Die getanzte Kollekte - ''Hätte, wäre, wenn''
(22.03. / Okuli): Von Holz- und anderen Augen 3. So der Passionszeit – Okuli
»Holzauge! Sei wachsam!«, hört der Azubi den Schreinermeister noch sagen, unter dessen Argusaugen er das Brett mit dem Hobel bearbeitet. Doch zu spät. Schon bleibt der an der Aststelle hängen. »Das ging ins Auge.«
– Mal wieder. Augenscheinlich war der Augenaufschlag der augenblicklich erschienenen Schönen, die ihm da so schöne Augen machte, Auslöserin des Malheurs. Hat er auf sie doch schon lange das ein oder andere Auge geworfen, versichern Augenzeugen glaubhaft.
Die kleine Szene zeigt: Sprachbildlich wird das Sehorgan alltäglich auf vielerlei Weise im Munde geführt. So wird zum Beispiel Nachsichtigen bescheinigt, dass sie gerne mal ein Auge zudrücken. Hinlänglich bekannt ist auch, dass selbst Kurzsichtige manchmal Stielaugen bekommen, wenn ihnen etwas Besonderes – etwa ein Kirchturm – ins Auge fällt oder sticht. (Eine beliebte Stilblüte, nicht nur in Schulaufsätzen.)
Und wohl jeder weiß um den Aha-Effekt, wenn es einem plötzlich »wie Schuppen von den Augen fällt«, oder kennt das unbehagliche Gefühl, jemandem »unter die Augen treten« zu müssen. Zur gängigen Redewendung geworden ist auch die Metapher von dem über allem wachenden »Auge des Gesetzes« aus dem »Lied von der Glocke« von Friedrich Schiller.
Eine tiefgründigere Facette des Sprachbildes »Auge« zeigt der andere große deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe auf, der in seiner Farbenlehre schreibt: »In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch.« Und weiter leuchtet eine religiöse Dimension auf etwa bei der christlichen Mystikerin Hildegard von Bingen, für die das Sehorgan das »Fenster zur Seele« ist.
Andere sprechen gar gleich vom Auge als einem »Spiegel der Seele« oder »Spiegel des Inneren«. Es mag so sein. Doch heißt das nicht, dass jeder, wie manche glauben, jede Gefühlsregung eines Menschen immer und überall an seinen Augen ablesen kann. Dazu sind wohl doch zu viele Analphabeten unterwegs.
Nicht zu vergessen: Das Auge ist ein Sinnesorgan, das täuschen und getäuscht werden kann. Eine besondere Form der Täuschung ist die Selbsttäuschung, biblisch gekleidet in die Frage »Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?« (Matthäus 7,3) – Der dritte Passionssonntag »Okuli«, abgeleitet vom lateinischen Wort »oculus« für »Auge«, mahnt denn auch, sich in seinem Urteil nicht von falschen Perspektiven leiten zu lassen. [UH]
Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge?
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen. (Lukas 6,41–42)
Aus: Bernd Becker (Hg.): Die Getanzte Kollekte. 100 kurze Geschichten zum Lesen und Vorlesen.