Kurzgeschichten
Der zweite Weihnachtstag ist nass, kalt und grau. Zum Davonlaufen oder Sichverkriechen. Gnadenlos frisst das Wetter die Weihnachtsfreude auf. / Junge Pferde müssen an die Luft, mahnt sie nach dem Mittagessen. / So kommt es zu einem ausgedehnten Spaziergang bis hinauf zum höchsten Punkt des kleinen Gebirgszugs, der sich hinter dem Dorf erhebt. Die Kinder springen geschwind voran, er keucht hustend hinterher. / Oben angekommen wollen die Jungen auf den Aussichtsturm. Da bekommt er einen Hustenanfall und verflucht seine Raucherei. Inzwischen ist er fast bei zwei Päckchen pro Tag angelangt. Englische Edelmarken zwar. Eigentlich ist aber nur noch die erste gut, gesteht er sich, schon die zweite schmerzt und ekelt. Oben fasst er den heroischen Beschluss, hic et nunc, wie er es pathetisch nennt, aufzuhören. Sofort. Still und für sich, vorsichtshalber. / Irgendwann im Januar fragt ihn eine Mitarbeiterin beim Zehnuhrkaffee, ob er eigentlich nicht mehr rauche. / Ja, seit haargenau vier Wochen nicht mehr. / Ab jetzt, sagt da plötzlich ein Mitarbeiter, Spezialist für Hermeneutik und Ethik, ab jetzt, wie süffisant grinsend er das sagt, ab jetzt ist das Aufhören eine Charakterfrage. / Diese Frechheit hat ihn gerettet. / Es geht länger. Etwa acht Wochen bleibt die physische Abhängigkeit spürbar, nackte Lust, und er muss richtig kämpfen. Nachhaltig aber ist die mentale. Seit fünfzehn Jahren, merkt er, hat er nur unter Rauch gedacht, nun kommt ihm in nützlicher Frist nichts Gescheites mehr in den Sinn. Er hat sich konditioniert. Rauchen heisst Denken, und Nichtrauchen heisst Schlafen. So funktioniert er seit fünfzehn Jahren, und Denken ist seine Arbeit. / Ein halbes Jahr wird es dauern, bis er ohne Rauch wieder die alte Geschwindigkeit erreicht hat. Er wird es schaffen und nie wieder eine Zigarette anfassen. Sein Charakter ist nicht nur ihm wichtig.
1998MK