Esel
Predigt zu Sacharja 9,9 am 1. Sonntag im Advent, 29. November 2020
Einer ist schwarz. Einer ist grau. Je nach Jahreszeit ist ihr Fell glatt oder wollig. Besonders weich sind das ganze Jahr ihre Ohren. Wenn sie die Köpfe aus der Stalltür stecken, sieht es aus, als hielten sie Ausschau. Sie kommen, wenn man sie ruft. Mit ruhig atmenden Flanken drängen sie sich sanft an ihre Menschen. Sie lieben streichelnde oder striegelnde Hände auf ihrem Fell. Außerdem trockenes Brot, saftige Äpfel und Staubbäder. Sie entscheiden gern selbst, in welche Richtung sie gehen. Manche nennen das störrisch. Jeder hat seinen eigenen Platz an der Krippe. Bedächtig kauen sie dann ihr Heu. Sie sind genügsam, nicht gierig. Einer ist grau. Einer ist schwarz.
Sie sind Esel. Ich habe sie in diesem Jahr geerbt, oder jedenfalls einen Anteil an ihnen. Dass es einmal so kommen würde, war schon abzusehen. Esel werden dreißig oder vierzig Jahre alt. Sie haben meinem Vater gehört. Und schon vor einigen Jahren hat er mir gesagt, dass wir sie wohl irgendwann werden erben müssen. Damals haben wir zusammen darüber gelacht. Aber in diesem Jahr war es soweit. Zwei Esel, sanft und wollig, genügsam und störrisch und auch wenn man Tieren keine menschlichen Gefühle zuschreiben sollte, ist es doch manchmal so, als steckten sie die Köpfe aus der Stalltür und hielten Ausschau nach ihm, der nun nicht mehr kommt.
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!
Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm
und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.
Dieses Jahr hat bisher nicht so viel Freude gemacht, uns allen nicht und mir besonders. Oft stecke ich den Kopf aus der Tür und halte Ausschau nach etwas Schönem, nach guten Nachrichten, nach einer Freude. Dabei kann man sich wie ein Esel fühlen. Aber die Tochter Zion hat es damals genau wie ich gemacht, genau wie wir. Sie hat Ausschau gehalten nach einer anderen Wirklichkeit. Sie war umgeben von Schutt und Asche. Nach einer Katastrophe lebten sie damals in Israel. Ihr Land war erobert worden von feindlichen Truppen, Streitwagen und Kriegsrosse hatten es überfallen. Sie waren vertrieben worden. Dann konnten sie zurückkehren, aber wie eine Heimat fühlte sich das Land und vor allem die Stadt Jerusalem, die Tochter Zion, nicht mehr an. Sie alle hielten Ausschau nach einer besseren Zukunft, in der es wieder wie früher sein würde, ihr Leben, die Stadt und die Menschen darinnen, einfach alles.
Und sie hatten einen bei sich, der konnte es sehen. Denn dafür braucht man Propheten. Sie sehen über den Rand der Gegenwart hinaus. Sie sehen, was noch nicht da ist, aber kommen wird. Wir haben auch damit unsere Erfahrungen gemacht in diesem Jahr. Und ein Grund zur Freude war es meistens nicht. Wir brauchen dringend andere Propheten, solche, die noch viel weiter über den Rand unserer Gegenwart hinaussehen als bloß bis zum Impfstoff und dem Ganzen, was dann noch alles auf uns zukommen wird, in unserem Leben nach dieser Katastrophe. Jetzt ist es soweit. Die Freude kommt und sie reitet auf einem Esel, sanft, wollig, genügsam, störrisch.
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!
Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm
und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.
Die Freude kommt zu mir. Und das unterscheidet sie von allem, was mir gerade noch so alles angeboten wird. Gerade die Kirchen überschlagen sich in diesen Tagen mit Aktionen, die Freude bringen und Hoffnung wecken sollen. Unter dem Motto „Hoffnungsleuchten“ könnte ich Sterne verteilen oder Sterne mit meinen Wünschen in Hoffnungsbäume hängen, jeden Tag um 19 Uhr eine Kerze ins Fenster stellen, mir einen Podcast anhören und danach ein Adventslied singen. Eine große ökumenische Kampagne der EKD und der Deutschen Bischofkonferenz heißt: „Fürchtet euch nicht – Gott bei euch“. Mir fehlt da eindeutig ein Verb. „Gott ist bei euch“, traute sich das dann doch keiner zu sagen? Ich kann nämlich gerade nicht mehr, schon gar nicht selbst für Freude und Hoffnung sorgen, täglich um 19 oder um 20 Uhr, an den ungeraden Dienstagen in der Adventszeit, in meiner Familie. Ich bin an manchen Tagen froh, wenn ich überhaupt mal den Kopf aus der Tür stecke, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Hoffnung kann doch keine Aktion sein und Freude auch nicht. Ich halte Ausschau nach einem, der zu mir kommt.
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!
Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm
und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.
Ob er grau war oder schwarz, weiß ich nicht. Sanft, wollig, genügsam, störrisch war er bestimmt, der Esel, auf dem der König kommt. Und jung waren sie beide. Da kommt ein Eselfohlen mit einem Kind auf seinem Rücken. Damals war es üblich, dass Kinder mit Eseln aufwuchsen, kein Wunder, so sanft und wollig und mit ihren weichen Ohren eignen sie sich hervorragend als große, lebendige Kuscheltiere. Und weil sie so störrisch sein können, ist es bestimmt gut, sie schon eine Weile zu kennen, bevor man versucht, auf ihnen zu reiten. Ein Kind auf einem jungen Esel – das ist der König, den der Prophet kommen sieht. Barfuß wahrscheinlich, mit einem Grashalm im Mund.
Für die Tochter Zion, für die Menschen in Israel war das ein Gegenbild zu den Pferden mit den stampfenden Hufen und schnaubenden Nüstern vor den Streitwagen oder mit gepanzerten Kriegern auf ihrem Rücken. Unser König kommt anders, sagt ihnen ihr Prophet. Unser König schert sich nicht um Reichtum, um Stärke, um Macht. Das hat er alles nicht, woher auch, er ist ja noch ein Kind. Dieser Eselreiter soll unser König sein. Wir setzen auf Bescheidenheit. Wir tragen Lasten. Damit zeigen wir unsere Stärke. Wir sind genügsam in dürftigen Zeiten. Und halten störrisch wie Esel an der Hoffnung fest, dass etwas Neues kommt.
Später, viel später hat sich Jesus einen Esel ausgesucht, um in die Stadt Jerusalem zu reiten. Ein passenderes Reittier gibt es nicht für ihn. Sanft ist er, genügsam bis arm, ein Gerechter und ein Helfer. Und störrisch wie der Esel, auf dem er reitet. Jesus ist ein Eselreiter. Er ist unser König. Er kommt zu mir.
Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!
Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm
und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.
Freue dich, Tochter Zion, freue dich, du Krankenschwester, du Kassiererin, du Mutter, du Ärztin, du Lehrerin, du Musikerin, du Köchin, du Künstlerin, du Kellnerin, du Verkäuferin. Du in Kurzarbeit, du Selbständige, du ohne Arbeit, du im Homeoffice. Du auf der Straße und du im Eigenheim. Du Schülerin, Hausfrau, Studentin, Rentnerin, Auszubildende. Freue dich in den Dörfern, den Kleinstädten, den Großstädten und in allen Städten dazwischen.
Freue dich, du Tochter Zion. Dein König kommt und mit ihm die Freude. Freue dich, unser König kommt. Sein Reittier verrät dir alles, was du wissen muss. Denn auch die Freude ist ein Esel. Sanft, leise atmend steht sie manchmal neben dir in diesen Zeiten. Abends vielleicht, wenn die Kinder im Bett sind und du noch einmal nach ihnen schaust. Wenn du in das Gesicht des anderen siehst gegenüber am Tisch. Die liebe Stimme am Telefon hörst, die vertraute Handschrift im Brief oder die Smileys in einer E-Mail siehst. Die Freude ist ein sanfter Esel.
Sie wärmt dich wollig jetzt, auch bei vier Grad und Nieselregen draußen und diesen elenden Balkendiagrammen in den Nachrichten. Sie ist nah bei dir, auch wenn du traurig bist. Die Freude ist genügsam, in diesem Jahr besonders. Keine perfekte Deko, kein großes Festessen, kein Geschenkewahn. Weil es nicht geht und es doch sowieso genügt, hier bei uns, wo alle es warm haben und satt sind und sicher. Und die Freude ist störrisch. Sie kommt zu uns und geht mit uns. Wer müde ist, den trägt sie ein Stück. Die Kinder lieben sie sowieso.
Ich stecke den Kopf aus der Tür und halte Ausschau. Sie kommt.
Amen.
Kathrin Oxen
Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.