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Tel Aviv
Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 55. Kapitel
Tobias Kriener erzählt:
30.6.2017
Gestern waren wir mal wieder in Tel Aviv - diesmal weniger zum Lernen als zum Sehen und Staunen.
Morgens hatten wir eine ganz wunderbare Führung von Guy Sharett unter dem Titel „streetwise“ durch das südliche Tel Aviv. Er machte uns auf die vielen kleinen Kunstwerke am Wegrand aufmerksam - die Bilderrahmen, die von einer Künstlerin aus dem Müll geholt, an Häuserfassaden geklebt und ausgemalt werden; die kleinen Quietscheentchen, die jemand an die Häuserwände klebt (und die gerne auch mal mitgenommen werden von Passanten); der Wal; die Künstlerin, die findet, man müsse den Ecken mehr Beachtung schenken, und deshalb Häuserecken liebevoll ausgestaltet zum Schauen und Betasten; die „Tiny Tiny Galerie“ - die kleinste Galerie der Welt, die nur aus dem einen Schaufenster besteht - aber großartige Kunst zu bieten hat, v.a. weil jeder Künstler und jede Künstlerin, die die Galerie zur Verfügung gestellt bekommt, ein Element seiner/ihrer Kunst auch an der Hauswand neben der Galerie anbringen muss; die schönen Häuser natürlich - von denen viele durch Investorenprojekte gefährdet sind - von denen wir auch ein paar angeschaut haben; der Nachbarschaftsgemüsegarten; die schönen Glasfenster der alten Synagoge.
Viele kleine, herrliche Details. Und alles ist im Fluß - im beständigen Wandel. Leider trifft das auch für Guy selber zu: er ist verheiratet mit einem französischen Diplomaten, der im nächsten Jahr den Posten wechseln muss - und Guy geht dann mit. Wir werden ihn also allenfalls noch einmal im Frühjahr 2018 genießen können.
Danach aßen wir im Shuk HaCarmel - in einem modernen Imbiss, den die Volos sehr mögen. Das Essen ist nicht traditionell; der Linsensalat, den ich hatte, war aber ganz lecker - und sicher sehr gesund...
Dann natürlich eine Station am Strand. Ich habe mich in den Schatten des Strandcafés gesetzt (die Volos haben sich irgendwo noch tiefer braun grillen lassen, als sie ohnehin schon sind...). Und da, unter den Sonnenschirmen, mit den entsprechenden Kaltgetränken ausgestattet und von einer leichten Brise vom Meer verwöhnt, lässt es sich selbst in der Mittagshitze aushalten. Aber leider muss man irgendwann wieder los und das Auto aus der Tiefgarage holen, denn wir wollen ja noch was tun für unser Geld: Das kleine Museum im alten Rathaus angucken, in dem der legendäre Bürgermeister von Tel Aviv Meir Dizengoff residierte: Wirklich ein Schmuckstück - mit einer Ausstellung, die Tel Aviv effektvoll als die hippe Stadt der Künste und des Dolce Vita am Mittelmeer rüberbringt.
Ich interessiere mich natürlich auch für die Geschichte der Stadt. Aber da ist die Ausstellung seltsam schweigsam. An zwei Stellen stieß ich auf eine Sanddüne, die eine geradezu ikonische Rolle als Ausgangspunkt der Siedlungsgeschichte zu spielen scheint: Dort wurde das erste Stadtviertel erbaut - damals noch nicht Tel Aviv genannt, sondern Achusat Bajit. Auch aus dem Wikipedia Artikel geht nicht hervor, was denn mit dem Land war, bevor es am 11. April 1909 (dies gilt als der Gründungstag Tel Avivs) am Strand versteigert wurde. Die Düne erweckt den Eindruck vom Stück Land, das bis dahin für niemanden von Nutzen war, und aus dem die zionistischen Pioniere eine Weltstadt zauberten. Aber ich bin inzwischen so „verdorben“ von den vielen unverhohlen ideologischen Konstruktionen, die mir allüberall begegnen, dass ich auf solche offiziellen israelischen Darstellungen mißtrauisch reagiere: Da muss doch vorher schon was gewesen sein. Wie kam dieses Land in den Besitz der Versteigerer? Oder ist Tel Aviv doch der Gegenbeweis für den Zionismus, der etwas aufzubauen vermochte, ohne anderen etwas wegzunehmen - der progressiv und produktiv ist - rein und unschuldig wie das Weiß dieser sprichwörtlichen „Weißen Stadt“?
Zu guter Letzt sind wir dann noch auf das Hochhaus im Azriel-Zentrum gefahren, von dem aus man einen spektakulären Blick auf die Metropolenregion Tel Aviv bis weit ins judäische Bergland hat. Leider kann man nicht aufs Dach, sondern muss das Panorama hinter Glas genießen - was vor allem fürs Fotografieren nachteilig ist. Einen Eindruck von dem Häusermeer vermitteln meine Fotos aber denke ich schon.
Der Blick nach Westen in die untergehende Sonne war besonders gehandycapt - da ist es mehr ein Spiel von gleißendem Sonnenglanz und Skyline-Schattenriss geworden.
Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, Juni 2017
Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener