sanctificans“. Der „spiritus animans“ wirke belebend und inspirierend auf das Geschöpfsein des Menschen. In quasipfingstlicher Sprache konnte Luther sagen, dass alle klugen, geschickten, gebildeten, tapferen und großmütigen Menschen „afflati sunt spiritu Dei animante“, während die Christen und Frommen „habent spiritum sanctificantem“[29]. Es handelt sich freilich um eine singuläre Äußerung, außerdem fällt auf, dass Luther es vermeidet, den „spiritus animans“ als „Spiritus sanctus“ zu charakterisieren. Das wird mit der im Gegenzug gegen die sogenannten Schwärmer vorgenommenen Bindung des Wirkens des Geistes an Wort und Sakrament zu tun haben, nach der alles, „was ohn solch Wort und Sakrament vom Geist gerühmet wird, das ist der Teufel“[30].
Gleichwohl hat Luther in seinen verschiedenen Auslegungen zu Gen 1 auch die Präsenz des Heiligen Geistes im Werk der Schöpfung zur Geltung gebracht, ihn als „das leben und erhaltung aller dinge“ und als „das band“ beschreiben können, „das da alle Creaturen halte und allen yhre ubung und wirckung gebe“[31].

Natürlich hat auch Calvin bei seinen Auslegungen der Genesis das Geistzeugnis der Texte zu beachten gewusst und möchte das Schweben des Geistes über dem Wasser in Gen 1,2b am liebsten im Sinne einer alles tragenden und ordnenden Kraft (vigor) Gottes deuten, wobei er sich auch auf Ps 104,29f. berufen kann[32]. Aber anders als Luther baut er den Weltbezug der Pneumatologie konsequent aus. Damit hat er eine in der Geschichte der Pneumatologie einzigartige Geistlehre vorgelegt – eine Geistlehre nämlich, die nicht nur ihre trinitätstheologischen Implikationen folgerichtig explizit werden lässt, sondern die es versteht, das alttestamentliche Geistzeugnis in vollem Umfang aufzunehmen.

Es bedarf keines Kommentars, dass Christologie und Soteriologie im Zentrum aller pneumatologischen Erwägungen stehen. Der Erkenntnisgrund auch für das Wirken des Geistes im Werk der Schöpfung ist eindeutig mit dem Wirken des „Spiritus sanctificationis“ gesetzt. Aber darüber hinaus gibt es eben eine verborgene Präsenz des Geistes in der Schöpfung. Durch ihn werden alle Dinge getragen und erhalten, wird der Kosmos vor dem Absturz ins Nichts bewahrt, wird auch die außermenschliche Kreatur ins Leben gerufen und am Leben erhalten. Die immer wieder nur zu bewundernde Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Schöpfung führt Calvin auf das kreatürliche Wirken des Heiligen Geistes zurück[33]. Gottes Treue zur Schöpfung, welche im Geist wirksam wird, kann Calvin auch als „generalis Dei gratia“ charakterisieren (II,2,17). In besonderer Weise manifestiert sie sich in den Gaben, die der Geist den Menschen für die Gestaltung ihres Lebens und Zusammenlebens verleiht.

So sah Calvin so etwas wie politische Charismen[34], die dem Menschen verliehen werden können, damit gegen die allgemeine Verwirrung des öffentlichen Lebens durch die Macht der Sünde jener Lebenswille zum Zuge kommen kann, dem die Welt ihr Dasein verdankt. Wo auch immer das Leben ermöglicht und gefördert wird und vor dem Sturz in das Chaos und die Katastrophe bewahrt bleibt, sah Calvin den Geist am Werk. Die Vorstellung vom Wirken des Geistes im Werk der Schöpfung führt hier zu einer pneumatologischen Konkretion der Lehre von der göttlichen Vorsehung und Erhaltung der Welt. Was sich auch immer an fördernder Wahrheit in der Profanität zeigt, wird vom Geist gewirkt. Die Welt ist zwar von Gott entfremdet. Aber sie ist nicht so entfremdet, dass nicht hier und dort und immer wieder das Licht der Wahrheit aufzuleuchten vermag und das Leben aller erfreulich und erträglich machen kann. Hier solle keiner fragen: „Was haben denn die Gottlosen [impii] mit dem Heiligen Geist zu schaffen, sie sind doch ganz und gar von Gott getrennt?“ (II,2,16) Es heiße zwar, der Geist Gottes wohne nur in den Gläubigen (vgl. Röm 8,9), aber das müsse auf den Geist der Heiligung bezogen werden, „durch den wir Gott selber zum Tempel geweiht werden“ (ebd.). „Aber darum erfüllt, bewegt und kräftigt Gott durch die Kraft desselben Geistes [eiusdem Spiritus virtute] nicht weniger alle Dinge, und zwar entsprechend der Eigenart jedes einzelnen Wesens, wie er sie ihm durch das Gesetz der Schöpfung [creationis lege] zugewiesen hat.“ (ebd.)

Calvin argumentiert hier faktisch auf der Linie einer Tradition, die man Ambrosius zugeschrieben hat und die im Mittelalter sehr geschätzt worden ist: „Omne verum, a quocumque dicitur, a Spirito Sancto est – Jede Wahrheit, von wem sie auch ausgesprochen werden mag, stammt vom Heiligen Geist.“[35] So heißt es im Kontext des Anthropologie-Kapitels Institutio II,2:
„Sooft wir heidnische [profanos] Schriftsteller lesen, leuchtet uns aus ihnen wunderbar das Licht der Wahrheit [lux veritatis] entgegen. Daran erkennen wir, daß der Menschengeist zwar aus seiner ursprünglichen Reinheit herausgefallen und verdorben, daß er aber doch auch jetzt noch mit hervorragenden Gottesgaben [donis Dei] ausgerüstet und geschmückt ist. Bedenken wir nun, daß der Geist Gottes die einzige Quelle der Wahrheit [unicum veritatis fontem] ist, so werden wir die Wahrheit, wo sie uns auch entgegentritt, weder verwerfen noch verachten – sonst wären wir Verächter des Geistes Gottes! Denn man kann die Gaben des Geistes [dona spiritus] nicht geringschätzen, ohne den Geist selber zu verachten und zu schmähen! Wieso auch? Wollen wir etwa leugnen, daß den alten Rechtsgelehrten die Wahrheit geleuchtet habe, wo sie doch mit solcher Gerechtigkeit die bürgerliche Ordnung und Zucht [civilem ordinem et disciplinam] beschrieben haben? Wollen wir sagen, die Philosophen seien in ihrer feinen Beobachtung und kunstvollen Beschreibung der Natur blind gewesen? Wollen wir behaupten, es hätte denen an Vernunft gefehlt, die die Kunst der Beweisführung dargestellt und uns vernünftig zu reden gelehrt haben?“ (II,2,14)

Calvin verweist weiter auf Mathematik und Medizin und führt die Erleuchtung unserer Vernunft im Kosmos der Wissenschaften auf Gottes Geist zurück (vgl. ebd.). Das Entsprechende gilt für Handwerk und Kunst (vgl. II,2,16). Die auf das Wirken des Geistes zurückzuführende Kunstfertigkeit der Architekten der Stiftshütte, Bezaleel und Oholiab, lässt an eine pneumatologisch begründete Kunsttheorie denken (vgl. ebd.). Und damit wir an dieser Stelle dem Schöpfer recht dankbar sein können, erschuf Gott auch die Toren, „um an ihnen zu zeigen, was für Fähigkeiten eigentlich die Menschenseele auszeichnen, wenn sie nicht von seinem Lichte durchflutet ist“ (II,2,14).

Man hat verschiedentlich gemeint, dass in solchen Textpassagen Calvins heimlicher Renaissancehumanismus zum Vorschein komme. Daran mag richtig sein, dass der Renaissancehumanismus einen Theologen wie Calvin zur Wertschätzung wissenschaftlicher Arbeit inspirierte. Aber schon Calvins rechtfertigungstheologisches Verständnis des Menschen widersprach diesem Renaissancehumanismus ebenso wie Luthers Kritik an Erasmus. Was hier einzig und allein positiv gewürdigt wird, ist die Erleuchtung der menschlichen Vernunft zur sachgemäßen Gestaltung des irdischen Daseins. Und die Würdigung war nur deshalb möglich, weil Calvin hier den Heiligen Geist am Werke sah. An diesem Punkt argumentierte er sehr klar und theologisch fundiert – und verfährt in seiner die Wertschätzung der Vernunft zum Ausdruck bringenden Argumentationsweise m.E. sogar präziser als Luther und die von Luther bestimmte Denktradition.

4. Das Wirken des Geistes in Wort und Sakrament
Wir wenden uns wieder dem Wirken des Heiligen Geistes im Raum des Glaubens und der christlichen Gemeinde zu. Hier verdienen zwei Konkretionen der Geistlehre Calvins unsere besondere Aufmerksamkeit. Die eine Konkretion betrifft Calvins Schriftverständnis und die von ihm entwickelte Lösung des zentralen hermeneutischen Problems. Die andere bezieht sich auf das Verhältnis von Geist und Sakrament und die Deutung der Präsenz des Gekreuzigten und Auferstandenen in der Feier des Abendmahls.

4.1 Geist und Schrift
Die reformatorische Theologie war aus einer neuen Hinwendung zur Heiligen Schrift erwachsen. Die Autorität der Schrift wurde nun nicht mehr aus der Autorität der Kirche abgeleitet; vielmehr hatte sich die Autorität der Kirche und ihrer Lehre an der Autorität der Heiligen Schrift auszurichten und zu messen (vgl. dazu I,7,1-2). So ist auch das Vertrauen, dass sich uns Gott authentisch in der heiligen Schrift mitteilt, nicht davon abhängig, dass die Kirche diese Authentizität feststellt und bekräftig – „die Wahrheit der Schrift erweist sich ganz von selbst“ (I,7,2).

Diese Wahrheit erweist die Schrift für ihre jeweiligen Leser und Hörer freilich nicht ohne das Wirken des Heiligen Geistes. Calvin spricht hier vom testimonium Spiritus sancti arcanum bzw. internum (I,7,4)[36] und hat damit die Lehre von der Schrift um einen bedeutsamen und seitdem immer wieder beachteten Topos erweitert[37]. Woher gewinnen wir eigentlich die Gewissheit, dass die Schrift von Gott zeugt und nicht nur bloßes Menschenwort ist? Wie kommt es dazu, dass die Worte der Schrift Glauben wecken? Das ist die immer wieder brennende Kardinalfrage im Umgang mit der Bibel. Darauf lassen sich durchaus bemerkenswerte gelehrte Antworten entwickeln. Aber letztlich gibt es keine noch so überzeugende Antwort, die sich nicht ihrerseits wieder in eine Frage verwandeln könnte. Trotz aller vernünftigen Gründe, die für den Zeugnischarakter der Heiligen Schrift angeführt werden können und die auch nicht unterschätzt werden dürfen, hält es Calvin für einen Irrtum, „wenn man meint, der Schrift auf dem Wege des Disputierens ihre Glaubwürdigkeit sichern zu können“ (ebd.). Die „Festigkeit der Überzeugung [muss] an höherer Stelle begründet sein als in menschlichen Vernunftgründen, Urteilen oder Mutmaßungen, nämlich im geheimen Zeugnis des Heiligen Geistes“ (ebd.).

Für die Entstehung und Vergewisserung des Glaubens in der Begegnung mit dem Schriftwort tritt Gott selber ein. Das Zeugnis des Geistes weckt Glauben; und erst mit diesem Zeugnis wird uns das Wort der Schrift zur Anrede des lebendigen Gottes. Das ist die Antwort Calvins auf das hermeneutische Problem. Hier entsteht eine innige Korrespondenz von Wort und Geist: „Denn der Herr hat die Gewißheit seines Wortes und seines Geistes wechselseitig fest verknüpft. So kommt es einerseits erst dann in unserem Herzen zu einer festen Bindung an das Wort, wenn der Geist uns entgegenstrahlt, der uns darin Gottes Antlitz schauen läßt. Und andererseits empfangen wir den Geist ohne alle Furcht vor Täuschung, wenn wir ihn an seinem Bilde, an dem Wort wiedererkennen.“ (I,9,3) Calvin verdeutlicht das an den Emmaus-Jüngern, denen Christus das Verständnis der Schrift geöffnet habe (vgl. Luk 24,27), „nicht damit sie ohne die Schrift aus sich selber klug würden, sondern damit sie die Schrift erkennten“ (ebd.).

4.2. Geist und Sakrament
Die enge Korrespondenz zwischen Wort und Geist ist nicht nur in hermeneutischer Hinsicht für die Begegnung mit dem Schriftwort bedeutsam, sie gilt ebenso für die Begegnung mit den verba visibilia, den Sakramenten. Calvin nimmt den Gedanken des testimonium Spiritus sancti bei der Klärung des Sakramentsbegriffs wieder auf. Die Wirkung von Taufe und Abendmahl ist unmittelbar von der Präsenz des Heiligen Geistes abhängig. Durch das Licht des Heiligen Geistes eröffnet Gott dem Wort und den Sakramenten den Zugang zu unserem Herzen; „anderenfalls […] würden sie bloß an unser Ohr klingen oder uns vor die Augen gestellt werden, aber das Innere [interiora] in keiner Weise berühren“ (IV,14,8). Sie würden also gänzlich „extra nos“ bleiben[38]. Allein die Kraft des Heiligen Geistes eröffnet den Sakramenten einen Zugang zu unserer Seele (vgl. IV,14,9). „Ist der Heilige Geist nicht dabei, so können die Sakramente unseren Herzen nicht mehr schenken, als wenn der Glanz der Sonne blinden Augen erstrahlt oder eine Stimme an taube Ohren klingt.“ (ebd.) Ausschließlich beim Geist liegt die virtus agendi, die Wirkkraft, aber den Sakramenten bleibt nur die dienende Funktion überlassen, ein Dienst (ministerium), der ohne die Wirkung des Geistes „leer“ und „wertlos“ bleibt, „aber von großer Kraft erfüllt ist, wenn der Geist im Innern am Werke ist und seine Kraft offenbart“ (ebd.).

Auf diese Weise erreicht Calvin zweierlei: Er kann die Sakramente von dem Verdacht eines magischen Missverständnisses freihalten, nach dem sie schon durch den bloßen Vollzug (ex opere operato) wirken würden. Und er kann andererseits eine nur zeichenhafte Interpretation vermeiden. Die Sakramente wirken etwas, weil der Heilige Geist durch sie wirkt. Sie sind signa efficacia, Wirkzeichen kraft des durch sie wirkenden Geistes. So lässt sich durchaus von einem testimonium Spiritus sancti internum auf sakramentaler Ebene reden. Wort und Sakramente bekräftigen unseren Glauben, indem sie uns den Heilswillen Gottes vor Augen stellen. Umgekehrt bekräftigt der Geist unseren Glauben, „indem er solche (durch Wort und Sakrament gewirkte Bekräftigung) in unsere Herzen eingräbt und sie dadurch wirksam macht“ (IV,14,10).

Die Wirksamkeit des Geistes spielt dann bei der Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl eine prominente Rolle. Bekanntlich präzisiert Calvin die Realpräsenz Christi in der Feier des Mahls als Spiritualpräsenz. Das Mahlgeschehen wird als komplexer Vorgang begriffen, in dem uns der gekreuzigte und auferstandene Christus mit Brot und Wein seine Gemeinschaft schenkt und sich als geistliche Speise darreichen lässt, damit wir ihn empfangen und in ihm an der ganzen Fülle seiner Gnadengaben Anteil erlangen.

Für Calvins Theologie gibt es keine dichtere Gemeinschaft als die, die durch den Heiligen Geist vermittelt und gewirkt wird. Das gilt auch für die Gemeinschaft mit dem zur Rechten Gottes sitzenden auferstandenen Christus, dessen Leib und Blut durch die Selbstvergegenwärtigung im Geist aus der Entfernung des Himmels zu uns dringt, um uns zur Speise zu werden (vgl. IV,17,10). Durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes wird auch hier in Wahrheit geeint, „was räumlich getrennt ist“ (ebd.). Seine verborgene, unbegreifliche Kraft sorgt dafür, „daß wir mit Christi Fleisch und Blut Gemeinschaft haben“ (IV,17,33). Kraft des Wirkens des Heiligen Geistes werden wir, „wenn wir gemäß der Einsetzung des Herrn im Glauben das Sakrament empfangen, wahrhaft der eigentlichen Wirklichkeit des Leibes und Blutes Jesu Christi teilhaftig“[39]. Der Gedanke der Realpräsenz ist für Calvins Auffassung unter der Voraussetzung nachvollziehbar, dass die Selbstvergegenwärtigung Christi durch den Heiligen Geist vermittelt wird, der die Glaubenden mit dem zur Rechten des Vaters sitzenden Menschensohn zusammenschließt. Realpräsenz wird als geistgewirkte Christuspräsenz präzisiert. Das ist folgerichtig: Wenn Gottes Geist die Momente der Präsenz, Gemeinschaft und Nähe im Geheimnis Gottes auf sich vereint, dann kann überhaupt nur pneumatologisch von der Gegenwart Jesu Christi gesprochen werden, auch im Abendmahl.

5. Resümee
Calvin hat uns eine Geistlehre hinterlassen, deren Potentiale weitaus größer sind als das, was man bisher aus ihnen geschöpft hat. Sein pneumatologisches Konzept zeichnet sich durch zweierlei aus:

Erstens durch die christo-soteriologische Konzentration. Das Herzstück seiner Geistlehre bildet die Klärung der Frage, wie Gott und Christus zu uns kommen und wie wir durch den Geist zur Erkenntnis des sich mit uns versöhnenden Gottes geführt werden und in der Gemeinde aus der schöpferischen Fülle des Geistes leben können.

Zweitens: Aber diese Konzentration führt nicht zur Verengung. Sie ermöglicht vielmehr den Blick in die Weite von Kosmos und Geschichte, um die lebensspendenden Manifestationen des Heiligen Geistes auch dort zu erkennen, wo die Welt ihre Schönheit zeigt und vor dem Absturz ins Chaos bewahrt bleibt und wo Menschen in Weisheit erleuchtet werden, um das Gute, Richtige und Menschengerechte zu tun.

Die Pneumatologie ist pfingstlich verankert. Aber von Pfingsten her darf nun auch die vom Elend des Bösen verwirrte Welt im Lichte des Pfingstgeschehens betrachtet werden. Gott ist ihr viel näher, als sie weiß und als wir ihr theologisch zugestehen möchten. Er ist ihr in dichtester Weise nahe – im Heiligen Geist.

Zitationsweise:
Michael Beintker, Calvins Theologie des Heiligen Geistes, auf: www.reformiert-info.de, August 2008, URL: http://www.reformiert-info.de/2435-0-56-3.html (Abrufdatum)



[1] Wir zitieren den deutschen Text der Ausgabe von 1559 nach der Übersetzung von Otto Weber: Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae religionis, Neukirchen-Vluyn 21963. Lateinische Zitate entstammen den Opera selecta (OS): Johannes Calvini opera selecta III-V, München 1928-1936.

[2] Werner Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Berlin 1957, 11.

[3] S. van der Linde, De Leere van den Heiligen Geest bij Calvijn, Wageningen 1944.

[4] A. Baars, Om Gods verhevenheid en Zijn nabijheid. De Drie-eenheid bij Calvijn, Kampen 2004.

[5] Myung-Sun Moon, Das Wirken des Heiligen Geistes zur Stiftung der Gemeinschaft mit Jesus Christus. Eine Untersuchung zu Johannes Calvins Pneumatologie nach der Institutio von 1536 und der Institutio von 1559, Heidelberg 2007 (http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/8154/).

[6] OS III, 131, Z. 3-4. Calvin zitiert aus Gregors Taufrede (In sanctum baptisma MSG 36, 418).

[7] Überschrift zu I,13 (OS III, 108, Z. 20 u.ö.).

[8] Vgl. dazu Hans Helmut Eßer, Hat Calvin eine „leise modalisierende Trinitätslehre?“, in: Wilhelm H. Neuser (Hg.), Calvinus Theologus. Die Referate des Europäischen Kongresses für Calvinforschung vom 16. bis 19. September 1974 in Amsterdam, Neukirchen-Vluyn 1976, 113-129.

[9] Vgl. OS III, 116, Z. 33.

[10] Vgl. OS III, 134f. passim.

[11] „ ... ubi autem adiungitur Filius Patri, tunc in medium venit relatio: atque ita distinguimus inter personas“ (OS III, 134, Z. 6f.; Institutio I,13,20).

[12] Vgl. Adversus Petri Caroli calumnias (1545), CO 7, (293-339) 323f.

[13] Vgl. CChr.SL 39, 905f. (Auslegung zu Ps 68,5).

[14] Vgl. OS III, 133, Z. 16ff.

[15] Vgl. OS III, 133, Z. 23.

[16] AaO, Z. 20-22; vgl. CChr.SL 50, 210ff.

[17] Hervorhebung vom Verf.

[18] OS III, 132, Z. 9.

[19] AaO, Z. 10f.

[20] AaO, Z. 11.

[21] Krusche (Anm. 2), 11.

[22] AaO, 11.

[23] Ebd.

[24] Zitat aus OS IV, 4, Z. 21 (Institutio III,1,3).

[25] Krusche (Anm. 2), 11f.

[26] Vgl. Krusche, aaO, 17, 122. – Zur kosmischen und geschichtlichen Entgrenzung der Pneumatologie durch Calvin siehe auch Christian Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, Gütersloh 1991 (= HST 7), 125f., 131f., sowie Michael Beintker, Creator Spiritus. Zu einem unerledigten Problem der Pneumatologie, EvTh 46, 1986, 12-26, speziell zu Calvin 20ff.

[27] Institutio 1559, III, 1, 2 (deutsche Übersetzung nach O. Weber), vgl. OS IV, 2, Z. 12-14.

[28] Vgl. zu den Einzelheiten Beintker, Creator spiritus (Anm. 26), 14ff.

[29] Alle Zitate nach WA.TR 5, 367, Z. 12-16 (Nr. 5817).

[30] Die Schmalkaldischen Artikel, in: BSLK 456,3-5.

[31] WA 24,30, Z. 25ff. (Predigten 1527); vgl. auch WA 12, 450, Z. 5-8 (Predigten 1523).

[32] Vgl. CO 23, 16.

[33] Zu den Einzelnachweisen siehe Krusche (Anm. 2), 15ff.

[34] Vgl. aaO 95ff.

[35] Yves Congar, Der Heilige Geist, Freiburg/Br. 1982, 311f.

[36] Vgl. OS III,69, Z. 11 und 70, Z. 5

[37] Vgl. etwa Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen-Vluyn 41964, 266-273.

[38] Vgl. das oben, S. 3 zum Extra nos Christi Gesagte.

[39] Kleiner Abendmahlstraktat (1541), in: Calvin-Studienausgabe 1.2, 493.

Zitationsweise:
Michael Beintker, Calvins Theologie des Heiligen Geistes, auf: www.reformiert-info.de, August 2008, URL: http://www.reformiert-info.de/2435-0-56-3.html (Abrufdatum)

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Professor für Reformierte Theologie, Direktor des Seminars für Reformierte Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster


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