''Mal sehen, was Gott mit dem Bengel vorhat''

Eine Erzählung zur Jahreslosung 2011. Von Paul Kluge, Leer

Liebe Geschwister,

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“– diese Empfehlung aus dem Römerbrief ist die Losung für das Jahr 2011. Dieser Empfehlung zu folgen, kann ein anstrengendes Jahr bedeuten. Und ein lohnendes.

Ich habe etwa zwei Drittel meiner Dienstzeit in der Diakonie gearbeitet und dabei mehr Menschen erreicht als in der Gemeinde, auch kirchenferne und kirchenfremde. Das ist Grund und Hintergrund dessen, dass ich zur Jahreslosung von Johann Hinrich Wichern erzählen möchte. Ich werde das in Form einer Geschichte tun, wie sie sich vor mehr als 150 Jahren in Horn bei Hamburg zugetragen haben könnte - und wie sie sich heute immer wieder zutragen sollte. Die Geschichte ist zwar frei erfunden, die Hauptfiguren aber sind historische Gestalten: Johann Hinrich Wichern eben und Amalie Sieveking, Tochter aus gutem Hause, die sich in der Krankenpflege engagiert und die „Sonntagsschule“, den Kindergottesdienst „erfunden" hat. Also:

„Gegen fünf wollte sie kommen, zum Tee, und mit ihm mal wieder ein wenig plaudern. Bis dahin war noch etwas Zeit, da konnte er noch den Brief lesen, den ein Gerichtsbote vorhin gebracht hatte. Er kannte den Absender so gut - schließlich waren sie seit gemeinsamen Studententagen befreundet - dass er schon ahnte, worum es wieder einmal ging. Zufrieden setzte er sich in seinen Lehnstuhl, öffnete den Brief und las. Schüttelte immer wieder den Kopf, seufzte manchmal schwer, dann schloß er die Augen und dachte nach.

Es klopfte an der Tür, er schreckte hoch - er musste wohl eingeschlafen sein. Das Hausmädchen trat ein und meldete: „Frau Sieveking, Herr Pastor Wichern. Sie sagt, Sie erwarten sie.“ - „Ja gewiss doch, nun mach man schnell Tee. Und reichlich braunen Kuchen, den ißt sie doch so gerne.“ Das Mädchen knickste und verschwand, Amalie Sieveking trat ein. „Mein lieber Wichern“, streckte sie ihm beide Hände entgegen, „schön, dass du dir ein wenig Zeit für mich nimmst! Wir sehen uns viel zu selten, seit du hier das Rauhe Haus hast. Wie geht es dir?“ - „Lies diesen Brief, dann weißt du es“, antwortete er und gab ihr den Brief seines Freundes. Während sie las, brachte das Mädchen Tee und braunen Kuchen, deckte auf und ging wieder in die Küche.

„Die ist ja richtig tüchtig geworden“, bemerkte Amalie, „hätte ich nie gedacht, als du sie aufgenommen hast.“ „Na, hat auch viel Mühe und Geduld gekostet und manches Geld, diese kleine Elster!“ - „Hat sie euch bestohlen?“ - „Nun, sagen wir mal so: Sie hat sich genommen, was ihr gefiel, das arme Ding. Wie man das so lernt, wenn man mit zwölf Jahren auf der Straße lebt. Sie kann doch nichts dafür. Du kennst das doch: Vater unbekannt und Mutter über den großen Teich in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Kind einfach zurückgelassen.“ - „Und dann landen diese Kinder bei dir und du machst ordentliche Christenmenschen aus ihnen. Aber sag mal, was wirst du mit dem Jungen machen, den der Gerichtsrat dir da annonciert? Dem ist ja wohl nicht mehr zu helfen!“ Sie blickte in den Brief und las vor: „Das Alter des völlig verwahrlosten Knaben wird auf etwa 14 geschätzt. Er kennt oder nennt nur seinen Vornamen, Klaas, und weiß weder Heimatort noch Eltern zu nennen, wie überhaupt sein Sprachvermögen weit hinter seinem vermuteten Alter zurückgeblieben ist. Er wurde aufgegriffen, nachdem er einen betrunkenen Seemann mit einem Messer schwer verletzt hatte.

Der Seemann gab später zu Protokoll, er habe den Knaben in einer Hafenspelunke kennengelernt und ihm ein Essen spendiert. Dann habe der Knabe ihm ein verlockendes Angebot gemacht, und er sei ihm in eine dunkle Straße gefolgt. Dort habe der Knabe ein Messer gezückt und sofort auf ihn eingestochen. Ein zufällig des Weges kommender Schauermann habe den Knaben zur Flucht veranlaßt, ihn aber eingefangen und auf die Davidswache gebracht, wo er arrestiert wurde.“

Amalie Sieveking machte eine Pause, bevor sie fragte: „Johann Hinrich, willst du einen Mörder aufnehmen? Das kannst du doch nicht machen!“ - „Amalie; hast du in deiner Arbeit nicht auch mit Leuten unter Stand zu tun? Nimmst du dich nicht auch der Ärmsten der Armen an? Und dieser Knabe gehört zu den Allerärmsten, gerade weil er ein Gewalttäter ist!“ - „Aber denk an den verderblichen Einfluß, den er auf die anderen Zöglinge haben wird!“ wand Amalien ein. Wichern konterte: „Ich denke eher an den guten Einfluß, den die anderen Zöglinge auf diesen Knaben nehmen werden.“

Frau Sieveking trank ein wenig Tee, knabberte nervös laut am braunen Kuchen, so dass Wichern die Stirn krauste, und schwieg eine Weile. „Weißt du was, Amalie“, übertönte Wichern das Knabbergeräusch, „morgen gegen elf Uhr soll der Knabe hier eingeliefert werden. Wenn du Zeit hast, komm und sieh ihn dir an. Und nun erzähl mir von deiner Arbeit. Noch etwas Tee?“

Er füllte beide Tassen, tunkte kurz einen braunen Kuchen in seinen Tee und zerdrückte ihn unhörbar am Gaumen. Unbeeindruckt knusperte Amalie weiter. Dann erzählte sie aus der Sonntagsschule und wie willig die Arbeiterkinder nicht nur Gottes Gebote, sondern auch Lesen, Schreiben und Rechnen lernten; erzählte von Müttern, die sie Säuglingspflege und Kinderernährung lehrte, und auch von Hamburger Kaufmannsfamilien, die großzügig spendeten. „Aber das alles reicht nicht, Wichern. Die Not, das Elend sind so groß, wir müssen noch viel mehr tun. Da sind zum Beispiel die Kranken aus den Armenvierteln. Sie können keinen Arzt bezahlen, kein Medikament kaufen und husten sich die Lungen aus dem Hals oder sterben im Kindbett. Ich will eine Petition an den Senat verfassen, dass in den Hospitälern Armenstationen eingerichtet werden. Hilfst du mir?“ - „Wenn du morgen kommst?“ Sie lachte: „Abgemacht. Auf morgen also. Nun muss ich aber gehen, die Uhr ist schon fast acht.“ Wichern klingelte dem Hausmädchen, Amalie Sieveking verabschiedete sich und folgte dem Mädchen zur Tür.

Am nächsten Tag kurz vor der vereinbarten Zeit kam Amalie wieder und fand einen nervösen Wichern vor. „Amalie, dein Kommen macht mir Mut“, sagte er zur Begrüßung, und erzählte von seinen Zweifeln, die ihm wegen des Knaben gekommen waren: „Vielleicht verdirbt er mir meine Kinder wirklich. Aber man darf so ein Kind doch nicht ins Gefängnis stecken! Was er jetzt noch nicht kennt, wird er dort lernen! Ich muss es mit ihm versuchen.“

Das Hausmädchen trat ein: „Herr Pastor, da sind zwei Büttel mit einem Jungen. Der muss sich aber erst mal waschen, wenn der ins Haus soll.“ - „Denn mach schon mal Wasser heiß, mien Deern, und tüchtig was zu essen.“ Alle drei verließen das Dienstzimmer, Wichern und Frau Sieveking traten vor die Haustür. Die beiden Gendarmen hielten einen kleinen Bengel fest an den Armen. Sein verschmutztes Gesicht war kaum zu erkennen, unter der Nase getrocknetes Blut, in den Augen eine Mischung aus Angst und verzweifelter Wut. „Bindet ihm die Hände los!“ befahl Wichern. - „Dann haut der ab“, warnte der eine Gendarm und gab dem Knaben eine Ohrfeige. „Bindet ihn los!“ wiederholte Wichern, und der Gendarm gehorchte.

Wichern ging langsam auf den lauernden Jungen zu, legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, dann die andere Hand auf die andere Schulter und sah dem Knaben ins Gesicht. Der blickte zu Boden. „Klaas“, redete Wichern ihn an, „Klaas, deine Sünden sind dir vergeben. Du bist mir von Herzen willkommen.“ Dann nahm er den Jungen in seine Arme. Die Gendarmen standen mit großen Augen und offenen Mündern daneben, und auch Amalie wunderte sich über die Szene. Sie wußte zwar, dass Wichern jeden neuen Zögling persönlich begrüßte und ihm die Sünden vergab, aber das zu erleben, war noch etwas anderes.

Wichern spürte, dass der kleine Klaas zitterte, löste die Umarmung und legte ihm wieder die Hände auf die Schultern. Ein flüchtiger Blick traf ihn, dann begann der Junge zu zucken, es folgten ein paar Seufzer, dann heulte er los. Sackte auf den Boden, heulte und heulte. Wichern hockte neben ihm, hielt ihm die schmutzige Hand. „Komm nach Hause, mein Sohn, du wirst hungrig sein. Das Mahl ist bereit“. Doch Klaas heulte weiter, heulte sein ganzes Elend aus sich heraus.

Das Hausmädchen kam mit einer Schüssel Wasser und einem Leinentuch. Wichern nahm es, feuchtete es an, hockte sich vor den Jungen und wischte ihm behutsam durchs Gesicht. Ein kurzes, scheues Lächeln traf ihn, und er atmete erleichtert auf. „Gewonnen“, dachte er, „wieder einmal gewonnen und das Böse mit Gutem überwunden. Gott, wie ich dir danke!“ Er stand auf, der Junge auch. „Jetzt komm ins Haus!“ Der Junge nahm Wicherns Hand und folgte. „Wie der Vater mit dem verlorenen Sohn“, dachte Amalie und wischte sich die Augen. Dann nahm sie dem Hausmädchen die Schüssel ab: „Geh du man in die Küche, ich krieg ihn schon sauber.“ „Sie?“ fragte das Mädchen skeptisch und musterte Amaliens elegante Kleidung. „Ja, ich. Ich kenne das. Als hier vor einigen Jahren die Cholera wütete, hab ich als einzige Frau die Kranken gepflegt. Die waren schmutziger als der kleine Klaas, glaub mir!“ Dann ging auch sie, gefolgt von dem verdutzen Mädchen, ins Haus und kümmerte sich um den Jungen.

Später - der kleine Klaas schlief satt und sauber wie ein Murmeltier - saßen Wichern und Frau Sieveking wieder beim Tee zusammen. „Johann Hinrich, du hast recht. Man kann Böses nur mit Gutem überwinden. Kinder, auch wenn sie durch und durch böse scheinen, gehören nicht ins Gefängnis. Sie brauchen Liebe, Liebe und noch mal Liebe. Wir müssen die Menschen lieben, wie Christus uns geliebt hat, auch wenn’s schwerfällt und Überwindung kostet.“ - „Das ist wohl so“, meinte Wichern und griff nach seiner Pfeife, „mal sehen, was Gott mit dem Bengel vorhat.“

Der kleine Klaas lernte Lesen, Schreiben und Rechnen - mühsam, denn er musste erst noch das Sprechen üben. Dann lernte er Buchdrucker, und als die Agentur des Rauhen Hauses gegründet wurde, fand er dort feste Arbeit.“ Amen

Gebet: Gott, der du das Gute bist und willst: Unsere Welt ist so voll des Bösen, dass wir manchmal schier verzweifeln könnten, manchmal auch an deiner Macht zweifeln. Dann versuchen wir, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und das, was uns gut dünkt, durchzusetzen. Schenke du uns Geduld und Vertrauen, dir die Dinge zu überlassen, die deine sind; schenke uns Einsicht und Demut, uns auf das zu beschränken, was unser ist.

Gott, der du Herr bist über Engel und Mächte und Gewalten des Lichtes und der Finsternis, du willst auch Herr sein über unser Leben. Wir aber vergelten statt zu vergeben und halten Rache für Recht. Damit geben wir dem Bösen Macht über uns und in der Welt, dienen dem Bösen und folgen seinen Wegen. Hilf du uns, dass wir unsre Wege dir befehlen und uns auf dich verlassen, denn nur du wirst alles gut machen und am Ende alles recht richten.

Guter Gott, am Anfang eines neuen Jahres erinnern wir uns an manches, was die vergangene Zeit uns gebracht hat, und denken an die vor uns liegende. Was uns bewegt, bringen wir vor dich und beten gemeinsam: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen

 


Pfr. Paul Kluge, Leer