Hilfe im Überschuss
von Pierre Bühler
»An siebenter Stelle [nenne ich als Einschränkung beim Zinsnehmen], dass man nicht das Maß überschreitet, das die öffentlichen Gesetze der Gegend oder des Ortes gestatten. Wenngleich das auch nicht immer genügt, denn oft gestatten die Gesetze uns, was sie eigentlich korrigieren oder verbieten könnten. Man muss also die Billigkeit (aequitas) voranstellen, die beschneidet, was zu viel ist.«
(Calvins Gutachten zum Zinsnehmen von 1545)
Im Unterschied zu anderen Autoren dieser Zeit, z.B. Luther, war Calvin dem Zinsnehmen – dem sogenannten Wucher – gegenüber recht offen. Er setzte ihm aber zugleich klare Grenzen, damit ein gutes Maß nicht überschritten wurde. Heute ist der größte Teil des in den Banken angesammelten Geldes einer grenzen- und achtungslosen Spekulation gewidmet. Dass hier eine Mäßigung im Namen von Billigkeit, Gerechtigkeit, gelten sollte, das gibt diesem kleinen Text Calvins eine hochaktuelle Brisanz.
»Wer nicht seinen Nächsten betrügen und vor Gott als Dieb gelten will, soll lernen, nach bestem Vermögen demjenigen Gutes zu tun, der seiner Hilfe bedarf. Auch die Freigebigkeit ist ein Stück der Gerechtigkeit: und wer dem Bruder nicht in der Not hilft, obgleich er es vermag, tut Unrecht. (...) Da erst gibt man eine Probe wahrer Liebe, wo man nach Christi Wort (Lk 6,34) denen leiht, von denen man nichts dafür hoffen kann. Dabei schwebt nicht etwa bloß ein zinsfreies Darlehen vor, wie manche Ausleger annehmen: man soll überhaupt nicht bloß dem Reichen leihen, der es uns irgendwie einmal wird vergelten können, und nach dessen Gunst man vielleicht ausschaut. Wirkliche Liebe und Erbarmen zeigt sich nur da, wo man angesichts eines armen Menschen auf gar keinen Ersatz hofft: wenn man ihm leiht, bringt man vielleicht gar das Kapital selbst in Gefahr.«
(Calvins Mosekommentar von 1563)
Dem Nächsten helfen, wenn er in der Not ist, und zwar mit Freigebigkeit, das gehört zu den Grundaufgaben christlicher Liebe. Doch Calvin formuliert hier eine scharfe Probe, in Anlehnung an Lk 6,34: Diese Hilfe gilt auch dann, wenn ich nichts zurückerwarten kann, wenn mir die Hilfe nicht vergolten wird. Gegenseitigkeit als breit anerkanntes Prinzip will es anders: »Do ut des«, ich gebe, damit du mir gibst. Helfen, ja, aber nicht ohne dabei einen Gewinn zu ergattern! Dieses gutmenschliche Austauschprinzip bricht hier Calvin, in Anlehnung an Jesu Radikalisierung der Ethik: Es ist mehr verlangt! Eine Hilfe im Überschuss, eine Hilfe, die nicht damit rechnet, etwas zurückzubekommen. In der Entwicklungshilfe würde das heißen: dem anderen helfen, sich selbst zu helfen. Dann würde der Süden nicht immer ärmer, während der Norden immer reicher wird. Und wer wäre in diesem Norden sogar bereit, dafür das Kapital selbst in Gefahr zu bringen, wie es Calvin am Ende des Textes erwägt? Max Weber sah mal Bezüge zwischen Calvins Protestantismus und dem kapitalistischen Geist. Unser Text zeigt eine nicht sehr kapitalistische Bereitschaft, das Kapital zu gefährden…
Pierre Bühler
Hans-Werner Hatting, Pierre Bühler und Ulrich Thielemann legen Zitate Calvins aus:
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