Landverheißung und Zionismus in der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts - eine Problemanzeige

Von Tobias Kriener

Als "Schüler" Marquardts beleuchtet Kriener dessen Auslegung der biblischen Landverheißung in Bezug auf den heutigen Staat Israel. Er kritisiert das Ausblenden realpolitischer Fakten des 20. Jahrhunderts. Diese seien mit der biblischen Landnahme im Einzelnen nicht zu vergleichen. Kriener selbst plädiert für eine „konsequent uneschatologische Sicht Israels inmitten der Juden in aller Welt und inmitten der Völker der Welt“, die auch das „Heimatrecht“ der Palästinenser umfasse. Zu dieser Sicht habe Marquardt selbst in seiner den Eschatologie-Bänden folgenden „Utopie“ (1997) die Tür geöffnet.

Friedrich-Wilhelm Marquardt ist mein wichtigster theologischer Lehrer. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe.
Der eine: Zu Beginn meines Theologiestudiums beschäftigte ich mich - veranlaßt durch den rabiaten Atheismus meiner Schulfreunde - sehr intensiv mit der Religionskritik von Feuerbach und Marx und mit Barths Aufnahme und Durcharbeitung dieser Kritik. Trotz aller Bemühungen aber gelangte ich nicht zu solcher Gewißheit, wie ich sie vor allem von Kommilitoninnen und Kommilitonen pietistischer Herkunft kannte. Das war für mich eine grundlegende Anfechtung: Kann ich Theologe sein und Pfarrer werden wollen, wenn ich mir in meinem Glauben nicht ganz sicher bin? Beim Nürnberger Kirchentag 1979 hörte ich dann Marquardts Vortrag »Christsein nach Auschwitz«. Er endete mit einem doppelten »Vielleicht«: »Robert Raphael Geis sagte auf dem Kirchentag in Hannover 1967: ‚Das Wort des Glaubens in unserer Zeit kann und will nicht mehr pompös-deklamatorisch sein, es ist das ‚vielleicht’ eines zaghaften Hoffens. Doch auch das Wort von Gottes erbarmender Liebe heißt: vielleicht.’ Vielleicht? ... Vielleicht.« (1) Dieses »Vielleicht« war für mich ein echtes Evangelium, denn es machte mich frei von dem Zwang, Gewißheit gewinnen zu müssen. Von da ab konnte ich mit Zweifeln als Bestandteil meiner Theologenexistenz leben. 

Das Zweite: Zeitweise vertrat ich damals einen sturen Barth-Dogmatismus. Im Rahmen eines studentischen Seminars in Jerusalem berichtete uns Marquardt von Barths Ausspruch ihm gegenüber: »Sei ein Mann und folge mir - nicht!« Und tatsächlich. An Marquardt ist besonders faszinierend, wie er - von Barth herkommend - doch entschieden und frei einen eigenen Denkweg weitergeht. Sein Beispiel half mir, mich von meinem Barth-Dogmatismus allmählich freizuschwimmen. Trotz des Gebots, nicht zu folgen, gibt es einem ‚Schüler’ natürlich zu denken, wenn er seinem wichtigsten Lehrer nicht folgen kann. Das ist bei mir der Fall hinsichtlich Marquardts Haltung und Äußerungen zum Staat Israel und zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Ich möchte im folgenden: 1. versuchen, Marquardts Auffassung zu verstehen, 2. darlegen, warum ich zu diametral entgegengesetzten Einschätzungen komme, 3. begründen, inwiefern meine Auffassungen Marquardt ins Angesicht theologisch Bestand haben können. In alledem setze ich darauf, daß mein Lehrer meine Überlegungen im Sinne der zitierten »Überlieferung« unseres gemeinsamen großen Lehrers als Versuch zu werten vermag, eben gerade so Schüler zu sein.

I.

Das Nachdenken über die theologische Bedeutung der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 hat Marquardt beinahe von Anfang seiner theologischen Arbeit an beschäftigt. Der - vorläufige - Endpunkt dieses Nachdenkens liegt in seiner Dogmatik vor. (2)
Die Gründung des Staates Israel wirkt als hermeneutischer Katalysator: »... daß wir eine These vom gekündigten Bund Gottes mit Israel in unserer Generation nicht mehr wiederholen können, ... ist Folge brutaler historischer Umstände - der Schoah und der Rettung eines jüdischen Volksteils aus ihr und vor ihr - und der damit in einem engen Zusammenhang stehenden neuen Selbstidentifizierung der Geretteten und Verschonten mit dem biblischen Volk Israel. Zu ihr gehört auch die neue Identifizierung zuerst mit der adamat Jißrael, seit Beginn der modernen zionistischen Siedlung im Lande, - dann mit Erez Jißrael und der Staatengründung dortzulande. ... Für uns als Christen ist es ... diese unerhörte ‚Geschichtswahrheit’, die uns nötigt, die Bibel mit ihren entsprechenden Partien in Zusammenhängen dieser neuen Realität zu lesen, vor allem sie auch neu historisch zu identifizieren mit diesem Volk, seinem Selbstverständnis, zu dem integral jene ‚ewige’ Beziehung auf das Land gehört ...« (3) Dem entsprechen die biblischen Texte von der Landverheißung Gottes an Israel und von der Landnahme Israels.

Entscheidend ist eine theologische Erkenntnis im engsten Sinne: Die Landverheißung ist nicht irgendein zeitlich weit zurückliegendes und darum überholtes Geschehen in der Geschichte Israels, sondern sie ist ein Kennzeichen Gottes: »So wie die Bibel es sieht, hat Gott sich selbst auf Gedeih und Verderb an das Volk Israel ... und damit zugleich auch an sein Verhältnis zum Lande engagiert.« (4) Zwei Phänomene vor allem sprechen dafür: die Rede davon, daß Gott das Land zuschwört und der Zusammenhang von Erstem Gebot und Land. (5) Ersteres zeigt, daß es in der Landverheißung um ein Element des Bundes geht. Weil Gott in der Verheißung von Nachkommen zugesagt hat, daß Israel durch die Zeiten leben und schließlich im Land, wo Milch und Honig fließen, ruhig wohnen wird, hängt seine Verläßlichkeit und also sein Gottsein daran, daß sich das Zugesagte ereignet: »Ein gesegnetes Israel im Lande wäre also das höchste Allgemeine für die Erkennbarkeit dieses Gottes.« (6) Den Zusammenhang zwischen Erstem Gebot und Land beschreibt Marquardt folgendermaßen: »Wenigstens ein kleines Stückchen Erde ... wählt er, um ein Beispiel zu geben dafür, was es für alle heißen könnte: Gott regiert auf Erden.« (7) In einem Land wenigstens soll schon jetzt kein Raum mehr sein für Götzendienst, sondern Gott allein gedient werden.

Daß der biblische Gott sich ausgerechnet an seine Verheißung eines bestimmten Landes für ein bestimmtes Volk bindet, macht seine »Absonderlichkeit, Unangepaßtheit, ‚Andersheit’« aus. (8) Durch die Landverheißung macht Gott sich gegen-ständlich, weil sie nämlich »in der Welt nur Widerstand, Ablehnung, Gegenbewegung« erzeugt. (9) Diese Gegen-Ständlichkeit ist wie nichts sonst Antidot gegenüber dem Projektionsverdacht der Religionskritik: Ein so massiv gegen alle Maßstäbe der »aufgeklärten Vernunft« (10) handelnder Gott kann nicht Produkt von Einbildung sein.

Marquardt ist sich dessen bewußt, daß gerade die Landverheißung für die »aufgeklärte Vernunft« anstößig ist: »(Gott) verheißt dieser bodenlosen Menschengruppe ein Stück ihm ursprünglich .fremden Landes.« (11) »Das verheißene Land war schon damals nicht ‚leer’ - sowenig wie zur Zeit der neuzeitlichen zionistischen Siedlungen dort, so wenig wie bei den heutigen jüdischen Landnahmebewegungen auf der Westbank am Ende des 20. christlichen Jahrhunderts.« (12) Ja-Sagen zur Landverheißung bedeutet aber, daß man den sich aus ihr ergebenden Konflikt als unvermeidlich akzeptiert: »Andere Völker lebten und herrschten dort, und so bedeutete die Landverheißung - wie heute schon damals - einen unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen den Stämmen Israels und den Bewohnern des Landes.« (13) Die »Wurzel« des »unlösbar scheinende(n) Konflikts um das Land heute« liegen »nicht zuletzt in einer Auseinandersetzung am Gottes Landverheißung an Israel«. (14)

Es ist unausweichlich, daß dieser Konflikt auch kriegerisch ausgetragen wird. Auch dem stellt sich Marquardt mit aller Konsequenz: »Vor alle sozialen Utopien hat Gott die Infragestellung jeder Möglichkeit von Gerechtigkeit gesetzt: das Elend, daß Landverheißung sich anders nicht als in Landnahme verwirklichen läßt. Ein fundamentales Unrechttun ist die Basis, an der soziales Recht und höhere Gerechtigkeit ... erst gelernt, erarbeitet werden müssen.« (15) In dieser »nackten Relität« hat sich Tora, das jüdische Recht zu bewähren. (16) Marquardt geht daher auch ausführlich auf die Kriegsgesetze in Dtn 20, das Feindesrecht in Ex 23,4f. und das Fremdenrecht in Num 15,15f.; Lev 24,22 und Lev 19,33f. ein, um zu zeigen, daß die göttliche Rechtssetzung in der Tora am »allerschwersten Fallbeispiel« des Krieges begrenzend wirkt. (17).

Auch auf das biblische Phänomen des Heiligen Krieges kommt Marquardt zu sprechen. Sein Fazit: »Darin (in den Texten, die von Heiligem Krieg berichten, d. Verf.) muß wirkliche Erfahrung aufgehoben sein: Es gab Situationen eines unerklärlichen Ausweichens, sogar Zurückweichens von Gegnern vor einem Nimbus, der Israel voranging.« (18) Diesen Nimbus sieht Marquardt auch in der modernen Geschichte des Zionismus wirken: »Das Phänomen gehört in die umstrittene ... Geschichtserinnerung der Vorgänge von 1947 auf 1948 hinein: ... die Israelis bringen immer wieder Beweise für von ihnen gar nicht erzwungene Fluchtbewegungen von Palästinensern aus dem Land hinaus. ... freiwillige Massenflucht ohne Ausweisung. Ein Phänomen des heiligen Krieges war es wohl wirklich«. (19)

Konsequenz der Landverheißung in der geschichtlichen Realität ist aber vor allem die »bittere Enterbung« der bisherigen Bewohner des Landes. (20) Marquardt legt Wert darauf zu betonen, daß es sich nicht um Vertreibung handelt, sondern um einen »Besitzwechsel«, wodurch die Vorbesitzer nicht »rechtlos« werden, sondern ihnen das Recht »derer, die nicht mehr ‚Erben’ sind im Land, sondern Abhängige«, eingeräumt wird. (21)

Von diesen Aussagen ausgehend versucht Marquardt nun, auch den unvermeidlichen »Opfern« gerecht zu werden: »Alle Weltgeschichte, auch alle Befreiungsgeschichte, ist Opfergeschichte ... Wenn Gottesgeschichte im Medium von Weltgeschichte geschieht, wird auch sie belastet mit dem Elend, das auch sie dann erzeugt.« (22) Marquardt weicht nicht aus, sondern unternimmt den Versuch - sich in einen Palästinenser versetzend und all dessen bittere Gefühle nachvollziehend - dennoch eine Glaubenshaltung zu imaginieren, die palästinensisches Weichen vor Israel bejahen kann. Johannes der Täufer und sein Ausspruch: »Jener muß wachsen, ich aber abnehmen« (Joh 3,30) ist ihm Vorbild für eine solche Glaubenshaltung. (23) Für den mißglücktesten Gedanken in diesem ganzen Zusammenhang schließlich erachte ich folgenden: Marquardt entnimmt der Lutherschen Schrift gegen die aufständischen Bauern den berüchtigten Satz »Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist des Christen Recht« und regt, auf ihm aufbauend, für Palästinenser eine »negative Theologie. Theologie der Kehrseite Gottes. Theologie des Ausweichens. ... Befreiungstheologie der Enterbten« an. (24)

An keiner Stelle gibt Marquardt vor, eine ‚ausgewogene Position’ beziehen zu wollen. Seine Haltung umreißt er mit dem Begriff »Mitläufertum«: Die Christen sind »d(ie)jenigen Nichtjuden, die sich ... zu (Israels) Mitläufern gemacht haben«. (25)

lnteresseleitend ist für Marquardt auch nicht die Überlegung, wie ein »gerechter und dauerhafter Friede im Nahen Osten« auszusehen habe. Vielmehr hegt er gegen die Vertragswerke der internationalen Politik eine abgrundtiefe Skepsis: Die Völker »bedrohen sich ..., unterwerfen einander und bilden Imperien. Stützen sich freilich auch gegenseitig durch Warentausch, Handel, Blockbildungen und Unionen, politische Verträge: solange sie halten. (Hervorhbg. durch d. Verf.) Sie führen lange Kriege, genießen kurzen Frieden und sind wie Subjekte so auch das große Unglück der Weltgeschichte«. (26) Und im Speziellen gilt das auch für alle Friedenspolitik, denn schon die Propheten Israels verkündigten die Urteile Gottes »nicht selten gegen jeden Augenschein und durchaus contre coeur des Alltagsbewußtseins, das immer wünscht, sich beruhigen und täuschen zu können über den Ernst der Lage: ‚Friede! Friede! doch wo ist Friede?’« (27) Der Erfolg von Friedenspolitik, der Abschluß von Vertragswerken ist für ihn also nicht Maßstab zur Beurteilung des Verhaltens der »Völker«, weil solche Vereinbarungen in der weiteren historischen Perspektive sehr relative und äußerst brüchige Arrangements sind, auf die sich eine grundlegende Beurteilung nicht stützen läßt. Bleibender Maßstab für das Verhalten der Völker - für die Beurteilung internationaler Politik und darin auch der Nahostpolitiken - ist allein ihr Verhalten gegenüber Israel: »Israel das Maß, an dem Gott die Völker mißt.« (28)

II.

Marquardts Entwurf besticht durch seine tiefe Fundierung im biblischen Text und durch die Kohärenz und Stringenz des Argumentationsgebäudes, das er auf diesem Fundament errichtet. Der Gedanke der »Gegenständlichkeit« Gottes, die in der Partikularität der Erwählung Israels und seiner Gebundenheit an dieses konkrete Stück Land anschaulich wird, ist mir theologisch besonders wertvoll, weil er ein religionskritisches Christsein ermöglicht.
Warum aber kann ich Marquardt dennoch nicht folgen? Bin ich inkonsequent, weil zu sehr in der »allgemeinen Menschenvernunft« (29) befangen?

Ich kann Marquardt vor allem der Erfahrungen wegen nicht folgen, die ich in drei Jahre Leben in Israel gemacht habe. In mein erstes Israel-Jahr fiel der Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar el Sadat, der enorme Auswirkungen hatte, weit über den Abschluß eines Friedensvertrags mit Israel hinaus: Erstmals kam ein arabischer Staatschef, einer von denen, die als neuer Hitler bezeichnet worden waren, nach Israel, redete vor der Knesset, besuchte Jad Vashem. Dieser Besuch hat einer ganzen Ontologie der ewigen Feindschaft zwischen Juden und Arabern den Boden entzogen.

1981 erlebte ich den Wahlkampf für die Knesset mit, der von einer demagogisch geführten Haßkampagne des damaligen Ministerpräsidenten Begin gegen Schimon Peres geprägt war. Es herrschte Lynchstimmung überall, wo der sozialdemokratische Kandidat auftauchte. Der Mord an Jizchak Rabin sechszehn Jahre später ist schon damals von nachdenklichen Kommentatoren vorausgesehen worden.

Was heißt »Mitläufertum« angesichts solcher innerisraelischen Auseinandersetzungen? Mit wem mitlaufen? Der Begriff »Mitläufer« hört sich m. E. fatal nach Ausschalten des eigenen Denkens an, als solle der »Mitläufer« jede Wendung, die von oben vorgegeben wird, mitmachen und das eigene kritische Denken und Prüfen ausschalten. Dazu bin ich nicht bereit. Ich stehe dazu, daß ich auch in Bezug auf Israel zwischen einer besseren und einer schlechteren Politik unterscheide.

In das dritte Jahr meines Aufenthalts in Israel fiel der Beginn der Intifada, die der israelischen Öffentlichkeit mit einem Schlag bewußt machte, was es bedeutet, ein anderes Volk zu beherrschen. Die Intifada stellte die Israelis vor die entscheidende Frage: Wollen wir die Besetzung - mit allen Konsequenzen, die das für uns als demokratische Gesellschaft wie für uns als ethisch handelnde Individuen hat - oder wollen wir sie nicht?

Meine gleichaltrigen israelischen Freunde - darunter nicht- oder antireligiöse ebenso wie orthodox-religiöse - beantworteten diese Frage mit »Nein«. Sie wollten keineswegs, daß auch noch ihre Söhne dazu gezwungen sein würden, in der Konfrontation mit Palästinensern etwa gewalttätig zu werden, was sie selbst verabscheuten. Sie traten und treten deshalb für die Rückgabe von »Judäa und Samaria« ein und müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, Verräter und eigentlich keine Juden zu sein.

Die Marquardtsche Auslegung der Landverheißung aber gelangt zu Positionen, wie sie solche politischen Kräfte vertreten, die meine israelischen Freunde als »Verräter« bezeichnen: Positionen des Gusch Emunim und seiner parlamentarischen Vertreter in Likud, National-Religiöser Partei und Moledet. (30) Wenn ihre Einstellung tatsächlich die Konsequenz der biblischen Landverheißung ist, wenn sie die authentischen politischen Interpreten des Willens Gottes sind - dann müßte ich vom Glauben abfallen. In der Konsequenz solcher Argumentation müßte ich die arabische Propaganda, die dem Staat Israel expansionistische Gelüste bis an den Euphrat unterstellt, und die mir bislang als Ausdruck von Paranoia galt. für glaubwürdig halten, und könnte verstehen, daß die Araber sich mit allen Mitteln, derer sie habhaft werden können, dieser Bedrohung ihrer Existenz entgegenstemmen.

III.

Aber so ist es - Gottlob - nicht!
Marquardt erklärt es für ein Kennzeichen der Bundesbeziehung zwischen Gott und Israel, »daß er mit seinem Volk im anstößigsten Sinne real-politisch kommuniziert« (31) Er begeht aber nun m. E. den grundlegenden Fehler, daß er die Bibel fundamentalistisch liest, das heißt: ohne realpolitisch zu reflektieren, ob die Situation der ersten Landnahme Israels der Situation gleicht, in der die zionistische Bewegung ihr Projekt der Ansiedlung in Palästina durchführte, oder wie sie sich von letzterer unterscheidet.

Vollzog sich die erste Landnahme in einem rechtsfreien, anarchischen, internationalen Rahmen, in dem nur das Recht des Stärkeren galt, so spielte sich die moderne »Landnahme« im völkerrechtlichen Rahmen des Völkerbundmandats über Palästina ab, das der dominierenden Weltmacht Großbritannien den Auftrag erteilte, für die Einrichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk zu sorgen. (Die Balfour-Deklaration war Bestandteil des Mandatsauftrags.) Auf diese Weise erübrigte sich Krieg als Mittel der Landnahme: Sie vollzog sich in der Moderne teils durch Bodenkauf, weitaus wirksamer war jedoch der Beschluß der UNO von 1947, mehr als die Hälfte des Mandatsgebiets für einen jüdischen Staat vorzusehen. Die folgenden Kriege wurden - zumindest aus israelischer Sicht - zur Sicherung des völkerrechtlich zugesagten Gebiets geführt und waren nicht etwa Mittel der Landnahme.

Abgesehen von der Frage, wie haltbar Friedensverträge sind, ermöglicht der Entwicklungsstand der internationalen Institutionen eine Konfliktaustragung mit Mitteln der Diplomatie. So unvermeidbar der Konflikt um das historische Palästina war und so »unlösbar« er auch ist, so gibt es doch internationale Verfahrensregeln, die die Mittel zur Austragung dieses Konflikts eingrenzen. Ich denke dabei an den Teilungsbeschluß der UNO und eine Reihe von UNO-Resolutionen zur Flüchtlingsfrage, dem Status Jerusalems, dem Status okkupierter Territorien bis hin zur Genfer Konvention, die versucht, die schlimmen Auswirkungen von tatsächlich geführten Kriegen zu begrenzen.

Dem Gott Israels, der seinem Volk ein Stück Land zuschwört, stehen also inzwischen andere Instrumente zur Umsetzung seines Bundesratschlusses zu Gebote, die er in der zionistischen Bewegung bereits genutzt hat. Jene Mittel, die zur ersten Landnahme notwendig waren, waren dagegen in der modernen Geschichte der zionistischen Landnahme überflüssig: Der Terror der Untergrundgruppen der Revisionisten bis hin zum Massaker von Deir Jassin 1947, das den »Schrecken« verbreitete, der dann zu der »freiwilligen Massenflucht ohne Ausweisung« führte, aber auch die Vertreibungsaktionen der israelischen Armee, hatten nur das eine Ziel, ein demographisch möglichst homogenes Territorium herzustellen. Sie als Phänomene des »Heiligen Krieges« zu werten, geht am biblischen Sachverhalt vorbei, der, wie Marquardt ja zeigt, von »Entwurzelung« spricht und nicht von Vertreibung. Das Entscheidende der Landverheißung, daß nämlich das Volk des Bundes ein Stück Land erhält, um die Tora des Landes tun zu können (33) und Gott »als Nation durch Institutionen dienen (zu) können« (34), ist durch den Teilungsbeschluß von 1947 erfüllt. Die Vertreibung der Palästinenser hat hierzu nicht nur nichts beigetragen, sondern im Gegenteil Haß und Revanchegelüste genährt, die bis heute einen Interessenausgleich so schwer machen.

Wenn Marquardt die Siedlungsaktivitäten nach 1967 dennoch als »neue messianische Verbindlichkeiten auch für politisches Handeln« (35) einordnet, ist damit ein zweites Problem gegeben: das der theologischen Verortung der Landnahmeverheißung in der Eschatologie. Zwar ist der Paragraph, in dem Marquardt seine Ausführungen über Zionismus und Staat Israel macht, überschrieben: »de antecedentibus«, also: ‚Von den vorletzten Dingen’. Sie gelten ihm aber doch als Phänomene, die auf das Ende zulaufen und als »Anfang der Erlösung«. Auch damit findet Marquardt sich bei der Auffassung nationalreligiöser Kreise in Israel wieder. Dort ist er aber unter die falschen Propheten geraten. Das Ende der Welt ist noch nicht gekommen; es genügt, daß der Staat Israel als Zufluchtsstätte für Juden in aller Welt da ist. Daß er sich derzeit in einem Prozeß der Rückgabe von Teilen des zugeschworenen Landes befindet, ist so gesehen geradezu heilvoll, weil er messianische Hoffnungen stutzt und eine uneschatologische Interpretation Israels stützt.

Marquardt ist sich der Anfechtbarkeit seines Versuchs gelegentlich sehr wohl bewußt. Dies zeigt m. E. eine Bemerkung am Schluß seiner Dogmatik, in der »Utopie«, die noch einmal eine ganz andere Perspektive auf Israel eröffnet. Zu den Veränderungsprozessen, die die israelische Gesellschaft derzeit durchmacht, schreibt er: »Vielleicht, daß Israel beginnt, sich - nicht zuletzt um seines Friedens inmitten der Völker willen - zu historisieren, sein Ausnahmehaftes, damit aber auch sein qualitativ Besonderes einzuschränken. Das wertet die nie beendete Existenz der Gola, der jüdischen Diaspora unter den anderen Völkern der Welt, neu auf... Noch ist es nicht so weit, aber wir können nicht ausschließen, daß wir irgendwann einmal die Gesellschaft Israels ansehen müssen und ansehen werden wie nur irgendeine Gesellschaft sonst.« (35)

Mit seiner Bemerkung stößt Marquardt die Tür auf zur Entwicklung einer konsequent uneschatologischen Sicht Israels inmitten der Juden in aller Welt und inmitten der Völker der Welt. In dieser uneschatologischen Perspektive hätte auch ein Heimatrecht der Palästinenser in Palästina Platz - als Erinnerung daran, daß die Erlösung noch nicht da ist; und - wenn sich ein friedlicher Interessenausgleich zwischen Israelis und Palästinensern ergeben sollte - als Angeld auf die prophetische Utopie, derzufolge sogar Wölfe bei Lämmern weiden werden.

Wie es sich dereinst mit dem »Reich für Israel« verhalten wird, das bleibt bis zur letzten Offenbarung als »Geheimnis« (Rö 11,25) unserem Zugriff entzogen. Allerdings gehört nach meinem Dafürhalten zu christlicher Eschatologie auch die Hoffnung auf Abbruch der (Grenz-)Zäune, auf Beendigung der Feindschaft (Eph 2,14). Christliches Handeln darf sich schon jetzt entsprechend dieser Hoffnung stark machen für Versuche, unter den Bedingungen der Realpolitik zur Eindämmung von Feindschaft und damit zum Durchlässigwerden von Grenzen beizutragen.

1. Fr.-W. Marquardt/A. Friedländer, Das Schweigen der Christen und die Menschlichkeit Gottes. Gläubige Existenz nach Auschwitz, München 1980, S.34.
2. Vgl.: Friedrich-Wilhelm Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften. Eine Eschatologie, Bd. 2, Gütersloh 1994. S. 187 - 285 und S. 382 - 386.
3. A. a. O., S. 266 f., vgl. auch a. a. O., S. 312.
4. A. a. O., S. 243.
5. Vgl. a. a. O., S. 243-259.
6. A. a. 0., S. 247.
7. A. a. 0., S. 253.
8. A. a. O., S. 243.
9. Ebd.
10. A. a. O., S. 268. 11. A. a. O., S. 187.
12. A. a. O S. 199.
13. Ebd.
14. A. a. O.. S. 198.
15. A. a. O., S. 228.
16. Ebd.
17. Ebd.
18. A. a. O., S. 262 f.
19. A. a. 0., S. 263.
20. A. a. 0., S. 202.
21. A. a. O.. S. 207.
22. A. a. O., S. 275.
23. A. a. O., S. 285.
24. Ebd.
19. A. a. 0., S. 263.
20. A. a. 0., S. 202.
21. A. a. O.. S. 207.
22. A. a. O., S. 275.
23. A. a. O., S. 285.
24. Ebd.
25. A. a. 0., S. 135; vgl. auch S. 161, 163.
25. A. a. 0., S. 135; vgl. auch S. 161, 163.
26. Fr.-W. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften`? Eine Eschatologie, Bd. 3, Gütersloh 1996, S. 257.
27. A. a. O., S. 263. 28. A. a. O., S. 269.
29. Eschatologie, Bd. 2, S. 270.
30. Rechtsradikale Partei, die sich für den »Transfer« aller Palästinenser einsetzt - natürlich nicht unter Anwendung von Zwang, sondern als freiwilliges »Weichen«, unterstützt allenfalls durch Finanzhilfen. Ich weiß natürlich, wie sehr ich Marquardt Unrecht tue, wenn ich ihn in dieser Ecke sehe, denn er hat selber öffentlich seine Sympathie für die Arbeitspartei erklärt: Vgl. Zwischenruf »Wenn ich Israeli wäre ...«, in: Junge Kirche ll/88, S. 597.
31. Eschatologie, Bd. 2, S. 187.
32. Eschatologie, Bd. 2, S. 210-228.
33. A. a. O., S. 227.
34. A. a. O., S. 384.
35. Fr.-W. Marquardt, Eia, wärn wir da - eine theologische Utopie, Gütersloh 1997,S.576.

Quelle: Tobias Kriener, Landverheißung und Zionismus in der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts - eine Problemanzeige, in: Wendung nach Jerusalem. Friedrich-Wilhelm Marquardts Theologie im Gespräch, hrsg. von Hanna Lehming, Joachim Liß-Walther, Matthias Loerbroks und Rien van der Vegt, Gütersloh 1999, 217-226.

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