'Hey, du Opfer!'

Jugendsprache vs. Tradition. Wer besetzt den Wortsinn?

Die Sprachwissenschaftler sind sich einig: Seit dem Jahr 2000 benutzen Jugendliche das Wort „Opfer“, um sich gegenseitig verächtlich abzuwerten. Notat to go - von Georg Rieger

Die deutschen Jugendlichen hätten anfangs Schwierigkeiten gehabt, diesen aus der Migrationsszene stammenden Begriff auch zu verwenden. Das habe sich inzwischen aber geändert. Der Begriff werde inzwischen auch von Erwachsenen scherzhaft als Anrede benutzt.

Ich kann das bestätigen. Auch aus den Mündern meiner Kinder hab ich das „böse Wort“ schon gehört – und bin natürlich sofort dazwischen gegangen: „Wisst ihr eigentlich, was ihr da sagt?!“ Natürlich wissen sie nicht, was bei mir mitschwingt, wenn ich „Opfer“ höre. Immerhin hören sie es sich an. Aber gegen die geballte Macht der Alltagssprache ist das natürlich nur ein letztes Aufbäumen.

Alle Jahre an Ostern ist freilich wenigstens in den Kirchen nochmal in dem ursprünglichen Sinn vom „Opfer“ die Rede. Sogar von einem, das für uns gebracht worden ist. „Wir danken dir, Herr Jesu Christ,/ dass du für uns gestorben bist / und hast uns durch dein teures Blut / gemacht vor Gott gerecht und gut“.

Sollte ich mich nicht freuen? Doch so unmöglich ich die locker dahingesagte Aggressivität der Jugendlichen finde, so fremd ist mir auch die unbedarfte Rede vom Opfer in der gottesdienstlichen Sprache, in Liedern und auch im Heidelberger Katechismus.

Dass Gott ein Opfer verlangt und Jesus mit seinem Tod für unsere Sünden „bezahlt“ habe und er also vor allem deshalb für uns gestorben sei, führt auf eine völlig falsche Spur.

Gott ist doch kein Schuld-und-Sühne-Buchhalter! Er hat weder seinen Sohn noch sich selbst „geopfert“, um irgendeine Rechnung zu begleichen. Sondern er hat sich in seinem Sohn uns Menschen „hingegeben“, um uns die Augen zu öffnen für ein Ende eben dieser unsäglichen Aufrechnungs-Theologie. Die hat ins Leben übersetzt so viel Leid angerichtet. Wenn Gott dem Opfern ein Ende machen wollte, dann wird er doch nicht genau so eins (auch nicht ein letztes Opfer aller Opfer) selbst exerziert haben.

Das Opfer-Gerede der Jugendlichen soll das eigene Selbstbewusstsein stärken, indem es andere demütigt. Dass es für ein gutes Leben keine Opfer braucht, sondern Zuwendung und Liebe, das ist die Oster-Botschaft.

In diesem Sinne: Eine besinnliche Passion und frohe Ostern!

                                                                                                              

James Redfield: Jugendsprache in Berlin-Neukölln: Wir sagen „Du Opfer!“. TAZ, 2. April 2008

Stefan Voß: Du Opfer… (PDF; 92 kB). Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 12. 2003

Hingabe, nicht Opfer! Predigt von Gudrun Kuhn über Johannes 11, 47-53

Diskussion von 2010 in zeitzeichen (Überblick) >>>

Werner Thiede, Widerwärtiger Dünkel >>> (vehemente Verteidigung der Sühnopfer-Theologie)

Burkhard Müller, Dem Zeitgeist sei Dank >>> (Replik auf Thiede)


Georg Rieger