Ein Jünger Jesu, ein Apostel, ein 'Verräter', ein reuiger, büßender Sünder

Betrachtungen zu Judas Ischarioth von Karl Barth


"Das Gewissen, Judas" von Nikolay Nikolajewitsch (1891) © Wikicommons

Der „Judaskuss“ wurde zu einem Symbol des schlimmsten Vertrauensbruchs. Der Name „Judas“ ist mit so negativen Assoziationen verbunden, dass in Deutschland ein staatliches Gesetz verbietet, einem Kind diesen Namen zu geben. Dem biblischen Judas wird dieses negative Bild nicht gerecht.

Der Apostel

„Auch Judas Ischarioth ist ja zweifellos ein Jünger und Apostel: nicht mehr, aber auch nicht weniger als Petrus und Johannes, derselben Berufung, Einsetzung und Aussendung teilhaftig wie diese. Eher mehr als weniger, sofern er als Einziger unter den Anderen mit Jesus zusammen dem Stamme Juda, dem Davidstamme angehört. (…)

Man muß wohl vor allem die merkwürdige Ruhe beachten, in der das Neue Testament von Judas Ischarioth berichtet. Es wird genau genommen kein einziger Stein auf Judas geworfen. Es wird bezeichnenderweise auch kein Versuch gemacht, den Verräter durch Erwähnung sonstiger Züge und Eigenschaften seines Charakters und Verhaltens im voraus kenntlich zu machen. Er erscheint vielmehr mit seiner Tat wie ein planmäßige Figur mit einer planmäßigen Funktion, die als solche freilich ebenso unter das ‚Wehe dem Menschen!’ fallen mußte, wie etwa das Petrusbekenntnis unter die entsprechende Seligpreisung, aus der aber eine besondere Belastung des Judas ebenso wenig hervorzugehen scheint wie dort ein besonderer Ruhm des Petrus.“

Der Verräter

„Das Wort, mit dem das Tun des Judas durchgängig bezeichnet wird und das wir bis jetzt in der üblichen Weise mit ‚verraten’ übersetzt haben: es heißt ja eigentlich viel weniger akzentuiert: ‚überliefern’, und wenn man genau zusieht, was Judas getan hat, wird man in der Tat sehen müssen, daß der Gebrauch des Wortes ‚Verrat’ auch technisch zu komplizierte Vorstellungen erweckt, als daß es den gemeinten Vorgang treffen würde. Es gab in jener Woche vor dem Passah kein geheimes Versteck Jesu, zu dessen Entdeckung es eines ‚Verräters’ bedurfte. Was die Hohenpriester brauchten, war nur eine Gelegenheit zu seiner möglichst unauffälligen Gefangennahme, und nur als Angeber einer solchen schicklichen Gelegenheit ist Judas faktisch ins Spiel getreten. (…)“

Über die „ganz kleine Bewegung“ des Kusses schreibt Barth:

„Man muß Beides sehen: die ganze Geringfügigkeit und die ganze Folgenschwere dieses Ereignisses, um den Judas der Evangelien recht zu verstehen. Beides miteinander gibt dem Bericht über ihn jene merkwürdige Ruhe. Judas Ischarioth ist nun einmal keine zufällige, sondern eine notwendige Figur im Ganzen des evangelischen Berichtes.“

Die Reue des Judas

Die in Matthäus 27, 3-5 beschriebene Reue Judas, als er sieht, dass Jesus zum Tode verurteilt wird, hebt Barth als „vollkommene Buße“ hervor im Vergleich zu dem Weinen des Petrus (Matthäus 26, 75): „Wir werden das zur Vermeidung einer übereifrig-moralischen Verurteilung der Person des Judas im Auge behalten müssen. Wir werden gerade von da aus gesehen, auch in dem Kuß, mit dem er Jesus auslieferte, jene schlechthinnige Falschheit nicht sehen können, die man so oft darin gesehen hat.“

Der Vorläufer des Paulus

Im Kreis der zwölf Jünger werde Judas „de iure“ von Matthias ersetzt, „de facto“ aber durch Paulus: „Eben Paulus ist ja nach dem klar entworfenen Bild der Apostelgeschichte, obwohl und gerade indem er zu den Zwölfen erst hinzukommt, und zwar aus jener höchst befremdlichen Vergangenheit heraus hinzukommt, in der Zeit zwischen Jesu Auferstehung und dem vom Neuen Testament nicht berichteten Tod der Zwölfe nicht ein, sondern der Apostel.“ (…)

“Die Verwerfung des Judas ist die Verwerfung, die Jesus Christus getragen hat, die Erwählung des Paulus ist zuerst seine Erwählung. Ohne ihn wäre Judas nicht Judas, wie ohne ihn auch Paulus nicht Paulus wäre.“

Jesus Christus ist hier „beherrschend“. Durch ihn „bleibt die Situation zwischen dem Erwählten und dem Verworfenen die offene Situation der Verkündigung“. Und so dürfe im Blick auf keinen Verworfenen etwas Anderes erwartet werden, „als daß eben an seinem Platz durch Gottes in Jesus Christus geschehene wunderbare Umkehrung einmal ein Erwählter stehen wird.“

Eine einzigartig positive Figur

„Judas ist sogar (…) in seiner ganzen Negativität eine eminent, eine einzigartig positive Figur. Es gibt nämlich außer dem ‚Überliefern’ des Judas und außer dem ‚Überliefern’ der Apostel als Urbild beider ein göttliches ‚Überliefern’“.

Dies zeigt sich im „brennenden Zorn“ Gottes, in dem er Menschen ihrem „Verderben“ überlässt [Römer 1]. Gott selbst hat Jesus überliefert: „Gott selbst hat im Handeln des Judas gehandelt. Mehr: Bevor Judas Jesus überlieferte, hat Gott Jesus und Jesus sich selbst überliefert. (…) Bevor Gottes Zorn Juden und Heiden überlieferte, preisgab und sich selbst überließ, hat er seinen eigenen Sohnes nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle ‚überliefert’.

Es gründet offenbar die Notwendigkeit, die Kraft und der Sinn aller Überlieferung in dieser ersten, radikalen, in welcher Gott in der Person Jesu oder Jesus als der Sohn Gottes sich selbst zum Gegenstand der Überlieferung macht.“

Darin, dass Gott selbst Jesus „den Menschen überliefern ließ und überliefert hat“, sieht Barth die „objektive Rechtfertigung des Judas wie alles Dahingebens und Dahingegebenwerdens der Menschen an das Verderben durch Gott: Gott selbst hat im Handeln des Judas gehandelt.“

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Alle Zitate aus: Karl Barth, KD II/2, 509ff.

Weitere Literatur: Martin Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns (Biblische Gestalten 10), Leipzig 2004


Barbara Schenck
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