Zur bleibenden Relevanz der Hebräischen Bibel für die christliche Kirche

Sieben Leitsätze


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Harnack schlug vor, dass das Alte Testament in der Kirche keine kanonische Geltung haben sollte. Dem schloss sich auch Notger Slenczka an. Warum das aus reformierter Sicht falsch ist.

1. Für Christus selbst hat die Hebräische Bibel als Heilige Schrift im Leben und im Sterben normative Bedeutung gehabt; darum darf und muss sie auch für die ChristusnachfolgerInnen zu allen Zeiten Heilige Schrift sein.

1.a Mir genügt (ehrlich gesagt) die Tatsache, dass Christus mit einem Text (Tenach) gelebt und geglaubt hat, mit ihm gestorben und auferstanden ist als Kriterium für seine Kanonizität.

1.b Die hier verhandelte Thematik geht deutlich hinaus über die Fragen der Bibelexegeten oder Kanonshistoriker – es geht letztlich um die Debatte über christliche Identität, über das Verhältnis des verkündigenden Jesus zum verkündigten Christus, über das Verhältnis einer Jesuologie zur Christologie, einer Christologie von unten bzw. von oben. Hier sind fundamentale theologische Entscheidungen impliziert: Für mich gehört Jesus von Nazareth nicht wie bei Bultmann zu den Voraussetzungen und Vorstufen der christlichen Verkündigung, sondern zu ihrem Wesenskern dazu.

1.c „Das Wort ward Fleisch“, nicht einfach „nur“ abstrakt „Kerygma“: Wenn Jesus sich in die Welt der Hebräischen Bibel hinein hat inkarnieren lassen, dürfen wir ihn nicht per kanonstheologischer Entscheidung soz. „entleiblichen“ und ihn heimatlos machen.

2. Die ersten ChristuszeugInnen haben Person und Werk ihres Meisters entscheidend in den Kategorien der Hebräischen Bibel – ob in hebräischer, aramäischer oder griechischer Gestalt - beschrieben; darum darf und muss sie für die Kirche und ihre Verkündigung Heilige Schrift bleiben.

2.a Was „nach den Schriften“ geschehen ist (1 Kor 15), braucht neben und mit sich gleichursprünglich jene Schriften um erzählen zu können, was geschehen ist. Das Geschehene findet überhaupt nur Sprache in jenen Schriften. Diese bewegen sich dann im Blick auf das zu Erzählende nicht im Feld des Uneigentlichent, des Vorläufigen, sondern gehören zur Sache selbst – und damit ohne Wenn und Aber zur Bibel. Die Sprachregelung ist ja wohl Konsens: Was „apokryph“ oder „deuteronkanonisch“ sein soll, gehört  nicht zur Bibel. Hier scheint mir Slenczka mit seiner Beteuerung ein wenig „Angst vor der eigenen Courage“  zu haben. Nichtkanonisch heißt nichtbiblisch. Punkt.

3. Christus ist das „Ja“ auf alle Verheißungen der Schrift (2. Kor 1,20); darin liegt auch die Bekräftigung ihres normativen Ranges für die Kirche.

3.a Das „Ja“ auf die Schrift „in ihm“ hält die Schrift in Geltung für all diejenigen, die „in Christus“ (en Christó) sind. Christus ist der Mittler auch meiner christlichen Existenz mit der Hebräischen Bibel.

3.b Wohlgemerkt: Das „Ja“ bei Paulus vermeidet „Erfüllungsterminologie“! pleróo bezieht sich bei Paulus an keiner Stelle auf Verheißungen; dafür hat er andere Begrifflichkeiten: eben das „Ja“ in 2. Kor 1 oder in Röm 15,8 das bebaiósai tás epangelías – „um zu bekräftigen die Verheißungen“, die den Vätern gegeben sind. Überhaupt ist Röm 15,8f  fundamental wichtig: Christus ist ein Diakon der jüdischen Gemeinschaft geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen und die Verheißungen zu bekräftigen – Gottes an sein Volk. Und die Heiden? – sollen Gott loben und sich mit Israel freuen als Vormalsheiden, als nun Hinzugerufene, sich freuen mit Israel und seiner Schrift und   diese Schrift nicht ins Reich der Vorchristlichkeit verbannen.

3.c 1984 hat die badische Synode formuliert: „Wir (als Christen) glauben an Gottes Treue“ – und zwar an seine Treue zu Israel!  Teil des christlichen Selbstverständnisses ist demnach das mit seiner Bibel unter Gottes Treue lebende Israel. Und was christliches Selbstbewusstsein ausmacht, das sage ich mit Slenczka, gehört in die Bibel. Insofern Israel und seine Bibel zu meinem christlichen Selbstverständnis gehören, gehört eben Israels Bibel auch in meine Bibel.

3.d Das „Ja“ auf die Schrift in Christus meint: Sie ist in Geltung, nicht im Sinne einer Sammlung erfüllter Verheißungen, sondern bestätigter, bekräftigter, durchaus auch offener Zusagen Gottes. Gerade die offenen brauche ich, sonst würde ich langsam aber sicher erlahmen im Glauben und in der Hoffnung darauf, dass einmal Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern; dass Gotteserkenntnis das Land bedecken werde und Ströme von Gerechtigkeit regnen werden – das brauche ich, nicht nur als willkommene Hilfe zur Lebensdeutung, sondern als Stimulus für meinen Glauben und mein Christsein an allen Tagen meines Lebens.

4. Das „Ja“ auf alle Verheißungen durch Christus lädt gerade nicht zu einem exklusiv „christologischen Lesen“ der Hebräischen Bibel ein, wohl aber zu einem Entdecken der Verstehenshilfen des Christusgeschehens in der Jüdischen Bibel (Nach der Weise „wie (!) uns die Alten sungen“, nicht nach der Melodie: „Was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war und was sie geprophezeiht, ist erfüllt in Herrlichkeit“).

4.a Das „Ja“ ist nicht ein Veri-Fizieren, nicht erst ein Wahr-Machen dessen, was ante Christum vielleicht noch nicht wahr wäre. Das „Ja“ ist neuerliche Bestärkung dessen, was Wahrheit von Gott her schon beansprucht.

5. Eine Dekanonisierung der Hebräischen Bibel im Raum der Kirche tangiert auch das Neue Testament in seinem essenziellen Bezug auf die „Schrift“; dies wäre offenkundig ein Stich ins Herz der neutestamentlichen Überlieferung.

5.a Es macht etwas mit dem Neuen Testament, wenn ich behaupten würde: das NT zitiert immerfort nur apokryphes Material und nicht Bibel. Das geht dem NT an die Substanz!

6. Luther hat im Blick auf die Geltung der Worte Gotte, insbesondere der biblischen Gebote auf eine Unterscheidung der Adressaten der Hebräischen Bibel an Juden und Nichtjuden bestanden; mit und dann aber auch gegen Luther ist diese Differenzierung nicht unter Vernachlässigung der Anrede an die nichtjüdische Völkerwelt aufzulösen.

6.a Ich beziehe mich auf Luthers „Unterweisung, wie sich Christen in Mosen sollen schicken“:
Die Unterscheidung der Adressaten – gut, wichtig und redlich! Luther bleibt dabei aber ein Gefangener seiner eigenen antithetischen Denkvoraussetzungen. Er erliegt der „Suggestion des Antithetischen“ (Marquardt) und kommt nicht hinaus über einen Satz wie: „Kein Pünktlin geht uns an in Mosen!“ Einen Gebrauch des biblischen Gesetzes unter christlich Glaubenden (einen tertius usus legis) kann er systematisch-theologisch nicht wirklich denken – wer umgekehrt einen solchen Gebrauch des Gesetzes unter Glaubenden denken will und kann, der braucht dazu die Hebräische Bibel als Heilige Schrift.

6.b In der Forderung nach Unterscheidung der Adressaten bleibt Luther wegweisend; nur müssten wir sorgfältig (mit dem AT und seiner rabbinischen Auslegungsgeschichte) danach suchen, wo wir als Christen aus den Völkern angeredet sind. Differenziertes Bibellesen: Heinz Zahrnts Satz wegweisend: „Wem in der Bibel alles gleich gültig ist, dem ist bald die ganze Bibel gleichgültig!“

6.c Ausgehend von der Bereitschaft zur Differenzierung plädiere für eine christlich-rabbinische Kooperation auf der Suche nach einer in Sachen „Tora für die Völker“.

7. Ungeachtet einer letzten Entscheidung über Asymmetrien im christlichen Verhältnis zum Alten und zum Neuen Testament bleibt festzuhalten: Die kanonische Geltung beider Teile der Bibel ist ein Spiegelbild der bleibenden Geltung der Erwählung des Gottesvolkes Israel und der christlichen Kirche.

7.a Ich teile nicht den Vorwurf des Antijudaismus und habe ihn nie geteilt. Wer so explizit wie Notger Slenczka die geistliche Wertigkeit und Würdigkeit des Gottesvolkes Israel, das mit seiner Hebräischen Bibel lebt, anerkennt, kann schlichtweg nicht des Antijudaismus verklagt werden.

7.b Das klingt allerdings milder als es ist: Dekanonisierung des AT schadet nicht dem Judentum (das kann das Judentum gut ertragen, siehe Hanna Liss); ist auch kein Widerspruch zur Überzeugung vom ungekündigten Bund des Gottesvolkes! Dekanonisierung des AT tut der christlichen Identität Abbruch, nimmt etwas Konstitutives weg von der christlichen Identität, entfremdet mich von Jesus dem Nazarener und seiner Bibel und über diese Vermittlung sozusagen nimmt es mir ein Stück weg von meiner Beziehung zum Judentum. Eine Dekanonisierung der Hebräischen Bibel im Raum des Christlichen beschädigt letztlich das Band zwischen Juden und Christen.


Klaus Müller