Gebet statt Gift

Ein Beitrag zur Debatte über den assistierten Suizid in der Diakonie


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Von Jürgen Kaiser

Bald wird es auch in Deutschland möglich sein, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen und dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der evangelischen Kirche stellt sich nun die Frage: Sollen auch wir da mitmachen und die Beihilfe zum Suizid in unser diakonisches Angebot aufnehmen?

2015 beschloss der Bundestag das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz (§ 217 StGB) für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht monierte, das Gesetz entleere faktisch die Möglichkeit der assistierten Selbsttötung, was dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen widerspreche. Am 11.1.2021 plädierten die Theologen Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie in der FAZ dafür, den assistierten Suizid in Räumen der Diakonie nicht nur zu erlauben, sondern eine Suizidbeihilfe auch als eigene professionelle Möglichkeit innerhalb von Kirche und Diakonie in Betracht zu ziehen.

Dieser Vorstoß war nicht mit der EKD abgesprochen und ist auch deshalb brisant, weil die beiden Theologieprofessoren Anselm und Karle in EKD-Gremien tätig sind und Lilie oberster Chef der Diakonie Deutschlands ist. Darüber hinaus beziehen sie sich auf Gespräche mit dem hannoverschen Landesbischof Ralf Meister, der vorher schon am Tabu der Suizidbeihilfe innerhalb der Kirche gerüttelt hatte. Seither hat der Vorstoß viel Widerspruch erfahren, am prominentesten durch Peter Dabrock und Wolfgang Huber in der FAZ vom 25.1.2021. Der Wiener Theologe und Ethiker Ulrich Körtner hat in „Zeitzeichen“ eine ausführliche und ausgewogene Stellungnahme veröffentlicht.1

Das Thema der Gestaltung des Lebensendes wird eines der zentralsten gesellschaftlichen, ethischen und auch theologischen Themen der nächsten Jahrzehnte sein. Weil die Humanmedizin immer besser wird, werden wir immer älter. Desto mehr kommt aber auch die Frage in den Blick, ob die selbstbestimmte Gestaltung der letzten Lebensphase nicht die Konsequenz einschließen muss, mein Leben in einem Akt freier Entscheidung aktiv zu beenden und dafür auch Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Meines Erachtens ist das Tabu einer Beihilfe zum Suizid gesamtgesellschaftlich längst gefallen. Mir scheint, dass die Mehrheit der Gesellschaft nicht nur die Selbsttötung am Lebensende, sondern auch die Hilfe dazu für legitim hält, selbst dann, wenn man das für sich selbst (vorerst) nicht als Option in Betracht zieht. Von daher folgt das Bundesverfassungsgericht nur der ethischen Großwetterlage.

Müssen aber die Kirche und ihre Diakonie mitmachen? Sollte sie sogar aus der Beihilfe zur Selbsttötung eine „erweiterte Kasualpraxis“ machen, also eine seelsorgerliche und rituelle Begleitung des sich selbst Tötenden und seiner Angehörigen durch spirituelle Formen, wie das Gespann Anselm/Karle/Lilie fordert?

Ich meine: Nein! In diakonischen Einrichtungen darf es keine Beihilfe zur Selbsttötung geben! Was in diakonischen Einrichtungen getan und unterlassen wird, folgt einer christlichen Ethik, die sich an dem zu orientieren hat, was Christen glauben. Eine zentrale Überzeugung des christlichen Glaubens ist es, dass Gott der Herr über Leben und Tod ist. Wir gehören nicht uns selber, sondern wir gehören Gott. Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. (Röm 14,7-9) Meine Zeit steht in deinen Händen. (Ps 31,16) Wir nehmen unser Leben aus Gottes Hand und legen es dorthin zurück, wenn es zu Ende geht. Nackt bin ich gekommen aus dem Leib meiner Mutter, und nackt gehe ich wieder dahin. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen. (Hi 1,21)

Glaubensüberzeugungen wie diese werden unglaubwürdig, wenn die Kirche signalisiert: Grundsätzlich ist es auch bei uns möglich, seinem Leben selber ein Ende zu setzen und dabei von uns Hilfe zu erhalten.

Sowohl das Bundesverfassungsgericht wie auch das Autorengespann Anselm/Karle/ Lilie operieren maßgeblich mit dem Begriff der Selbstbestimmung. Das Selbstbestimmungsrecht, juristisch hergeleitet aus den Grundrechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Unantastbarkeit der Würde, beinhalte auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht dürfe der Staat keinem verwehren. Peter Dabrock und Wolfgang Huber weisen in Ihrem Beitrag darauf hin, dass sogar den Juristen eine „überschießende Autonomierhetorik“ im Urteil des Verfassungsgerichts aufgefallen ist. Diese Rhetorik wird vom Theologengespann Anselm/Karle/Lilie unhinterfragt übernommen.2 An keiner Stelle erlauben sie sich die Frage, ob die Kategorie der Selbstbestimmung theologisch nicht ganz anders gewonnen und gefüllt werden kann, denn als bloßes Abwehrrecht gegen staatliche (oder kirchliche) Bevormundung und Fremdbestimmung.

Theologisch müssen die Werte Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit differenzierter betrachtet werden. Freiheit von Fremdbestimmung durch andere Menschen und Gesetze gewinnen Christen in der Bindung an den sie befreienden Gott. Selbstbestimmung ist hier also weder das Produkt einer Selbstbehauptung noch ein von der Verfassung gewährtes Grundrecht, sondern eine in der lebendigen Beziehung zu Gott immer wieder aktualisierte Glaubenserfahrung. Die Bindung an Gott löst Christen aus den falschen Bindungen an Mächte und Gewalten. In der Mitte des Lebens erfahren wir uns als weitestgehend selbstbestimmt. An den Rändern des Lebens jedoch erfahren wir uns als fremdbestimmt. Christen erkennen darin eine Fremdbestimmung durch Gott, den Herrn des Lebens. Gott gibt das Leben und er nimmt es wieder, wenn es zu Ende geht. Dazwischen traut er uns zu, dass wir unser Leben weitestgehend selbst bestimmen. Die Erfahrung einer zunehmenden Fremdbestimmung am Ende des Lebens ist für Christen nicht nur eine Erfahrung der Entwürdigung, sondern zugleich auch der besondere Erfahrungshorizont von Glaubensüberzeugungen, die sich in Sätzen wie den oben genannten artikuliert. Die Erfahrung von Fremdbestimmung wird daher im Vollzug des Glaubens auch als tröstlich und nicht nur als irritierend wahrgenommen.

Auch ihre Würde gewinnen Christen nicht durch Selbstbehauptung, sondern dadurch, dass Gott sie ansieht, sie ruft und beruft, sie beim Namen nennt und sie trotz allem, was gegen sie spricht, für würdig befindet, erlöst zu werden. Wo also der Staat konstruierte Grundrechte wie Selbstbestimmung und Autonomie immer mehr verabsolutiert, weil ihn der immer größere Respekt vor dem Gebot der Religionsneutralität immer stärker in eine rechtspositivistische Enge treibt, die ihm jede Bezugnahme auf Kategorien verbietet, die außerhalb des gegebenen Rechts liegen3, müssen Theologie und Kirche auf die Relativität von Selbstbestimmung und Autonomie verweisen, insofern sie in der Beziehung zu Gott gewonnen und verantwortet werden.

Der Grundsatz, wonach es im Raum von Kirche und Diakonie keine Hilfe zur Selbsttötung gibt, schließt mögliche Grenzfälle nicht zwangsläufig aus. Es kann Einzelfälle geben, in denen es nach gründlicher Prüfung des eigenen Gewissens und vor Gott geboten erscheint, einem schwer leidenden Menschen dabei zu helfen, das Leben zu beenden. Verantwortung für solche Einzelfälle zu übernehmen, heißt aber nicht, sich den Segen der Kirche einzuholen, sondern das Urteil Gott zu überlassen.4 Wer aber aus dem Grenzfall einen Regelfall machen will, wie Anselm/Karle/Lilie, muss Regeln und Normen formulieren, die aus einem Ausnahmefall einen Normalfall machen. „Diejenigen, die sich jetzt öffentlich für die Möglichkeit professioneller Suzidbeihilfe in kirchlich-diakonischen Einrichtungen aussprechen, sollten sich bewusst sein, wohin die Reise in Sachen Sterbehilfe inzwischen geht. Es steht zu befürchten, dass ihre Vorschläge - entgegen der eigenen Absicht - nicht der Begrenzung des erkennbaren Trends zur Ausweitung der Sterbehilfe dienen, sondern ihm Vorschub leisten.“5

Darum meine ich, Kirche und Diakonie sollten klar Nein zur Suizidassistenz sagen und sich aus Angst vor Anwürfen wie: ‚Die Kirche hält an ihren Prinzipien auf Kosten der Leidenden fest‘ oder ‚Die Kirche lässt Menschen unnötig leiden‘ und dergleichen nicht zu falschen Kompromissen leiten lassen. Vielleicht muss noch deutlicher werden, dass Kirche und Diakonie dem Leben dienen, zu dem auch das Sterben-Wollen und das Sterben-Können dazugehören.

Das Autorengespann Anselm/Karle/Lilie erweckt den Eindruck, als lasse die Kirche die Sterbewilligen allein, wenn sie den Sterbewunsch nicht mit Gift bedient. Es geht aber keineswegs darum, einem Sterbewilligen seinen Wunsch auszureden und ihn dergestalt nicht ernst zu nehmen. Die Wahrnehmung, dass ein Leben ausgelebt wurde, die Feststellung: „Es ist genug“ ist Ausdruck einer reifen Persönlichkeit; sie kann und darf im Glauben und in der Verantwortung vor Gott geäußert werden. Das darf in der Kirche nicht überhört oder gar pathologisiert werden. Doch statt den Sterbewunsch mit Gift zu bedienen, soll er vor Gott getragen werden, der das Leben gibt und es nimmt.

Hilfe bekommt ein Mensch, der sterben will, in der Diakonie: durch intensive Begleitung, durch Zuhören und Gebet und durch palliativmedizinische Maßnahmen. Aber nicht durch Gift. Wir glauben, dass wir uns nicht zu Herren über Leben und Tod aufspielen dürfen.6 Es muss aber deutlich werden: Ebenso wenig wie es hier Maßnahmen zur künstlichen Lebensverkürzung gibt, gibt es Maßnahmen zur künstlichen Lebensverlängerung. Statt zu überlegen, ob die Diakonie Hilfe zur Selbsttötung anbieten soll, sollte sie überlegen, ob sie nicht wieder eine „Kunst des Sterbens“ etablieren könnte.

Läge in einer modifizierten Wiederauflage dessen, was es schon einmal im späten Mittelalter als sog. ‚ars moriendi‘ gab, als Kunst oder Kultur des (natürlichen) Sterbens, nicht ihr spezifisches Profil in dieser Problematik? Die immer wirkungsvolleren palliativmedizinischen Möglichkeiten machen Hoffnung, dass das Lebensende nicht durch Qualen und Schmerzen gezeichnet sein muss. Die entscheidende Frage bei einer Kultur des Sterbens müsste dann nicht mehr sein: Wie begegnen wir der Angst vor dem Leiden und den Schmerzen?, sondern: Wie üben wir uns in Geduld? Statt an Gift zu denken, wäre es Zeit, dass Kirche und Diakonie wieder stärker an ihre eigenen, spezifischen Mittel zur Sterbehilfe denken und ihnen wieder mehr zutrauen.

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1 Die beiden Artikel in der FAZ hat das ev. Magazin „Zeitzeichen“ dokumentiert: https://zeitzeichen.net/. Dort finden sich auch die Empörung des Nürnberger Theologen Ralf Frisch, Mich fröstelt. Erste Eindrücke zu einem theologischen Plädoyer für die Ermöglichung des assistierten professionellen Suizids, und eine ausführliche Stellungnahme des Wiener Theologen Ulrich Körtner, Dem Leben dienen – bis zuletzt. Das Karlsruher Urteil zur Suizidbeihilfe und seine Folgen.

2 Darauf hat vor allem Frisch, a.a.O., aufmerksam gemacht.

3 „Weiter stellt das Gericht ausdrücklich fest, die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, entziehe ‚sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit‘“ zitiert nach Körtner, Dem Leben dienen – bis zuletzt (Teil II), a.a.O.

4 Vgl. dazu Körtner, a.a.O., Teil III.

5 Körtner, a.a.O., Teil IV.

6 Zurecht fragt Körtner, „ob das Recht auf den eigenen Tod mit dem Recht gleichzusetzen ist, sich zu töten oder sich auf eigenen Wunsch töten zu lassen. Ist mein Leben mein Besitz, über den ich frei verfügen kann wie über mein sonstiges Eigentum?“ (Körtner, a.a.O., Teil III)


Jürgen Kaiser