Kurzgeschichten
Sechs Stunden für hundertfünfunddreissig Kilometer. Sie fühlen sich geschüttelt, gebeutelt, gefoltert.
Der Bus ist alt und eng, verbraucht und stickig. Alle sitzen sehr eng und wie in Schockstarre, Einheimische und Fremde, solche auf Besuch und solche, die etwas über die Grenze verkaufen wollen. Auch das Dach des Gefährts ist überladen. Es holpert über klägliche Reste dessen, was mal Route nationale hiess. Es muss jetzt bald soweit sein, stöhnt er, mir tun alle Knochen weh.
Sein Sohn nimmt es gelassener, eher als ein weiteres Abenteuer. Er hingegen mit Fensterplatz muss ständig aufpassen, dass er mit dem Kopf nicht hart an die Scheibe schlägt. Der Fahrer zirkelt schwitzend um Löcher herum. Die Grenze wird zum weiteren Erlebnis. Am kambodschanischen Posten müssen sie anstehen, bis sie endlich den Ausreisezettel im Pass haben, brutal mit Blechklammern hineingeheftet.
Der gehört der Eidgenossenschaft und darf nicht beschädigt werden, entfährt es ihm auf Deutsch. Der Beamte stiert stoisch drein. Weiter! Sie müssen jetzt mit dem Koffer über die Brücke. Auf der anderen Seite des kleinen Flusses liegt Thailand. Hoch aufgetürmt ragt eingeschweisstes Clopapier weit über das Dach eines Lastwagens hinaus, der es ins Touristengebiet von Angkor bringen wird. Für Einheimische unerschwingliche Luxusware.
Direkt an den Mäuerchen der vielbegangenen Brücke sitzen nahezu nackte Buben bettelnd auf dem Trottoir. Beine, Waden, Schuhe, alles zieht unmittelbar vor ihnen vorbei, Koffer, Säcke, Ballen. Sein Sohn ist konsterniert. Alle gehen vorüber, als wären sie nicht da, siehst du? Niemand schaut sie nur schon an. Davon, ihnen etwas zu geben, gar nicht zu reden. Er glaubt es kaum. Ja, ich finde es auch furchtbar. Vermutlich hat es, für uns kaum vorstellbar, mit ihrem Glauben zu tun, mit ihrem Buddhismus. Für sie sind diese mausarmen Buben wahrscheinlich Inkarnationen von Leuten mit faulem karma. Im vorherigen Leben haben sie böse gehandelt, schlecht, egoistisch, was weiss ich, wie. Jedenfalls ist ihr Schicksal selbstverschuldet.
Schauderhaft. Nun geht er zum Kleinsten und Nacktesten. Kambodschanische Scheine, die sie hier nicht mehr brauchen, verschwinden in flinken Kinderhänden und diese wie der Wind im Gewühl. Sie aber besteigen mit dem Stempel der Thais im Pass einen Luxusliner, der sie ruhig summend über geteerte Strassen zur Autobahn bringt und bald einmal nach Bangkok.
2006Matthias Krieg, Zürich