Taufunterricht für Erwachsene

Predigt zu Römer 6,1-14 im Gespräch mit Calvin

© Andreas Olbrich

Ein Geschenk Calvins: Den Anfang von Vers 5 übersetzt er wörtlicher als Luther und damit sachgemäßer. "Wenn wir in ihn eingepflanzt sind...".

Liebe Gemeinde,

in diesem Textabschnitt des Briefes an die Gemeinde in Rom geht es dem Apostel Paulus um die Bedeutung der Taufe. Man könnte auch sagen: Paulus gibt eine Lektion „Taufunterricht für Erwachsene“.

Die meisten von uns sind als kleine Kinder im 1. Lebensjahr getauft worden. Theologisch kann man die Frage stellen, ob das richtig ist. Ob nicht zur Taufe die eigene Entscheidung, das persönliche Bekenntnis eines selbständig denkenden Menschen gehört. Viele nicken hier bestätigend mit dem Kopf. Eigentlich stimmt das. Und doch: Die Praxis der Säuglingstaufe hält sich mit eigenartiger Zähigkeit, auch in unserer Gemeinde, deren Wurzeln in der Zeit der hiesigen Universitätsgründung liegen, die sich also aus den Quellen der Aufklärung speist.

Gestern stand es schwarz auf weiß zu lesen auf der Kirchenseite der regionalen Tageszeitung: In der evangelisch-reformierten Gemeinde Göttingen stand einer Zahl von 33 Beerdigungen im Jahr 2008 die Summe von 19 Taufen gegenüber – was im Vergleich zum statistischen Bevölkerungsrückgang und angesichts der Größe unserer Gemeinde gar kein so schlechter Wert ist. Die meisten dieser 19 waren Kindertaufen. Was sind die Motive der Eltern. die festhalten an dieser kirchlichen Tradition?

Sie haben ein sicheres Gespür dafür, dass sie ihr Bestes tun wollen für ihr neugeborenes Kind, dass sie ihm möglichst breite und gut begehbare Wege ebnen wollen für seinen Lebensweg. Dass sie jedoch letztlich nicht allein verantwortlich sind dafür, ob dieses Leben gelingen wird. Noch ergriffen von dem Ereignis der Schwangerschaft und der Geburt ahnen sie, dass es Gott doch irgendwie gibt – und in IHM den „Frieden, der höher ist als alle Vernunft“. Man erkennt das an der Wahl des Bibelverses, den die Eltern ihrem Kind mitgeben zu seiner Taufe.

Der beliebteste Taufspruch der letzten Jahre ist ohne Zweifel Psalm 91,11: „Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ Mutter und Vater des noch so verletzlichen, kleinen Kindes erbitten Schutz und Segen von der himmlischen Macht, die über uns steht und uns hoffentlich doch führt oder zumindest begleitet, auch durch die Krisen, die mit Sicherheit kommen werden. „Ich möcht‘, dass einer mit mir geht, der’s Leben kennt, der mich versteht“ – so lauten die Worte eines neueren Kirchenliedes. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ – aus dem 2. Timotheusbrief stammt ein anderer Klassiker der Taufsprüche.

Da wird dem Verstand des 21. Jahrhunderts nicht zu viel zugemutet, da kann manches im Ungefähren gelassen werden. Da hätte ein Paulus es schwer mit der theologisch so gewichtigen Aussage aus dem Herzstück unseres heutigen Predigttextes: „So sind wir mit Christus begraben in den Tod, damit wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“ (V.4)

Mit der Taufe beginnt ein neues Leben, liebe Gemeinde! Ist uns Getauften das eigentlich klar – oder denen, die sich auf die Taufe vorbereiten als Konfirmanden, als Erwachsene? Dass die Taufe nach Paulus Antwort geben will zu einer Frage auf Leben und Tod – als die eine, entscheidende Weichenstellung unseres Lebens?! Das Wort Taufe, so habe ich gelernt, kommt im Deutschen von „untertauchen“.

Aus der großen Kirchenfamilie nenne ich zwei Konfessionen, die diese Tradition pflegen: In der orthodoxen Kirche wird der Säugling bei der Taufe möglichst tief ins Wasser gehalten. Die Baptisten, die die Taufe vom Griechischen her sogar in ihrem Namen tragen, sind bekannt für die so genannte Glaubenstaufe, während der der erwachsene Täufling einmal komplett untertaucht, sich also der Gefahr des Wassers aussetzt. Des Elementes, das nicht allein reinigt und ernährt, sondern auch zum Tod durch Ertrinken führen kann. Im heutigen Lesungstext aus Jesaja 43 haben wir dazu Gottes Zusage an Israel gehört: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen.“

Bist du also, liebe Schwester, lieber Bruder in der Gemeinde Jesu Christi, im wahrsten Sinn des Wortes „aus der Taufe gehoben“, dann fängt dein Leben noch einmal neu an! Vers 11 unseres Textes behauptet kurz und bündig: „So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid und lebt Gott in Christus Jesus.“ Die Taufe – Antwort auf die Frage nach Leben und Tod: Die Sünde ist für dich gestorben!

Was heißt das? Salopp gesagt: Du hast einen neuen Chef. Nicht „auf der Arbeit“ - sondern für dein ganzes Leben! Dein großes ICH ist entthront. Es herrscht nicht länger über dich. Jetzt sitzt Christus im Regiment. Der Auferstandene. Der den alten Adam, wie Paulus an anderer Stelle sagt, ersäuft hat. Und diesen alten Adam, mich, den Menschen, wie er von Natur aus ist, beschreibt der Apostel unübertroffen präzise im folgenden Kapitel des Römerbriefes (7,19): „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“

Theologisch gesprochen ist dieses ICH der Mensch nach dem Sündenfall. Der, dem die Schlange versprach, dass er wie Gott sein würde. Was bekanntlich weder Adam noch Eva gelang und noch weniger ihrem ersten Sohn. „Von nun an ging’s bergab“ würde Hildegard Knef dazu singen, mit rauchiger Stimme. Und mit Römer 6, Vers 6 geht Paulus dazwischen im großen Welttheater: „Wir wissen ja: Unser alter Adam ist mit Jesus gekreuzigt, damit der Leib der Sünde vernichtet würde, so dass wir hinfort der Sünde nicht dienen.“ Anders gesagt: Der seinen Begierden nicht länger Gehorsam leistet. Noch anders gesagt: Der nicht länger tierisch lebt, sondern wahrhaft menschlich.

Ich nenne ein Beispiel für die Begierden des Leibes: Wenn’s um das Essen geht, werde die friedlichsten Menschen zu Tieren. Ein Ende mit Schrecken nahm noch jede unserer eigentlich so erholsamen Spiekeroog-Freizeiten im früheren „Haus Göttingen“: Das Frühstücksbuffet  am letzten Morgen, mit Speisen und Getränken „zum Mitnehmen“ für die lange Heimfahrt. Spätestens 10 Minuten vor der offiziellen Frühstückszeit waren die meisten schon da, gerade auch die Intellektuellen, die Geistesmenschen, und hatten alles abgegrast, manches regelrecht abgeweidet. Sie alle kennen solche Phänomene auch aus anderen Zusammenhängen.

Fast alle sind getaufte Christen! Und handeln doch frei nach Bertolt Brecht: Erst das Fressen, dann die Moral. Niemand spreche sich frei von solcher Haltung, von solchem Verhalten. Kann man da wirklich so kategorisch, ja fast apodiktisch wie Paulus behaupten, „dass wir hinfort der Sünde nicht dienen...“? Ist nicht der alte Adam auch in anderen Bereichen unseres Dichtens und Handelns so mächtig, dass des Apostels Forderungen am Ende unerhört verhallen, wirkungslos verpuffen? „Lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe“? „Gebt euch selbst Gott hin , eure Glieder als Waffen der Gerechtigkeit“? – Tut mir leid, Paulus – ich schaffe das nicht!

So, liebe Gemeinde, jetzt schlägt die Stunde des Bibelauslegers, der heraushilft aus dem Dilemma des Wohl-Wollens, aber Nicht-Könnens. Es ist der Reformator Johannes Calvin, der in seinen Straßburger Jahren, als er etwa 30 Jahre alt war, den Römerbrief sehr behutsam und besonnen kommentierte. Zu unserer Stelle schreibt Calvin, dass Paulus hier eine Predigt vorträgt, aus der sich erst später die Ermahnung ergibt. Der Franzose ist also im Gefolge Luthers ganz der Theologe der „Rechtfertigung aus Glauben“. Ich zitiere Calvin: „Diese Predigt lautet: Christi Tod hat Kraft, unser sündliches Fleisch niederzuhalten und zu töten, Christi Auferstehung aber, das neue Leben einer besseren Natur zu erwecken, und die Taufe gibt uns Anteil an solcher Gnade. Damit ist erst ein festes Fundament gewonnen, von dem aus die Christen ermahnt werden können, ihrer Berufung würdig zu wandeln.“ (123)

Die Taufe als festes Fundament. Zuerst Gottes Wort – dann unsere Antwort. Zuerst Gottes Gabe – dann unsere Aufgabe. Zuerst der Glaube – dann das Wandeln. Calvin feiert die reformatorische Wiederentdeckung. Und dann macht er uns mit seiner Auslegung ein zweites Geschenk: Den Anfang von Vers 5 übersetzt er wörtlicher als Luther und damit sachgemäßer. Eine ganz unscheinbare Stelle: „Wenn wir mit Christus verbunden sind“, sagt Luther. Im griechischen Urtext steht da das Wort sümphütoi, wörtlich: zusammengepflanzt. Calvin sagt: „Wenn wir in ihn eingepflanzt sind...“. Das Fundament besteht somit nicht aus Beton!

Hören wir wiederum den Reformator mit Worten aus seinem Kommentar: „Das kraftvolle Bild vom Einpflanzen zeigt deutlich, dass der Apostel nicht nur ermahnt, sondern vielmehr von der Güte Christi predigt. Der Lobpreis liegt nicht darauf, dass wir mit eigener Anstrengung leisten sollen, was Gott von uns fordert, sondern auf dem, was Gott tut, wenn er mit eigener Hand die Einpflanzung vollzieht.“(124)

Calvin hebt in seiner besonnenen Art nun nicht vom Erdboden ab, indem er etwa von einem Paradiesgarten spräche, in den der göttliche Gärtner den Menschen neu einpflanzt. Er bleibt ein bedachtsamer Ausleger und nennt diese Einpflanzung eine „geheimnisvolle Verbindung, vermöge deren wir mit Christus so zusammenwachsen, dass sein Geist als unser Lebenssaft seine Kraft in uns wirksam werden lässt.“ (124) Und dieses Zusammenwachsen dessen, was durch die Taufe zusammengehört, das beschreibt ein realistischer Ausleger, dem nichts Menschliches fremd ist, als einen ganz allmählichen Prozess.

Hören Sie ein letztes Mal Calvin im O-Ton: „Solange wir Kinder Adams sind und nichts als natürliche Menschen, stehen wir dermaßen in der Knechtschaft der Sünde, dass wir nicht anders können als sündigen. Erst die Einpflanzung in Christus befreit uns von diesem elenden Zwang, nicht als ob alle Sünde sofort ein Ende hätte, aber so, dass wir doch endlich den Sieg gewinnen werden...Wir dürfen nicht verzagen, wenn wir nicht finden können, dass unser Fleisch schon völlig gekreuzigt sei. Denn dieses Werk Gottes wird nicht am ersten Tag, an dem es beginnt, auch schon zu Ende geführt, sondern es wächst allmählich und erreicht in täglicher Zunahme sein Ziel.“(125)

Es wächst allmählich, liebe Gemeinde. Hier spricht ein Entdecker der Langsamkeit, der eine lukrative Sparte der so genannten Ratgeber-Literatur komplett überflüssig macht. Nämlich die zahlreichen Tipps, wie wir jung bleiben und das Älterwerden aufhalten sollen. Paulus und Calvin, jetzt unisono, würden sagen: Du hast eine Chance – nutze sie! Du wirst älter – und damit weiser und klüger! Du musst nicht ständig deine Fehler wiederholen, du wächst auf Christus hin, dir gelingt es besser und besser, bewusst als Christenmensch zu leben und das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.

Du kannst zwar deinem Kind oder Großkind auch nicht exakt die Weltwirtschaftskrise erklären. Aber du vermagst von deinem biblischen Fundament her darzulegen, was Freiheit bedeutet: „Wer gestorben ist mit Christus, der ist frei geworden von der Sünde.“ (V.7) Wer Sklaverei in Ägypten kannte, weiß das Gelobte Land zu schätzen. Freiheit bedeutet niemals nur Individualität. Freiheit ist nicht ein abstrakter begriff, den jeder so vor sich hin mit Inhalt füllen könnte. Befreit ist der Mensch immer zu etwas. Wenn nicht mehr das große EGO ungehemmter Schrankenlosigkeit Chef ist in deinem Leben, dann bist du befreit zur Gerechtigkeit. Dann nutzt du deine Glieder und Gaben als „Waffen der Gerechtigkeit“ (V.13). Christliche Freiheit reicht viel weiter als die letztlich doch arg beschränkte Individualität. Sie ist ein Gemeinschaftsbegriff. Wer sündigt, bleibt allein. Wer Gerechtigkeit übt, stiftet und fördert Gemeinschaft, ja Geschwisterlichkeit.

Darum ist denen, die das Frühstücksbuffet vor den anderen stürmen wollen, entgegenzutreten mit dem Refrain eines Liedes aus den 80er Jahren: „Es ist genug für alle da!“ Darum ist eine Besinnungspause vor dem gemeinsamen Beginn einer Mahlzeit eine gute Übung, auch das Brot für die Welt, die Forderung und Herausforderung des längst nicht beendeten Kampfes gegen den Hunger in weiten Teilen der Welt zumindest einen Moment lang zu bedenken und ins Gebet zu nehmen. „Herr Jesus, sei Du unser Gast, dann sehen wir, was Du uns allen bescheret hast.“

Das Leitwort unseres Textes ist Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer der Predigt, bestimmt schon aufgefallen. Es rahmt unseren Text im ersten und letzten Vers. Es ist das Wort „Gnade“. „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lukas 18,13) – so lautet das Gebet dessen, der weiß, dass er nicht gefeit ist gegen Rückfälle in das überwunden geglaubte Leben des alten Adam.

Ich möchte schließen mit meiner Lieblingsstrophe aus dem Tauflied von Johann Jakob Rambach (eg 200), das wir vor der Predigt sangen:
„Mein treuer Gott, auf deiner Seite/bleibt dieser Bund wohl feste stehn/Wenn aber ich ihn überschreite/so lass mich nicht verlorengehn./Nimm mich, dein Kind, zu Gnaden an/wenn ich hab einen Fall getan.“ Und Gottes Friede, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Gehalten am 5. April 2009 in der Evangelsich-reformierten Kirche Göttingen

Zitate nach „J. Calvins Auslegung des Römerbriefs und der beiden Korintherbriefe“, hg.v. G. Graffmann, H.J. Haarbeck und O. Weber, Moers 1960


Pastor Christoph Rehbein