Die letzten Worte Jesu am Kreuz
Predigt zu Lk 23,33-49, Joh 19,19-16-30, Mt 27, 33-50 (Karfreitag)
Gnade sei mit uns und Frieden von dem, der da war, der da ist und der da sein wird. Amen.
Liebe Gemeinde!
Wir haben vorhin als Lesung den engsten Teil der so genannten Passionsgeschichte gehört, den inneren Kern – beginnend mit dem Verhör Jesu vor Pilatus, der Krönung mit der Dornenkrone, die Kreuzigung, die Verhöhnung des Gekreuzigten und den Bericht über das Sterben und den Tod Gottes am Kreuz. Das sind die Themen des heutigen Freitags, des schwarzen Freitags, des düsteren Freitags, an dem der Verhang im Tempel zu Jerusalem zerriss in der neunten Stunde, also um drei Uhr am Nachmittag.
Kreuzigungen wurden etwa 600 Jahre vor Christus eingeführt. Gegenüber der bis dahin üblichen Hinrichtungsform war die Kreuzigung eine Verweichlichung. Die Assyrer bevorzugten die Pfählung eines Menschen. Von diesen Pfählungen gibt es Darstellungen. Man legte den an den Händen am Rücken gefesselten Menschen auf einen angespitzten Holzfahl, wo er sich durch das Eigengewicht des Körpers langsam, aber sicher aufspießte. Irgendwann durchstieß dieser Fahl die Gedärme des Menschen und er verblutete.
Diese Stangen des Todes, das Kreuz, waren demgegenüber eine Verweichlichung. Darius, der König der Perser, hat die Kreuzigung zum ersten Mal in großem Stil öffentlich eingesetzt, als er 3.000 Gegner der Krone in Babylonien kreuzigen ließ. 80 Jahre vor Christus etwa ließ Alexander von Judäa 800 Pharisäer kreuzigen. Der unrühmliche Höhepunkt war die Kreuzigung von 7.000 Männern entlang der Via Appia zwischen Rom und Capua nach dem von Spartakus angeführten Sklavenaufstand. Kreuz an Kreuz zu beiden Straßenseiten. Diese Stangen des Todes wurden eine feste Einrichtung auf öffentlichen Plätzen. Quintilius etwa empfahl dafür belebte Straßenkreuzungen, weil er fand, dass es ein gutes Mittel sei, um die öffentliche Moral zu stärken.
Nun dürfen wir freilich auch die äußere Situation im Nahen Osten nicht unterschätzen: drückende Hitze, die stechende Sonne, Fliegen und anderes Ungeziefer, streunende Hunde, Ratten. Die Mehrzahl der Gekreuzigten lebte noch zwei Tage, die Robusteren manchmal bis zu einer Woche. Der Tod trat meistens durch Erschöpfung ein oder durch Atemstillstand aufgrund der gehobenen Arme, also letztlich durch das Wasser des Körpers, das nicht mehr zirkuliert, so dass der Gekreuzigte langsam aber sicher erstickte. Die Kreuzigungen waren den ersten Christen ein so schrecklicher Anblick, dass es erst seit dem fünften Jahrhundert Kreuzesdarstellungen Jesu gibt.
Es sind, liebe Gemeinde, in den vier Evangelien sieben Sätze, sieben Worte Jesu vom Kreuz überliefert. Sieben Worte, die er während der Dauer seiner Kreuzigung sprach. Das sind die Worte, die überliefert sind. Wie viele stille Gebete dabei gewesen sein werden, ist nicht bekannt. Seine letzten Worte sind sein Testament, die Bekundung seines letzten Willens. Zigfach musikalisch bearbeitet. Und immer wieder und immer wieder neu nachdenkenswert, zu Herzen gehend.
„Vater,“ so lesen wir im Lukasevangelium „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Im Wissen darum, dass er das Kreuz nicht lebend verlassen wird, sagt Jesus diese Worte. Vater, vergib ihnen. Vergebung ist der Ausdruck tiefster Liebe und Vergebenkönnen ist der Ausdruck zutiefst gelebter Liebe. Nur wer liebt, kann vergeben. Aus Liebe zu dieser Welt, zu uns Menschen kam Gott zur Welt. So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit die, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das wahre, das wirkliche, das ewige Leben haben. Aus Liebe zu dieser Welt, aus Liebe zu uns Menschen ging Gott ans Kreuz. Im Sterben und durch den Tod hindurch hält Gott an seiner Liebe zu uns Menschen fest.
Wenn wir heute diese Worte hören, wissen wir um das Kreuzesgeschehen. Wissen wir heute, was wir tun? Oder müssen wir uns diese Worte immer noch vom Gekreuzigten zusagen lassen: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun? Es ist wohl so! Jeden Tag müssen uns diese Worte immer wieder neu zugesagt werden. Solange wir Menschen leben, laden wir Schuld auf uns. Solange wir sind, müssen wir mit unseren Fähigkeiten und Begabungen, aber eben auch mit unseren Fehlern und Schwächen leben lernen. Und solange wir leben, müssen wir uns fragen lassen angesichts der vielen und so unterschiedlichen Menschen, die dieses Schauspiel am Kreuz beobachten: Wie gehe ich mit meinem Zorn und meinen Aggressionen um? Lasse ich mich mitreißen vom Strom der öffentlichen Meinung? Hätte ich auch: „Hosianna“ gerufen und wenig später: „Kreuzige ihn!“? Und die Fragen gehen an der Stelle noch weiter: Habe ich den Mut, in eine gewaltsame Auseinandersetzung einzugreifen, damit kein Schaden angerichtet wird? Finde ich den Mut, jemanden zu verteidigen, wenn er unschuldig angegriffen wird? Hinter all diesen Fragen steckt die folgende Grundsatzfrage: Wird mein Reden und Handeln von ethischen Normen und Werten beeinflusst? Und beeinflusst mein Gewissen mein Tun?
„Mich dürstet!“ (Joh. 19,28-19) Ein anderes Wort Jesu am Kreuz. Das Wort eines Sterbenden. Wer von uns einen anderen Menschen durch das Sterben hindurch begleitet hat, weiß, dass der Durst bis zum letzten Atemzug besteht. Es ist nicht der Durst im eigentlichen Sinn, so wie wir zum Wasserhahn gehen, es ist mehr die Bitte darum, die Lippen zu befeuchten, den Mundraum auszuwaschen, die Stirn mit einem feuchten Waschlappen zu kühlen und den Schweiß zu entfernen. Jemandem so zu begegnen, jemanden so zu begleiten ist der letzte Liebesdienst, dem wir einem anderen Menschen erweisen können.
Wenn es nahe stehende Menschen sind, geschieht mit uns in diesem Moment etwas völlig Widersinniges, etwas völlig Konträres, Gegensätzliches: wir wissen um den letzten Dienst, um diesen letzten Liebesdienst, den wir dem anderen erweisen und es ist zugleich ein Dienst zum Abschied. Zum letzten Mal tränken wir, zum letzten Mal halten wir den Nacken hoch, zum letzten Mal streicheln wir über die Stirn, zum letzten Mal. Und während wir dies tun, werden Erinnerungen in uns wach. Wie im Film reihen sich Szene an Szene, Begebenheit an Begebenheit. Angesichts des Todes werden Erinnerungen an Leben wach. In diesen Schmerz des Abschieds drängt Dankbarkeit hinein. „Mich dürstet!“ – als Jesus dies gesagt hat, dem Tode nahe, hat man ihm kein Wasser gegeben. Wir erinnern uns: die Soldaten hatten ihn verspottet und ihm Essig gegeben. Es war eine Geste des Spotts und der Verachtung. Kein Trank aus lebendigem Wasser, sondern ein Trank des Todes aus bitterem Essig. In den Gesichtern stand Hass und kränkende Schadensfreude. Jesus – ein Opfer des Spotts. Kennen auch wir solche Situationen, in denen wir Gott verspotten? Oder wenn doch nicht verspotten, so dann doch links liegenlassen? Manchmal bekommen wir Gott nur in den Blick, wenn wir einen Rettungsanker brauchen. Doch Christus will mehr sein: er will die lebendige Quelle für uns und in uns sein, keine Quelle des Todes, sondern eine Quelle des Lebens. „Mich dürstet!“ – hoffentlich spüren wir diesen Durst nach Leben, nach wahrem, wirklichem Leben.
„Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46-47) Kennen wir das, liebe Gemeinde, Verlassenheit? Allein gelassen zu werden, niemanden um sich zu haben, Freunde wenden sich ab, menschliche Beziehungen sind abgebrochen. Verlassenheit heißt: die Gefühle der inneren Leere wahrnehmen, leer sein, vor einem Abgrund stehen, in ein dunkles Loch schauen, das Dunkel greifbar vor Augen haben. Verlassenheit meint: allein unter der Last zu leiden, die Schwere der Last tragen, zusammenbrechen, hinfallen und liegen bleiben, sterben wollen, den Tod herbeisehnen, keinen Boden unter den Füßen haben. Verlassenheit heißt auch: zum Spielball der Spötter werden, die eigene Würde im Dreck liegen sehen, geschlagen werden, wehrlos sein, die Selbstachtung verlieren. Verlassenheit tut weh und macht Angst.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ist das das Rufen eines Verlassenen? Ruft das wirklich einer, der keine Beziehung mehr hat? Der Schrei des Verlassenen hat einen Adressaten. Auch und gerade in der Einsamkeit, in der Verlassenheit hält Jesus daran fest, dass Gott ihn hört und wahrnimmt. Auch in der Beziehungslosigkeit beharrt der Gekreuzigte darauf, dass da einer ist. Gott wird angerufen, beklagt, angeklagt. Mit seinem Kreuz zieht Jesus Gott in die dunkelsten Niederungen unserer Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die ohne Gott nicht auskommt. Gott lässt sich auf das ein, was keiner will und jeder und jede erleiden muss: das Sterben, das Ende, den letzten Atemzug. Gott kennt den Tod. Dieses Wort am Kreuz: kein Selbstgespräch, keine vor die Leute geworfene Klage, sondern auf Gottes Antwort wartendes Gebet. Vielleicht lesen Sie zu Hause noch einmal in Ruhe Psalm 22, dieser Psalm, aus dem diese Worte entnommen sind. Denn mit diesen Worten beginnt der Psalm 22: Mein Gott, mein Gott. Aber wenn Sie diesen Psalm als Ganzes lesen, werden Sie die Bewegung nachgehen können, den dieser Psalm geht: Von der Verlassenheit zu dem Bekenntnis: Den Herren sollen preisen, die ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer. Von der Verlassenheit zum Leben, von der Klage des Einzelnen: „Ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort!“ zum Lobpreis der Völker, wenn es heißt: „Der Herr regiert als König; er herrscht über alle Völker!“ Von der Klage zum Lob. Vom Tod zum Leben. Von der Trauer zur Hoffnung.
„Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ (Lk23,41-43) Ich erinnere mich sehr deutlich, dass dieses Wort für mich als Kind und als Heranwachsender unendlich wichtig war. So grausam auch das Sterben und der Tod eines Menschen sein können, das Paradies wartet. Heute noch wirst du mit im Paradiese sein. Dieses Wort vom Kreuz ist den Menschen zugesagt, die ihr eigenes Kreuz kaum bewältigen können. Die wie Jesus darauf angewiesen sind, dass ihnen jemand hilft. Dieses Wort vom Kreuz ist ein Wort der Hoffnung für Hoffnungslose. Ein Wort des Trostes für Verzweifelte. Ein Wort des Lebens für die vom Tode Bedrohten. Ein Wort des Lebens mitten im Todesgeschehen. Und dieses Wort ist darum keine billige Vertröstung, weil es teuer erkauft ist – durch das Blut Jesu Christi. Es ist kein billiger Trost, weil der Sterbende, der gekreuzigte Gott dieses Wort vom Leben sagt.
Das Paradies: das ist kein Ort der Phantasie und keine Stadt, aus Träumen gemacht und gebaut, sondern das ist der Ort, wo die Liebe niemals aufhören wird. Der Ort, wo wir von Gott nicht mehr wie in einem Spiegel und allein rätselhafte Umrisse sehen, sondern dann schauen wir Gott von Angesicht zu Angesicht und werden ihn durch und durch erkennen, so wie wir jetzt schon erkannt worden sind. Das Paradies ist der Ort der Gottesbegegnung! Der Ort der wahren Gotteserkenntnis! Das, was einst im Garten Eden nicht hat sollen sein, wird sich hier erfüllen.
„Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30) Dieses Wort steht am Ende eines heilbringenden und spannungsgeladenen Lebens. Jesus beendet sein eigenes Leben mit dem Wort: Es ist vollbracht. Es klingt wie ein Seufzer, wie ein letzter, leiser Aufschrei nach Erlösung von einem gescheiterten Leben und einem qualvollen Todeskampf. Es ist der Schlusspunkt eines Lebens, das aus Liebe zu den Menschen bestand.
Sein Leben hat Höhen und Tiefen gekannt. Da sind die Augenblicke, in denen die Menschen zu ihm kommen, um sein Wort zu hören und sich von ihm heilen zu lassen. Es gibt die Erfahrung, dass die Menschen ihm zujubeln und ihn als König verehren. Hinzu kommen die negativen Lebenserfahrungen: die Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit, die Streitigkeiten mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Sie spitzen sich zu und haben ihren Höhepunkt in den Rufen nach dem Kreuz und dem Tod. Das Wort „Es ist vollbracht“ beinhaltet Resignation, ist aber auch ein verbales Zeichen für ein konsequentes Leben bis zum Ende. Mit diesem Wort legt Jesus sein ganzes Leben in die Hände Gottes. Er nimmt sein Leben und seinen Tod an. Der Tod gehört zu seinem Leben.
Aber Gott ist kein Gott des Todes, sondern des Lebens. Der Tod Jesu ist der Durchgang zum Leben, zum ewigen Leben. Jesus hat in seinem Leben die Liebe in seinen Taten konkretisiert und erfahrbar gemacht. Nun vollendet es Gott durch die Auferstehung. Am Ende des Lebens steht nicht der Tod, sondern das ewige Leben in Gott. Das Wort Jesu am Kreuz ist ein Ruf am Übergang vom Tod zum Leben oder von der Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft. Amen.
Gehalten Karfreitag 2007 in Herford
Quelle: Predigt-Archiv der Ev.-ref. Petri-Kirchengemeinde in Herford
Wolfram Kötter