Jakob und Esau 

Freie Nacherzählung einer Bibelgeschichte


Pier Francesco Mola: Jakob trifft Rachel (um 1659) © Wikicommons

Wie der zweitgeborene Zwillingsbruder sich mit seiner Vergangenheit versöhnt. Eine Erzählung zu Fragen von Schuld, Segen, göttlicher Führung und menschlicher Eigenverantwortung.

Vorwort

Das ist die Nacherzählung einer Geschichte, die ihre Wurzeln in der Bibel hat. Sie wird von mir in grosser Freiheit erzählt. Das wurde schon immer getan. Und die Buchstaben sind trotzdem nicht erschrocken aus dem Buch gefallen. Wer sich darüber aufregt, muss sie nicht lesen. Das ist auch Freiheit.

Die Urgeschichte findest du im Alten Testament im Buch Genesis. Jakob kommt vor in Gen. Kapitel 25, Vers 19 folgende bis Ende Kapitel 35  Darin eingefügt  Adam und Eva Gen. Kapitel 2, Vers 4 und Kapitel 3.

*** 

Wer kam zuerst aus der Mutter gekrochen?  

Der Draufgänger. Vaters Stolz. Esau.  

An seiner Ferse klammerte sich der Zwilling fest. Mutters Liebling. Zweitgeboren. Jakob. 

Mutter Rebekka kümmerte sich von Anfang an um den hellen, den zarten. Vater Isaak bevorzugte den dunklen, den behaarten und flüsterte ihm ins Ohr:  Du mein grosser, mein starker, mein Krieger. Weder Vater noch Mutter waren für die Kinder hilfreich, das leuchtet ein. Aber was einleuchtet, wird oft ausgeblendet. Wie sind die Menschen eigenartig! Eine eigene Art. Von Anfang an. Die Ureltern schon: eigenartig. Ohne Bauchnabel. Aus rotem Ton geformt, mit göttlichem Atem beseelt, Kunstwerke eines Gottes. Adam, Urmensch, unerfahren naiv. Eva, Urfrau im Tiefschlaf aus Adams Seite operiert, von dem Gott weiblich geformt.

Was war der Unterschied? Fast keiner. Adam liess sein Wasser stehend auf die Erde fallen. Eva hockte sich dazu nieder. Generationen nach den Ureltern ergötzen sich immer wieder neu an diesem Bild. Auch das Kind Rebekka hatte es am nächtlichen Feuer mitbekommen. Sie versuchte anderntags aufrecht zu pinkeln wie ihr Urahne, nässte sich dabei das Gewand. Sie hatte eben kein Schläuchlein zwischen den Beinen wie ihre Brüder. Das machte aus ihr das Mädchen. Das nur ein Mädchen. Nichts zum gezielten Spritzen. Zur Zeit der Niederkunft hatte sie mit Schmerzen ihre Zwillinge geboren, den roten Esau zuerst, dann den hellen Jakob. Diese Schmerzen wurden immer schon als göttliche Strafe gedeutet für die erste menschliche Verfehlung gegen Gottes Gebot, verschuldet von der übergriffigen Urahnfrau Eva, die sich keck eine Frucht von jenem untersagten Baum gegriffen und dann auch gekostet hatte. Die Ursünde. Die Ursünderin. Die Schuldige allen Übels.

Woher Rebekka das wusste? Man erzählte es sich halt so, wie es schon immer erzählt worden war und erzählt werden wird ad infinitum. Obwohl es Dichtung ist und nicht Faktum. Gelegen kam diese Deutung den nachgeborenen, den eher schwachen männlichen Menschen. Wen sonst hätte man so unbeschadet und unwidersprochen zum Sündenesel machen können. Körperliche Schmerzen waren das eine, was Frauen seither erleiden mussten, das andere die Kränkung: Frau muss sich dem Mann unterwerfen wie die Hündin dem Hund, sie muss gezähmt werden aus Angst vor ihren Verführungskünsten. Auch Rebekka war keck. Neugierig wie Eva. Sie wusste ihren Mann Isaak so zu führen, dass er ihr nicht auf die Schliche kam. Sie kochte für ihn. Sie kochte nach seiner Zunge, so dass er genüsslich schmatzte und  sich wohlig neben ihr niederliess. Dann bekam sie ihren Willen von ihm, der glaubte, es wäre der seine gewesen.

So überliess sie ihm auch Esau, den wilden. Er war ein mühsames Kind, immer in Bewegung, immer draussen, immer hinter etwas her, wie ein Jäger. Jakob hingegen war bedacht, formte munzige Figürchen aus Teig, die Rebekka dann im warmen Brotofen mitbuk. Das Bübchen schaute ihr zu, wenn sie kochte und versuchte bald auch selbst ein Maisküchlein in den Ofen zu schieben. Er hörte seiner Mutter aufmerksam zu, wenn sie Geschichten von früher erzählte, während Esau mit seinem Vater auf dem Feld zum Rechten sah. Erzähl mir von der Urahnfrau Eva. Von Eva, fragte sie, was wundert dich Eva? Du bist doch kein Mädchen. Weil sie mit der Schlange reden konnte, das möchte ich auch, sagte der Kleine. Rebekka lachte. Schlangen meiden die Menschen. Tun sie nicht, ich füttere sie im alten Topf mit dem Loch, sagte Jakob, dort wohnt sie hinten im Dunkel der Küche. 

*** 

Esau wuchs zu Vaters Freude immer klarer hinein in die Rollte eines Kämpfers. Er wollte sich um alles streiten. Vor allem um das Ziel. Er wollte in die Mitte treffen, dort, wo das Herz pocht. Für dieses Ziel konnte er alles um sich herum vergessen. Nach einer langen Nacht auf Jagd spürte er erst bei Sonnenaufgang, wie hungrig, wie durstig, wie müde er war. Er war hungrig wie ein Wolf, aber die Gazelle, die war nicht für den Wolf, sondern für Vater Isaak bestimmt. Als Esau die erjagte Beute dem Vater vor die Füsse warf, bekam er von diesem einen waidmännischen Schlag auf die Schulter. Aus der Küche stieg ein würziger Duft in seine Nase, Bruder Jakob hatte eine Suppe am Köcheln. Die Gazelle müsste erst noch ausgeweidet werden, die Linsensuppe hingegen dampfte und roch nach Gutem.

Sie traf seinen Magen und seinen Hunger in der Mitte. Her damit, Bruder, rief Esau, ich hungere. Kannst du haben, was gibst du mir dafür? Einen Schenkel der Gazelle morgen. Ich warte nicht auf morgen, tapferer Jäger, ich will die Sache jetzt geregelt. Das Recht der Erstgeburt verlange ich. Kannst du haben, gib her! Jakob nahm den Topf vom Feuer, gab noch reichlich vom Fett des Lammes dazu. So iss! Esau nahm die Kelle, schöpfte sich aus dem Topf, blies auf die heissen Linsen und schluckte. Schöpfte, blies und schluckte. Am Boden des Topfes angekommen, kratzte er, was es zu Kratzen gab, setzte den Wasserkrug an seine vollen Lippen, schlürfte, strich sich mit dem Handrücken über den Mund und rülpste. Die Wasserperlen mischten sich mit dem Mus in seinem krausen Bart. Er atmete auf, klopfte sich den Bauch und legte sich hin auf die lange Lehmbank. Der getätigte Handel mit seinem Bruder ging im Tiefschlaf unter. 

*** 

Seine Jahre hatten Gewicht bekommen, Isaak war alt geworden. Er war von den vielen Sonnentagen seines Lebens geblendet, erblindet. Wer weiss denn, wann der letzte Tag kommen wird, der letzte Atemzug? Wie war das nun mit dem Leben? Was blieb ihm noch? Frau Rebekka war da und doch weit weg. Sie tat für ihn, was sie tun musste immer etwas reserviert, immer etwas abwesend. Mit seinem Sohn Esau hatte er es, wie gute Väter es mit guten Söhnen haben. Esau war nach Isaaks Vorstellung ein fähiger Jäger geworden, dessen saftiges Wildbret alle anderen Wildbrets hinter sich liess, es sei denn das von Rebekka zubereitete, wenn sie bei Laune war. Und Jakob? Kochen konnte auch der. Aber: Ein Seufzer stieg aus seiner Brust. Ein braver, gezähmter, ein Langweiler, etwas feminin, nicht das, was ein Mann darstellen sollte... 

*** 

Du hast mir die Geschichte von Eva und der Schlange nie zu Ende erzählt, Mutter. Ich bin kein Kind mehr. Rebekka schob eine weisse lockige Haarsträhne unters Kopftuch. Einverstanden, sagte sie, du bist fast erwachsen und kannst die seltsamen Pfade, die das Leben sich aussucht, heute besser verstehen. Sie sagen, die Schlange hätte damals sprechen können. Vielleicht. Zweifelst du auch daran, mein Sohn? Also, die Schlange habe Eva mit ihrem glänzenden Leib umwickelt, umschmeichelt, sie soll mit feuchter Doppelzunge nahe an ihrem Ohr gezischt haben: Der Baum ist schön, die Frucht noch schöner. Aber das Schönste daran ist die Wirkung: Sobald du von der Frucht gegessen hast, wirst du um Gut und Böse wissen, was ist und was nicht sein sollte. Dann, bitte, bist du wie ein Gott und kannst dir alles nehmen.

Was hättest du der Schlange geantwortet, Jakob? Eine verzwickte Frage, stotterte der junge Mann und nach einer Pause: Wenn du s nicht probierst, wie willst du dann wissen, ob sie lügt? Du kommst ganz nach mir, mein Sohn. Genau so musste Eva die Lage eingeschätzt haben. Darum ihr gezielter Griff hinein in die Mitte des Lebens und dann zurück in den Mund und kam ein grosses Erstaunen, ein  Staunen heraus. Die Welt ging ihr auf, sie war verwandelt, sie war neu, sie bemerkte, dass sie nackt war und dass eine Begierde zwischen den Beinen erwacht war, eine Sehnsucht nach dem wirklichen Leben, nach Bösem, nach Gutem, nach Lust.

Also, meinte Jakob etwas betreten, weil die Mutter solches noch nie so bar jeder Scham geäussert hatte, sie hat also nicht gelogen, die Schlange. Er griff sich an den Schlauch zwischen seinen Beinen, der sich anders anfühlte, gefüllt mit Kraft. Ob die Schlange sich mit Hintergedanken an Eva herangemacht hatte, wer kann das von Schlangen wissen? Aber eines wird offensichtlich, wenn man die Geschichte mit wachem Sinn betrachtet, meinte Rebekka: Adam stand abseits, verloren in einem Paradies, das für ihn wenig Abenteuer bot, ihm nichts abverlangte ausser Langeweile. So war die Frucht aus Evas Hand ihm Erlösung. Er kaute, schmeckte, schluckte. Sie schmeckte fremd aber verlockend anders. Nun war auch er dabei. Nackt dabei. So neu! Jetzt konnte das Leben beginnen. Rebekka raffte sich auf und machte sich am Herd zu schaffen. Jakob büschelte sein Gewand zurecht und hatte feuchte Augen. 

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Isaak war blind, tote Augen, sehschwaches Herz. Er gewahrte nicht, dass er nicht mit Esau allein sprach, sondern dass hinter der dünnen Lehmwand eine Lauscherin mitfieberte. Esau war so eingenommen, so überwältigt vom Anliegen seines Vaters, dass auch ihm entging, dass seine Mutter ganz Ohr war. Er verliess im Jagdschurz mit Pfeil und Bogen pfeifend die Wohnstätte. Die Lauscherin an der Wand eilte mit der geheimen Nachricht direkt zu ihrem Sohn. Was die Mutter ihm darlegte, wühlte Jakob auf. Sie hatte, als hätte sie die Krise längst geahnt, einen riskanten Plan für ihn bereit. Ihr Liebling sollte den Segen bekommen, er war ein Mann für die Zukunft, kein Hinterurwäldner wie Esau. Wir schaffen das mit List, flüsterte sie doppelzüngig an Jakobs Ohr. Manchmal geht es nicht gradaus im Leben, die Pfade winden sich schlängelnd durch dorniges Dickicht, so dass nicht einmal der Gott weiss, wohin die führen. Du wirst den Segen erlangen, wenn du mitspielst, wie ich es dir vorschlage.

Von Seiten Jakobs ein Zögern, ein Wennundaber aus Angst, das Vorhaben könnte misslingen. Rebekka blieb von ihrem Vorhaben überzeugt. Eilig schlachtete sie einen streng riechenden Ziegenbock und richtete ihn her mit Kräutern, Gewürzen und Salz. Dann kleidete sie Jakob ein mit dem Festgewand seines Bruders, das vom scharfen Geruch des Jägers durchwirkt war. Was noch vom feinen Jakob aus dem Gewand lugte, wurde mit Ziegenfell umgarnt. Die Zeit eilte. Als Waldmensch verkleidet, mit dem penetranten Geruch des wilden Lebens trat Jakob an das Lager seines Vaters und setzte die List seiner Mutter um. Es war nicht leicht, fast hätte Isaak Verdacht geschöpft. Iss, mein Vater, ich habe alles bereitet, wie du s gewünscht hast. War das nicht Jakobs Stimme? Aber der Duft, der Duft aus der Küche vernebelte Isaaks Verstand. Er ass, er kostete, er schmatzte, er war glücklich wie zu glücklichen Zeiten. Glücklich? Ja, er goss den ganzen Segen über Jakob aus im Namen seines Gottes El.

Amen. Nun war er bereit zu sterben, er hatte das Seine getan. Kurz darauf betrat Esau das Gehöft. Geschafft, verschwitzt, zufrieden. Er war nah am gewünschten Ziel, sein Vater würde ihm reichen Segen spenden, war er doch unbestritten der Erstgeborene. Kein Linsengericht konnte die Wirklichkeit überkochen. Er bereitete die Gazelle so zu, wie sie dem Vater schmecken würde. Er zog sich das Festgewand über den verschwitzten Körper, nur kurz sich wundernd über Ziegenfellresten am Boden. Dann trat er fröhlich zum Lager seines Vaters...alsbald zerbarst ihm die Welt wie am letzten Tag der Welt. Der ganze Segen war an den verlogenen Weichbruder Jakob verschwendet worden. Für Esau blieb ausser der gebratenen Gazelle nichts. Den wird er umbringen beim Gott der Götter! 

*** 

Wie er rannte, wie ein Hase vor dem Fuchs Haken schlagend. Jakob legte ohne Pause weite Strecken zurück, in seinem Kopf müllte sich die Welt in der falschen Richtung, eiernd, verdreht, abartig. Er musste weg, seine Mutter hatte ihm das Zeichen gegeben: Lauf, winde dich aus den Händen deines Bruders, er will  dich  erwürgen. Doch um die Familiensaga im Ort unbefleckt zu wahren, sollte er dem Schein nach gemütlich nach seiner Mutter Heimat reisen, um dort eine Braut zu werben. Doppelzüngige Schlange! Sie verfolgte ihn. War er feige? Oder eher wie ein Schmetterling im Sog des Harrmatan, dem heissen Wüstenwind? Er rannte verzweifelt. War er nun gesegnet? Hielt der Segen sein Versprechen? Das Wasser im Ziegenfellbeutel hielt sich kühl. Er setzte sich ausser Atem auf einen Stein und trank. Die Sonne machte ihren Abgang. Der Stein war ein Fixpunkt des Augenblicks. Er legte sich darauf, den Kopf an den noch warmen Fels geschmogen. Er begann ruhiger zu atmen. Der Himmel neigte sich zu ihm. Unter dem Himmel schlief er ein.

Ein seltsamer Traum stieg in ihm hoch. Eine Leiter, ein Kunstwerk aus Ästen wuchs auf vom Stein in die Weite des Himmels, so dass die Sterne sich darin zu Lichterketten aufreihten. Neben ihm stand ein geflügeltes Wesen, engelgleich, neigte sich zu ihm, sprach ihn an: Du Gesegneter an der Pforte zum Himmel, du hast eine Bitte an den Herrn der Himmel. Jakob wanderte mit seinen Augen den unzähligen Sprossen entlang in die Höhe, sein Blick verlor sich im All. Dann fiel er wie ein Stein hinunter auf die harte Erde. Jakob murmelte: Warum sind die Wege des Lebens nicht gerade, warum muss ich mich winden wie eine Schlange mit gespaltener Zunge, um zu genügen? Der Engel, eine Sprosse der Leiter mit dem linken Fuss suchend, rief ihm zu: Du wirst es erfahren, so ich wieder hinabsteigen werde an diesen Ort. Fand den Tritt, stieg hoch, stieg höher, verschwand. Andere Geflügelte stiegen vor und nach ihm hoch, stiegen höher und verschwanden und wieder andere stiegen herunter, fassten den Tritt auf der Erde.

Die Leiter schwankte im Wüstenwind. Warum sie nicht fliegen wie die Schmetterlinge, sie haben doch Flügel, dachte Jakob noch, während er im Traumwasser langsam  absank. – Vom frischen Morgenwind angehaucht, erwachte er, rieb sich den Schädel, wo war er hingeraten? Am Tag zuvor hatte er geglaubt, er befinde sich am Tor zur Hölle und am Abend an der Pforte zum Himmel. Mit flacher Hand strich er über den Stein, mit kräftigen Armen richtete er die Steinplatte hoch. Er will sie von weitem sehen, wenn er, falls er den Weg zurückfindet. Er nannte den Ort Bet El, Haus des Gottes El. Die Leiter im Traum ein Wegweiser zum Gott El, dem Geber des Segens. Durstig wie er war, machte er sich auf zum nächsten Brunnen, der Ziegenfellbeutel war leer. 

*** 

Zur sechsten Stunde erreichte er eine Wasserstelle. Hirten lagerten im Schatten von Tamarinden mit ihren Herden. Die Hunde knurrten. Man machte sich gegenseitig bekannt: Wer bist du, woher kommst du, wie heisst du, was willst du?  Sie erkannten, dass Jakob zum Clan der Familie Laban gehörte, dass  Rebekka, seine Mutter, Labans Schwester war, also entfernt verwandt mit ihnen. Jakob darum immer noch ein wenig einer von ihnen. Sie waren die Hüter und Züchter der grossen Herden, die Mächtigen in der Gegend. Die Hunde liessen das Knurren. Man bot Jakob kühles Wasser aus dem Tonkrug. Noch während er gierig trank, trieb eine Junghirtin ihre Schafe in den Schatten, Rachel, Tochter von Laban, sieh da, eine Cousine. Zufall oder Gottesfall?

Ihr Wesen nahm ihn sogleich ein, sie nahm ihn gefangen, er folgte all ihrem Tun. Die ist es, keine sonst. Manneskraft durchströmte ihn, mit Kraft schob er den schweren Stein zur heissen Stunde vom Brunnenloch, er liess ihre Schafe und Ziegen trinken. Dann umarmte und küsste er sie. Sie liess es zu. Das war eine ganz und gar unübliche Begrüssung im Angesicht fremder Hirten, ha, was war denn in diesen fernen Cousin gefahren! Jakob kümmerte es nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine Tat getan aus eigener Entscheidung, sie fühlte sich gut an. Er brauchte die Mutter nicht zu fragen. Und keine Schlange hatte geflüstert, ausser er hätte sie überhört. 

*** 

Laban, sein Onkel, freute sich. Der Himmel brachte ihm eine willkommene Kraft, einen Knecht, den es zu nutzen galt. Tochter Rachel war glücklich. Jakob war glücklich. Laben zufrieden. Sieben Jahre waren um wie sieben Tage, da stand schon die Hochzeit an. Ein grosses Fest wollte gross gefeiert werden. Die Männer erlegten Gazellen, die Frauen richteten sie her, buken Brot, sie putzten sich und kleideten sich. Der Bräutigam durfte sich sehen lassen, sieben Jahre Viehzucht machten einen gemachten Mann aus ihm. Die Braut war eingehüllt in Taft aus dem Iran, er würde sie in dieser Nacht enthüllen und als seine Frau erkennen. Musikanten spielten auf Flöten und Geigen und sangen anzügliche Balladen, es wurde getanzt, gegessen und dem Wein zugesagt. Ja,ja,so.

Dann trug Jakob seine Braut ins Schlafgemach, enthüllte sie und dann war es Lea mit den matten Augen, nicht Rachel, die quirlige. Die ältere ledige Schwester. Laban hatte ihn reingelegt. Er fühlte sich so mies wie Esau sich gefühlt haben musste, als er ihm den Segen gestohlen hatte. Er hätte Laban umbringen können. Lea aber schob er lieblos, grob aus der Kammer. Rachel kam zurück mit den Ziegen und den Schafen, ihr Vater hatte sie für einen Tag und eine Nacht vom Gehöft entfernt für seinen Plan. Sie hatte es gegen ihren Willen einsehen müssen. Die Tradition. Jakob war drauf und dran, seinen Beutel zu packen und ins Nichts zu gehen oder wohin auch immer.

Da packte ihn Laban am Arm. Unter Männern, sagte er, Jakob, unter Männern, du verstehst doch, dass die Tradition verlangt, dass die ältere Schwester zuerst heiraten darf. Das musste sein, sie wäre dem Haus sonst als alte Jungfer übrig geblieben. Nun hast du sie, aber wart's ab, du bekommst Rachel als Zugabe. Eine kleine Woche nur mit Lea, und dann darfst du auch Rachel öffnen. Ich bin nicht so herzlos, wie man mir nachsagt. Nimm sie beide und auch das noch unter Männern, zwei Frauen heisst auch zweimal sieben Jahre, du verstehst das sicher, denn ich habe beide gut genährt, nicht wahr? Handelseinig? Handelseinig bei zerbrochenem Glück. Wo blieb der Segen? Vom Harrmatan verweht? 

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Mit List und Glück gelang Jakob der Abschied aus dem zähen Zugriff seines Schwiegervaters. Dabei kam es auf den richtigen Zeitpunkt an und auf die örtliche Verteilung seiner Herden mit ihren Hirten fernab von Labans Weideland. Alle warteten auf den Code: Heimat. Die Hirten pfiffen ihn über die Felder sich gegenseitig zu. Dann brach die Karawane auf. Sie war schon ein paar Tage unterwegs mit Kind, Kegel, Zelten und all den Tieren und ihren Hirten, da holte Laban auf seinem Esel den unübersehbar reichhaltigen Auszug aus  seinem Haus ein. Ooooh! Laban spielte den Geprellten. Dass man ihm das antun konnte, neinaberauch, dem ehrbaren Laban. Einfach so ohne Kuss und Küsschen  davonschleichen mit Töchtern und Enkelkindern, neinaberauch, was war das für eine Art. Und dazu noch seine Götterchen mitlaufen lassen, seine Lieblinge, seine Garantie für Segen.

Wo, beim Gott, wo war die Dankbarkeit für alles, was er alles für seinen Neffen in Not getan hatte, man sehe sich dessen Reichtum an, unverschämt, so schamlos! Als er mit der Litanei fertig war, meinte Jakob trocken, er solle doch alles nach seinen Götzlein durchsuchen, niemand habe sie gestohlen, der Verdacht sei ungehörig, derjenige, bei dem er sie finde, sei des Todes. Ups, das war unsorgfältig und sehr naiv gedacht und geäussert. Besser, er hätte sich davor die Zunge abgebissen. Die Götzlein befanden sich nämlich im Besitz seiner geliebten Frau Rachel. 

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Nun, es kann auch Rettung bedeuten, wenn man listig ist und die List klug einzusetzen weiss. Als ihr Vater Laban bei ihr im Zelt nach den Göttlein suchte, überall mit seinen Händen hineingriff und alles durchwühlte, da sass Rachel verlegen lächelnd auf dem Kamelsattel und schaute verschämt zur Seite. Du entschuldigst, Vater, dass ich dir dabei nicht helfen kann, ja nicht einmal aufstehen mag zu deiner Begrüssung. Mir geht es wie es Frauen geht im Vollmond. Schon gut, Tochter, ich verstehe, bleib nur sitzen und werde wieder wohl. Sie blieb auf den Figürchen sitzen, die sie in der Satteltasche geborgen hatte. Er küsste sie auf die Stirne und verliess ihr Zelt. Verliess enttäuscht und getäuscht das Leben, das sich gerade von ihm entfernt hatte durch Wüsten, die zu durchqueren ihm nicht gelingen würde. 

Rachel aber lachte hinter der Hand, als Jakob nach ihr ausschaute. Sie öffnete für ihn die Satteltasche, da waren sie alle, die kleinen Götter, die ihr Heimat bedeuteten, auf die sie nicht verzichten wollte, selbst wenn sie Gott El damit erzürnen würde. Jakob wusste nicht, ob er zornig sein sollte oder froh, dass sie eben dem Tod entkommen war.  Er nahm eines der Figürchen in die Hand und meinte, so es aus Brotteig wäre, man könnte es essen. Rachel nahm es ihm aus der Hand und liebkoste es. Wenn wir alle heil ankommen bei Isaak, Rebekka und Esau, dann werde ich für die ganze Sippschaft essbare Brotgötzlein backen zum Dank. Jakob betrachtete seine Lieblingsfrau entsetzt. Ich aber ich werde für Gott El das schönste Schaf opfern auf einem neuen Altar, den ich selber bauen werde, versprach er mit erhobener Schwurhand. Und Lea flüsterte im Hintergrund ihres Zeltes: Hauptsächlich gut leben und satt werden. 

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Jakob wies auf die aufgerichtete  Steintafel. Schau, Rachel, dort habe ich geträumt, da war die Leiter und der Bote Gottes, der mir noch eine Antwort schuldet von El aus dem Himmel. Darum lasst uns hier nächtigen, damit er mich erreichen kann. Er schickte Dienerinnen und Hirten mit den Herden weiter zu einer Wasserstelle, derweil er mit seiner Familie auf das Herabkommen des Engels wartete. Er kam nicht. Wahrscheinlich habe ich ihn zu lange warten lassen, meinte Jakob sichtlich enttäuscht. Es war Abend des folgenden Tages geworden, als er mit Familie und mit allem Hab und Gut zum Fluss Jabbok  hinunterstieg, um durch die Furt zu waten.

Alle schafften es. Alles gut. Nur Jakob nahm sich eine Auszeit. Er blieb mit sich allein auf dieser Seite des Flusses zurück, setzte sich ans dunkelnde Wasser, liess sein Kamel weiden und widerkäuen. Er selbst sinnierte. Keine Antwort von Gott El. Vielleicht gibt es keine, vielleicht ist das Leben so angelegt als ewiger Kampf ums Überleben mit allen Mitteln, mit List, mit Lug, mit Trug und mit Gewalt. Wer hat die Durchssicht, die nötige Weitsicht, die weise Einsicht? Was wird mit ihm und Esau werden?  Die Angst auf die Begegnung mit seinem Bruder wuchs je näher er der alten Heimat kam. 

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Er wollte sich eben einen Stein suchen zum Nächtigen, da trat eine Gestalt aus der Dunkelheit auf ihn zu, grösser, mächtiger, wendiger als er. Sie packte ihn wie ein Ringer zupackt und ohne ein Wort, nur durch den schnellen Atem geleitet, rangen sie. Jakob wollte ausweichen, immer wieder, wollte fragen, es gab keinen Weg und kein Wort. Jakob musste sich stellen, noch und noch bis an seine Grenzen und darüber hinaus. Bis hinein in einen neuen Tag. Da sprach die Gestalt: Es ist genug, lass mich los. Der Morgen ist da, die Sonne geht auf, Es reicht.

Und Jakob, der wie aus einem langen Traum erwachte, keuchte: Ich lass dich nicht, erst segne mich! Wie ist dein Name? fragte der Dunkle. Was fragst du mich nach meinem Namen, Jakob heisse ich, Sohn von Isaak und Rebekka. Ab heute heisst du Isra - El, denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast den Sieg errungen. Daruf schenkte ihm der grosse Unbekannte und - auf unerklärliche Weise der  ihm längst Vertraute - den Segen und verschwand im Hinterhalt der fliehenden Nacht. 

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Jakob war nun nicht mehr Jakob, sondern neu geboren: Israel. Der Segen machte aus ihm einen anderen. Die Sonne ging ihm auf und die Gewissheit: Ich habe mit Gott gekämpft, ich habe mit mir gekämpft, ich habe mich erkannt. Ich bin da. Er machte einen Schritt gegen das Wasser und sackte ab. Fast wäre er in den Fluss gestürzt. Der Kampf hatte ihn erledigt. Wer da wirklich gewonnen hat, wird sich noch erweisen. Darauf suchte er sich einen handlichen Stecken und liess sich ins Wasser gleiten. Der kühle Fluss tat ihm wohl. Gestützt auf den Stab, Schritt für Schritt Halt suchend, durchwatete er den Fluss Jabbok, das Kamel folgte ihm.

So hinkend traf er die Seinen. Sie spürten alle, dass etwas mit  ihm geschehen war. Er war schwach und doch fraglos stark, er war nicht mehr Jakob. Was ist mit dir, Jakob? Ich habe mit El gekämpft, El hat gewonnen. Sein Gesicht leuchtete kurz auf. Sogar Rachel wagte nicht, seine Nähe zu suchen, ein heiliger Respekt hielt sie auf Abstand. Israel schickte alle voraus, hinter den Herden her. Er aber machte sich auf, seinem Bruder Esau zu begegnen. Er wollte nicht mehr vor ihm fliehen, sondern sich ihm stellen. Israel hatte dazugelernt. 

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Weil er nicht hoch auf dem Weissen Kamel dahergeritten kam, weil er seinem Bruder den Respekt des Erstgeborenen entgegenbrachte, hinkend sich auf einen Stecken stützend, konnte Esau seines Bruders Gruss akzeptieren und dessen grosszügiges Geschenk, gesunde starke Herdentiere. Es war nicht die grosse Umarmung aber eine Begegnung  auf Augenhöhe. Sie machten miteinander aus, wo die Grenze zwischen ihnen und ihren Herden gezogen werden sollte. So konnte Israel das Elternhaus betreten als freier Mensch. Und Esau fühlte sich wiederhergestellt. Das genügt in den meisten Fällen für den Frieden. - Zwar steht das nicht im biblischen Text, aber der Geist hat mich getrieben, es einmal so zu betrachten. Denn es bringt uns als Menschheit nicht weiter, wenn wir uns vor anderen auf den Boden werfen, uns winden wie Würmer im Sand, uns unterwerfen. Das muss aufhören. 

*** 

Rebekka war verwirrt und  enttäuscht, weil ihr der Lieblingssohn abhanden gekommen war, obwohl nach gut zwanzig Jahren Abwesenheit endlich wieder anwesend. Die ehemalige Vertrautheit war nicht mehr da. Sie konnte noch nicht sagen, was es denn jetzt war. Jakob wollte nicht mehr Jakob genannt werden, sondern Israel. Das kam der Mutter suspekt vor. Israel versuchte, es ihr verständlich zu machen.. Siehst du, Mutter, ich habe mich dem Gott El gestellt, er hat sich mir in den Weg gestellt. Wir haben gerungen, wir haben gerungen, gerungen um die Frage, was das Leben denn soll. Im Sonnenlicht betrachtet, habe ich gelernt, dass ich Gott und mir treu bleiben und mich zeigen will, auch wenn ich ein Stück von mir hergeben muss: Ich bin angeschlagen und werde hinken, bis ich bei den Vorvätern im Grab ausruhen darf.

Was bringt ein erschlichener Segen, Mutter? Ich habe viele Jahre gedient, um ihn endlich abzustreifen. Ich will ihn nicht mehr. Aber ich habe einen Segen bekommen, der mir das Hinken leichtmacht. Ein Geschenk, das ich meinem Gott abgetrotzt habe,  ja, du hörst richtig: Getrotzt habe ich der doppelzüngigen Schlange. Ich rede nur noch mit einer Zunge. Rebekka fühlte das Blut zu Kopf steigen, sie öffnete ihr Kopftuch und liess die Haare auf die Schultern fallen. Was du mir da eröffnest, Sohn, ist voller Weisheit und macht mich klein. Ich schäme mich. War nicht ich es, die dir den Segen mit List aufgedrängt hat? Gutmeinend, Sohn, ich dumme Mutter. Nicht so, Mutter von Israel, du hast es gut gemeint, es war daneben, neben dem geraden Weg. Es hat mich Jahre Umwege gekostet. Aber alles wurde mir am Ende verwandelt in den Zugang zum wahren Leben. Du hast einen anderen Menschen vor dir, der sein Glück gefunden hat.

Wie nahe er ihr nun war, näher ihrem Herzen als je. Sie war gerührt und wandte sich ab. Rebekka wischte sich mit dem Tuch über die Augen und sammelte darnach ihre Haare unter das Tuch. Sie wollte Brot backen, der Ofen war eingeheizt. Rachel trat in die Küche und erbat sich einen Teil vom Teig. Für die Götzlein. Sie war ganz Ohr. Sie wollte ebenfalls verstehen, was da mit ihrem Mann geschehen war. Es ist fast wie mit Adam und Eva, meinte Israel, auch sie haben feige begonnen, keiner wollte gradstehen für den Übergriff in den Baum des Lebens. Adam schob die Schuld auf Eva, Eva auf die Schlange und die Schlange auf den Schöpfer selbst. Und als der Herr des Gartens sie rief, da versteckten sie sich aus Scham und Schuld und gaben die Schuld der Nackigkeit.

Das wiederum brachte den Herrn des Gartens in feurige Wut, er trieb sie aus dem Paradies hinaus in den harten Alltag. Seither liegt der Fluch des Leidens über, unter und im Leben. So ist es, genau so, zürnte Rebekka. Vor deinem Gott El sage ich laut: El hat es provoziert, er hat das Leid provoziert! Er hätte den Baum ja gar nicht in die Mitte pflanzen müssen, um dann die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Ich wäre wie Eva versucht gewesen, von den Früchten zu naschen aus Neugierde. Und wie froh bin ich, dass sie es getan hat, lachte Reebekka. Gerade weil die Wege so krumm sind, kann ich meine Begabung anwenden, sie wieder zurecht zu biegen. Ohne Eva wär alles doch schon vom Schöpfergott El perfekt getan, gestrickt und abgehakt gewesen. Langlebiges Unleben im Überfluss. Rachel hatte unterdessen ihre Brotgötzlein geformt und mit Eigelb bestrichen, zum Backen bereit.

Sie schaute an Israel vorbei zu Rebekka. Du bist gewitzt, Tante Rebekka, sagte sie, auch ich liebe hie und da ein Abenteuer gegen die alltägliche Langeweile und ich frage mich, ob nicht gerade die Götzlein helfen, es heil zu überstehen. Isaraels Reaktion war heftiger als je erwartet. Das Leben überstehen wir mit dem Brot, das von Gott kommt, meinem Gott, ihm will ich danken und nicht den Götzen aus Menschenhand. Geht denn nicht beides, fragte Rachel unschuldig, ich danke allen, die mir helfen, mich zu orten. Meines Vaters Götzlein helfen mir im fremden Land Heimat zu finden, sie wärmen meine Seele. Ich werde heute Nacht das Lager mit dir teilen, sagte Israel, werde dich wärmen, so gut ich kann. Gott ist einer. Die Götzlein von Laban sind eine Schande. Mögen wir alle Frieden und Wärme finden in diesem Haus und einander den Segen gönnen, den der Himmel uns schenkt, versuchte Rebekka die brenzlige Situation abzukühlen. Möge unser Haus ein Wegweiser zum Gott El werden, bekräftigte Israel und hinkte mit erhobenem Kinn in die sternenklare Nacht hinaus. Bevor die Teiggötzlein schwarz wurden im Ofen, nahm sie Rachel mit einem Stecken heraus und gab ihrer Schwiegermutter ein noch warmes zum Versuchen. Es schmeckte knusprig wie gutes Brot. 

... 

Wohin aber mit dem Leid, das uns trotz allem Segen bedrückt? Weisst du eine Antwort, Tante? Rebekka nahm Rachel in die Arme und drückte sie fest. Wir wollen füreinander da sein und miteinander Wege suchen in der Hoffnung, dass Gott und Göttlein über uns gnädig wachen. Auch du sollst gesegnet sein, meine liebe Nichte! EineTüre knallte zu. War es der Wind, der Harrmatan? Die Sterne standen still zwischen den Fächern der hohen Palme vor dem Haus. Lea hatte die Tür zugeknallt. Lea? Sie stand draussen vor der Tür und schluchzte. Ich, Schreiberin, werde gewahr, dass auch ich Lea aus den Augen verloren hatte, keinen Gedanken an sie verschwendet, fast kein Wort über sie geschrieben habe. Es tut mir Leid. Wie kann Friede werden, wenn wir die mit den matten Augen übersehen? 


Marianne Reifers, Luxor, Egypt