Das ›wahre Reformationsjubiläum‹ und die zukünftige Christenheit

Interview mit Jürgen Moltmann

©Bild: Achim Detmers

Die Fragen stellte Achim Detmers

Herr Moltmann, in wenigen Monaten startet das Reformationsjubiläum 2017. Warum ist die Reformation für die Evangelische Kirche so wichtig, dass sie mit neun eigenen Themenjahren auf dieses Jubiläum hingearbeitet hat?

Moltmann: Das geschah zur gründlichen Selbstvergewisserung der Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, nicht nur der evangelischen Kirche in Deutschland. Und die Themenjahre dienten nicht der Abgrenzung von anderen Kirchen, sondern im ökumenischen Geist dem Gemeinsamen aller christlichen Kirchen. Ich denke, das ist der Grundgedanke der Reformation: Wir müssen zum Ursprung zurück, um in die Zukunft zu gehen, die am Ursprung erschienen ist. Wir können immer wieder mit dem Anfang anfangen. Je näher wir zu Christus kommen, desto näher kommen wir zueinander. Der Höhepunkt der Jubiläumsfeiern 2017 soll ja ein »Christusfest« werden.

Mit dem ›Jubiläum‹ der Reformation wird zugleich auch der Bruch des Protestantismus mit der Römischen Kirche ›gefeiert‹. Nicht selten erscheint Luther in den Verlautbarungen als Vorkämpfer der Moderne und als Glaubensheld, der die Römische Kirche überwunden hat. Kommen hier Glaubenstrennung und Konfessionalismus neu zum Zuge?

Moltmann: Nein, die Reformation war ursprünglich eine katholische Reformation, d. h. eine Reformation der »einen, apostolischen und katholischen Kirche«. Protestantisch wurde sie erst, als die Kirchen des Evangeliums Staatskirchen wurden. Heute ist die Selbständigkeit der Kirche angesagt: Weder Kirchenstaat noch Staatskirche helfen weiter. Die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) hat sich 1945 richtigerweise umbenannt in »Evangelische Kirche in Deutschland« (EKD). Denn wir sind ein Teil der weltweiten Christenheit; Deutschland ist nur unser Ort, nicht unser Vorzeichen. Das wahre ›Reformationsjubiläum‹ in unserer Zeit und an unserem Ort sehe ich in dem Kirchenkampf der Bekennenden Kirche gegen die ›Deutschen Christen‹ unter der Nazidiktatur und ihrer Barmer Theologischen Erklärung von 1934.

Anders als Luther eignet sich der Genfer Reformator Calvin weniger als Glaubensheld. Gleichwohl hat er eine ähnlich große Wirkungsgeschichte. Wo liegt für Sie Calvins große Stärke im Unterschied oder in Ergänzung zu Luther?

Moltmann: Luthers Thesenanschlag gegen den Ablasshandel 1517 war die Initialzündung für eine europäische Reformationsbewegung, wie das Buch »Europa reformata« beweist, das Michael Welker, Michael Beintker und Albert de Lange in der Ev. Verlagsanstalt Leipzig 2016 zusammengestellt haben. Von Finnland bis Spanien‚ von Schottland bis Ungarn reichte diese Bewegung und kam erst an ihre Grenzen, als die Gegenreformation einsetzte. Luther war eine große Gestalt, aber wir müssen nicht auf diese eine Person starren, wenn wir ›Reformation‹ sagen. Calvin war ein treuer Schüler Luthers, an manchen theologischen Stellen besser als Melanchthon. Er kam aus der Hugenottenbewegung in Frankreich, die von Anfang an verfolgt wurde und Widerstand leistete. Sie war eine Reformationsbewegung »allein aus Glauben«, nicht weil ein Landesfürst es so verfügte. Insofern war die evangelische Kirche in Frankreich eine Märtyrerkirche. Man denke nur an die Bartholomäusnacht 1572, in der 3.000 führende Hugenotten ermordet wurden, darunter Admiral de Coligny und der Philosoph Petrus Ramus.

Calvin wird nachgesagt, er habe durch seinen Einsatz für das Zinsnehmen und durch seine Arbeitsethik den ›Geist des Kapitalismus‹ befördert. Sie haben dazu 2009 gesagt, das sei Unsinn; ebenso gut könne man bei Calvin von einem »Geist des Sozialismus« sprechen. Warum waren die wirtschaftsethischen Fragen für Calvin so wichtig, dass sein Name in den Diskussionen auch heute noch genannt wird?

Moltmann: Der ›Geist des Kapitalismus‹ stammt aus Florenz in der Renaissancezeit, nicht aus Genf. Die Besitzer der großen Vermögen in der Reformationszeit waren römisch-katholisch, z. B. die Fugger in Augsburg. Warum gab es vor den Kirchen in Genf keine armen Bettler? Weil Calvin nach dem Vorbild von Apostelgeschichte 6 ›Armenpfleger‹ berufen ließ‚ die für Solidarität mit den Armen sorgten. Und auch Bismarcks Sozialversicherung geht auf die Sozialpflege der niederländisch-reformierten Gemeinde in Elberfeld zurück, die Baron von der Heydt ihm vermittelte. Darum habe ich gegen Max Weber gesagt, dass der »Geist des Sozialismus«, die Solidarität, auf Calvin zurückzuführen sei. Zudem wurde die presbyterial-synodale Ordnung der reformierten Kirchen zum Vorbild für Demokratie in der frühen Neuzeit. Und das christliche Widerstandsrecht geht auf John Knox in Schottland und Duplessis Mornay im hugenottischen Frankreich zurück. Außerdem waren die reformierten Kirchen in Holland, England und Amerika an der westeuropäischen Entwicklung stärker beteiligt als die lutherischen Kirchen in Mittel- und Nordeuropa.

In Genf wurden zu Calvins Lebzeiten tausende Glaubensflüchtlinge aus Italien und Frankreich aufgenommen. Das führte in Genf immer wieder zu Konflikten. Was würde Calvin aus seiner Erfahrung den (europäischen) Kirchen heute raten? Würde er sagen: »Wir schaffen das«?

Moltmann: Es war Christenpflicht‚ Glaubensflüchtlinge aus Italien und Frankreich aufzunehmen. Neben Calvin hat auch Johannes a Lasco die Flüchtlingsgemeinden von Emden bis Frankfurt organisiert. Auch sie waren Gemeinden »allein aus Glauben«; das zeigen die Kirchenordnungen, nach denen sie lebten. Calvin hätte keine Propagandasprüche wie »Wir schaffen das« gemacht und keine ›Willkommenskultur‹ inszeniert; er hat es für selbstverständlich gehalten und getan, weil es von Gott geboten ist nach dem Alten und Neuen Testament. Er wusste, was er den Genfer Bürgern damit zumutete.

Reformierte und Lutheraner haben sich jahrhundertelang das Leben schwer gemacht. Heute haben reformierte und lutherische Kirchen in fast allen Ländern volle Kirchengemeinschaft (und damit auch Abendmahlsgemeinschaft) vereinbart. Was war der tiefe Grund für die lange Entfremdung?

Moltmann: Widerständige Reformierte und Lutheraner waren sich im Kirchenkampf gegen die ›Deutschen Christen‹ nahe gekommen. Die Leuenberger Konkordie von 1973 beendete die Differenzen in der Abendmahlslehre und stellte die volle Kirchengemeinschaft zwischen den unterzeichnenden Kirchen her; dennoch behielten beide Traditionen ihre Eigenarten bei. Das kann als Modell für die angestrebte Kirchengemeinschaft mit der katholischen Kirche gelten. Der Grund für die lange Entfremdung war der theologische Streit um die Abendmahlslehre und die Prädestinationslehre. Der Streit um die Wahrheit darf nicht zur Kirchenspaltung führen, darf aber auch nicht aufgegeben werden. Wir brauchen eine theologische Streitkultur um die Wahrheit. Die heutige Dialogkultur dient nur der Gemeinschaft, nicht der Wahrheit.

Das Reformationsjubiläum findet in einer Zeit statt, in der sich die westlichen Kirchen in einer tiefen Krise befinden. Von dem Jubiläum werden neue Impulse für die Evangelische Kirche erwartet. Ist das realistisch? Wo müsste heute eine ›Reformation‹ der Kirche ansetzen?

Moltmann: Man muss sich die Grenzen der Reformation im 16. Jahrhundert klar machen, um über sie hinauszugehen: Sie fand nur in der römisch-katholischen Westkirche statt, die orthodoxen Kirchen waren von ihr unberührt. Sie fand außerdem unter den rechtlichen Rahmenbedingungen des Corpus Christianum statt. Danach bildeten Kirche und Staat eine geistliche und rechtliche Einheit. Nur die ›Wiedertäufer‹, die wir heute »historische Friedenskirchen« nennen, stellten diese Einheit in Frage und wurden von Katholiken und Protestanten verfolgt. Die Reformation war, wie der Name sagt, auf eine bestehende Kirche bezogen, nicht auf eine zukünftige Christenheit. Sie war eine Reformation des Glaubens, nicht der Hoffnung. Wir brauchen heute eine Renaissance der Hoffnung auf das Reich Gottes für die Mission der Kirche in der Welt. Dafür würde ich mich nicht am 16. Jahrhundert orientieren, sondern an Aufbrüchen zur Mission in den selbständigen Kirchen in Asien, Ozeanien und Afrika. Im konstantinischen Zeitalter war das Christentum Staatsreligion und der Staat das Reich Christi. Die Kirche Christi muss sich bei uns auf ein nachkonstantinisches Zeitalter vorbereiten und kann es auch, wenn sie auf die nichtkonstantinischen Kirchen achtet und von ihnen lernt. Wir leben in Jahren der Unsicherheit und Angst. Die Hoffnung ist eine große Kraft, das Leben – das gemeinsame Leben und das Leben der Erde – zu lieben und dem Töten und dem Zerstören zu widerstehen.

evangelische-zeitung.de

 

Nach oben   -   E-Mail  -   Impressum   -   Datenschutz