Gerechtigkeit und Geschwisterrivalität

Predigt zu Mk 6,1-6, Gen 25,29–34

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Von Stephan Schaar

Liebe Gemeinde,

im Unterschied zur katholischen Kirche kennt die Bibel Jesus als den Sohn der Maria, Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon - so nachzulesen im sechsten Kapitel des Markusevangeliums. Wie er sich seinen Geschwistern gegenüber verhielt? - Wir wissen es nicht.

Aber wenn wir spekulieren dürfen, dann gehen wir mal davon aus, dass er genauso wie wir selbst um die Anerkennung durch die Eltern gerungen hat und es immer mal Rangeleien zwischen den Brüdern und Schwestern im Hause des Zimmermanns Joseph gab.

Ich soll als Kind mal den Wunsch geäußert haben, lieber ohne meine Brüder aufzuwachsen, und zwar, weil ich dann die Gummibonbons mit niemandem teilen müsste. Aus der Situation heraus als kindliche Logik verständlich, finde ich; aber im Blick zurück nicht haltbar und wohl auch nicht wirklich so gemeint.

Im Rückblick erscheint in unserem Schrebergarten das sogenannte “Schutzgebiet”, das mein Vater für unseren jüngsten Bruder rund um einen Fliederbusch eingerichtet hatte; da war es den älteren Brüdern nicht erlaubt, die Hand nach dem Kleinen auszustrecken - der aber hatte seine Mittel und Wege, uns zu ärgern...

Ähnlich erlebten wir es kürzlich im Urlaub auf “Liberty Island”: Eine französische Familie mit drei kleinen Kindern befand sich in unserer Nähe. Der jüngste Spross machte permanent Stress. Aber die Eltern rechneten nicht ihm den Ärger zu, sondern raunzten die älteren Geschwister an.

Umgekehrt gibt es solche Ungerechtigkeiten sicher auch, und wahrscheinlich kommt es auf die eigene Perspektive an, auf welches Fehlverhalten man empfindlicher reagiert.

Haben sich die Schwestern Martha und Maria geliebt? Sie haben sich in gewisser Weise sehr typisch als Geschwister verhalten, indem jede der beiden Frauen Jesus auf die eigene Seite zu ziehen versuchte, er möge ihr gegen die andere recht geben. Aber war heißt schon Recht?

Unser Rechtssystem sieht vor, dass man seinen letzten Willen zum Ausdruck bringen kann, der dann im Rahmen gewisser Regeln beim Ableben respektiert und umgesetzt wird. Allerdings muss man bestimmte Formalien beachten, sonst wird das Testament ungültig. Und dann kann es schon mal passieren, dass die große Schwester, verheiratet, aber kinderlos, finanziell gesichert, keine Meinung dazu hat, dass die mittlere Schwester, ein Kind und ein schwer reicher Ehemann, die handschriftlichen Notizen des verstorbenen Vaters in dem maschinegeschriebenen Dokument für nichtig erachtet, wonach die jüngste Schwester, die ohne Einkommen ist und vier Kinder hat, sich zudem um den alten Herrn als einzige kümmerte, zu mehr als einem Drittel berücksichtigt werden sollte. So kommt es zum erbitterten Streit, der mit einem schwachen Kompromiss endet und schließlich dazu führt, dass die Mittlere den anderen Schwestern zum endgültigen Abschied noch “ein schönes Leben” wünscht.

Wie liebt eine Schwester ihren kleinen Bruder, der - aufgrund einer schwerwiegenden Beeinträchtigung - so viel elterliche Aufmerksamkeit absorbiert, dass für einen selbst nichts mehr übrig bleibt, nicht einmal das bestandene Abitur bemerkt und wertgeschätzt wird?

So bedeutsam solche Fragen sind und im täglichen Leben in tausenderlei Schattierungen präsent: Wir haben vorhin biblische Geschwistergeschichten gehört, und ich habe dabei bewusst ein Brüderpaar unterschlagen, das jetzt jedoch ins Spiel gebracht werden soll, und zwar, weil es bei diesen beiden Männern um mehr als Individuen mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen geht, sondern um Archetypen, um Vertreter zweier Brudervölker, deren Zwist bis auf den heutigen Tag andauert.

Jakob und Esau heißen die beiden. Man kennt die Geschichte von dem Linsengericht, und vielleicht hat sich hier - wie auch bei der Geschichte vom verlorenen Sohn - so mancher ältere Bruder (ich selbst bin auch einer) geärgert, dass die Mutter dem Muttersöhnchen beisteht und der blinde alte Vater hintergangen wird.

Gern wird hier der Kopf geschüttelt über Gott, dessen Segen ganz offensichtlich erschlichen werden kann - statt zu sehen, dass Gottes Wahl von Beginn an auf Israel lag, so sein späterer Name, als er am Jabbok gerungen und sich die Hüfte verrenkt hat und schließlich gesegnet wird: Mit dir, Gottesstreiter, will und werde ich sein!

In der Zeitschrift “Junge Kirche” las ich einen Artikel, der am 4. März 2024 in der israelischen Tageszeitung Haaretz erschienen war und mich zutiefst erschüttert hat; statt weiter eigene Gedanken vorzutragen, möchte ich im folgenden diesen Artikel verlesen:

Mein Name ist Abdullah. Ich bin 30 Jahre alt und lebe im Gazastreifen. Ich lebe in einem Haus mit meinen beiden älteren Eltern, die nicht weit laufen können und deshalb zu Beginn des Krieges nicht fliehen konnten. Unser Haus wurde bei dem Bombenangeriff zerstört. Meine beiden Nichten wurden getötet, und meine Mutter wurde schwer verletzt.

Während im Hintergrund Bombenanschläge stattfinden, schreibe ich dies in einem Haus, dessen Fenster zersplittert sind. Wir haben Laken aufgehängt, um die Kälte draußen zu halten, aber sie helfen nicht viel. Seit der ersten Kriegswoche hatten wir keinen Strom und keinen Zugang zu Krankenhäusern oder Medikamenten jeglicher Art. Ich schreibe in völliger Dunkelheit und bitterer Kälte, während ich von Angst und Unruhe erfasst werde.

Den größten Teil des Tages bin ich damit beschäftigt, Nahrung und Wasser zu besorgen. Jeden Tag fahren Hilfslastwagen nach Gaza, aber um einen Teil dieser Hilfe zu erhalten, muss man im Grunde genommen einen eigenen Krieg beginnen. Tausende Menschen stürzen auf jeden Lastwagen, und viele der Waren werden von Anwohnern oder der Hamas gestohlen.

Nach mehr als 100 Tagen des Wahnsinns und des Gegenwahnsinns, mehr als 100 Tagen Krieg und der Naqba, die wir erleben, scheint der Krieg noch nicht kurz vor dem Ende zu stehen. Ich könnte jeden Moment sterben oder verwundet werden, also muss ich mich zu Wort melden. Die Stimme der Vernunft muss gehört werden - eine Stimme, die auf beiden Seiten zum Schweigen gebracht wird. Also stehle ich mir im Überlebenskampf eine Stunde, um Worte zu schreiben, die mich das Leben kosten könnten.

Zunächst möchte ich klarstellen, wie ich zum Terroranschlag vom 7. Oktober stehe. Die Tötung und Entführung von Kindern und alten Menschen sowie von jungen Menschen, die auf einer Party feierten, repräsentiert uns überhaupt nicht. Nichts hat uns mehr verletzt, unsere Sache verzerrt oder unseren berechtigten Forderungen mehr geschadet als dieser Terroranschlag. Wenn wir ein freies Volk wären, das seine Interessen kennt, würden wir jeden vor Gericht stellen, der diesen Angriff geplant hat.

Darüber hinaus hat die Hamas lange vor dem 7. Oktober aufgehört, mich und viele andere wie mich zu vertreten. Hamas ist eine repressive ideologische Organisation, die unsere Freiheit stiehlt, uns versklavt, uns mit vorgehaltener Waffe entführt und jede Stimme unterdrückt, die sich ihr widersetzt. Hamas lehnt die Idee des Zivilstaates ab, da sie darin eine Schändung alles Heiligen und einen Verstoß gegen die Scharia sieht. Es ist eine religiöse, totalitäre, tyrannische Regierung, die die Meinungsfreiheit einschränkt. Es ist eine exakte Kopie des iranischen Regimes.

Ja, die Hamas gewann die Wahlen 2006 für eine vierjährige Amtszeit, aber in Gaza folgten keine weiteren Wahlen. Mit anderen Worten: Seit 2010 ist ihre Herrschaft nicht legitim, und sie repräsentiert nicht das palästinensische Volk. Dies ist ein wichtiger Punkt, den die Welt im Auge behalten muss. Hamas ist keine Befreiungsbewegung. Eine Befreiungsbewegung strebt nach Freiheit und setzt keine Tyrannei und Unterdrückung ein.

Die Hamas hat unserer Sache geschadet, indem sie religiöse Feindseligkeit gegenüber den Juden geschürt und unseren Kampf von einem gerechten, globalen Kampf, der von Menschen der freien Welt aller Religionen unterstützt wird, in einem islamischen Religionskonflikt verwandelt hat, der von tyrannischen und unterdrückenden totalitären Einheiten unterstützt wird. Das Problem ist, dass die Hamas die Schlange ist, die in der Umarmung Israels aufgewachsen ist. Benjamin Netanyahu und seine Regierung sind Hauptverantwortlichen für das Wachstum ihrer militärischen Macht.

(...) Aber Hamas ist nicht die einzige extremistische religiöse Bewegung, die uns gefährdet. Nach Jahren der politischen Sackgasse sind die Extremisten auf beiden Seiten erstarkt.  Beide vertreten die Idee, dass die andere Seite ausschließlich aus Feinden besteht, die den Tod verdienen. Auch in Israel gibt es Menschen voller Hass und Rassismus, die den grundlegendsten menschlichen Werten wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie feindlich gegenüberstehen. Und sie nutzen die Religionen, um Kriege anzuzetteln und daraus Profit zu schlagen.

(...) Der Hamas ist es egal, wenn eine halbe Million Menschen in Gaza sterben. Wir sterben für ihre Parolen und politischen Interessen. Sie will die israelische Armee dazu bringen, in zivilen Vierteln gegen uns vorzugehen. Sie wollen, dass Israel so viele Zivilisten wie möglich tötet, um seine Existenz zu rechtfertigen. Sie möchte der Welt sagen, dass sie eine legitime Widerstandorganisation gegen einen kriminellen Besatzer ist. Das Seltsame ist, dass Israel ihnen direkt in die Hände spielt. Ich weiß nicht, warum Israel nicht versteht, dass das Interesse der Hamas darin besteht, die Militanten nicht von der Zivilbevölkerung zu trennen, und dass dies der Weg ist, die Stellung der Hamas zu schwächen.

Ich persönlich habe keinen ernsthaften Versuch Israels gesehen, die Zivilbevölkerung von den Militanten zu trennen. Die Zahl der zivilen Opfer zeugt davon. Ja, es gab Versuche der Armee, keine Zivilisten anzugreifen, aber viele davon scheiterten, bevor sie überhaupt begonnen hatten, weil sie von vornherein aussichtslos waren. Diese Versuche dienten vor allem dazu, in den Augen der Welt die Verantwortung für die Schädigung der Zivilbevölkerung in Gaza abzulehnen. Ich weiß, dass es keinen sauberen Krieg gibt. Ich weiß, dass die Hamas zivile Standorte für Terroreinsätze nutzt und dass die komplexe Beschaffenheit des Gazastreifens und seine Bevölkerungsdichte es unvermeidlich machen, dass Zivilisten zu Schaden kommen. Aber das rechtfertigt nicht den Einsatz vernichtender Gewalt durch die Armee in Gaza, es rechtfertigt nicht die völlige Zerstörung und den Tod so vieler Zivilisten.

(...) Der Krieg hat ... alles zerstört und die Uhr um 50 Jahre zurückgedreht. Ich appelliere an Israel, weil es die stärkere Seite ist. Ich glaube, dass die Juden besser als jedes andere Volk verstehen, was es bedeutet, unter Unterdrückung zu leiden und dabei in Gefahr zu sein, getötet oder entwurzelt zu werden. Für Menschen, die ihre Lieben oder ihr Zuhause verloren haben oder entwurzelt oder verwundet wurden, wird es schwer sein, zu vergeben und zu vergessen.

Diese schrecklichen Ereignisse lassen uns von jeglicher Hoffnung, die wir einst hatten, abrücken, und die einzigen, die vom Krieg profitieren, sind die Rechtsextremen auf beiden Seiten. Sie nutzen den Krieg und das Blut schamlos für politische Zwecke aus. Der Konflikt hat zwei Völker auf diesem Land hervorgebracht. Keiner kann den anderen beseitigen. Die einzige Lösung besteht darin, einen Weg zu finden, in Partnerschaft Seite an Seite zu leben.

Soweit diese palästinensische Stimme in einer israelischen Tageszeitung.

Jakob ist vor seinem um den väterlichen Segen (und das heißt: um das Land) betrogenen Bruder Esau ins Ausland geflohen. Bevor er sich traut, wieder heimischen Boden zu betreten und dem Bruder  zu begegnen, schickt er ihm massenhaft Geschenke entgegen - und dann lesen wir: Als Jakob aufblickte, sah er Esau kommen und hinter ihm seine vierhundert Mann. Da stellte er die Kinder zu ihren Müttern, zu Lea und zu Rahel und zu den beiden Nebenfrauen.

Dann ließ er die Nebenfrauen mit ihren Kindern vorangehen, dahinter ging Lea mit ihren Kindern, und zum Schluss kam Rahel mit Josef.
Jakob selbst ging an der Spitze des Zuges und warf sich siebenmal auf die Erde, bis er zu seinem Bruder kam.
Esau aber lief ihm entgegen, umarmte und küsste ihn. Beide weinten vor Freude.

Amen.


Stephan Schaar