Matthäus 6, 5-13

Beten: ,,Unser Vater ...''

Beim Beten wird uns Gott vom „Er“ zum „Du“. Wenn wir beten, dann tun wir das, was Gott am meisten entspricht. Denn Gott will für uns ein „Du“ sein. Gott selber hat uns ja zuerst angesprochen. Eine Predigt von Steffen Tuschling.

Liebe Gemeinde!
Es ist etwas ganz anderes, ob wir über einen Menschen reden, oder ob wir mit einem Menschen reden. Es ist etwas anderes, ob über mich geredet wird, oder mit mir geredet wird. Ob ich sage: Sie macht sich Sorgen über dies und das, oder ob ich sie anspreche: Du machst Dir Sorgen!?
Es ist auch etwas ganz anderes, ob wir über Gott reden, oder ob wir mit Gott reden.
Reden wir mit Gott, so wird er vom Erhabenen und weit Entfernten zum Gegenüber meines Lebens.
Beim Beten wird uns Gott vom „Er“ zum „Du“.
Deshalb ist es so, liebe Christen: Wenn wir beten, dann tun wir das, was Gott am meisten entspricht. Denn Gott will für uns ein „Du“ sein. Gott selber hat uns ja zuerst angesprochen.

Vielfach ist in der Bibel vom Beten die Rede. Heute in der Schriftlesung wurden wir Zeugen eines geradezu atemberaubenden Gespräches, das Mose einst in der Wüste Sinai mit Gott führte. In diesem Gespräch rang Mose mit Gott um das Leben seines Volkes – und zwar mit Erfolg: „Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.“
Erstaunlich genug, aber davon berichtet die Bibel oft: dass eindringliches, ja unverschämtes Beten Gott erreicht. Vielleicht ist es ja so, dass Mose hier für Gott zum Du geworden ist – kein „er“ mehr, an dem sich einfach vorbeischauen ließ.
Eindringliches Beten weckt Gottes Barmherzigkeit.

Der heutigen Predigt lege ich Worte Jesu über das Beten zugrunde. Sie stehen im Matthäusevangelium im 6. Kapitel, die Verse 5 – 13.

5 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.
6 Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.
7 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.
8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.
9 Darum sollt ihr so beten:
Unser Vater im Himmel!
Dein Name werde geheiligt.
10 Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
11 Unser tägliches Brot gib uns heute.
12 Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
13 Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.

Dass Gott uns im Gebet zum „Du“ wird, das drückt Jesus aus, indem er Gott als „Vater“ anspricht. Der Vater, das ist einer von den beiden, die uns einst zu allererst angesprochen haben. Nach denen wir geschrien haben als hilflose Säuglinge, und von denen wir dann das Reden gelernt haben. Vater und Mutter sind das Ur-Du eines jeden Menschen, unser erstes Gegenüber.
Da wundert es mich, dass Jesus Gott nur als „Vater“, nicht aber als „Mutter“ anspricht. Hat uns nicht zu allererst die Mutter angesprochen, haben wir nicht nach ihr zuerst geschrien?

Vielleicht war es in der damaligen Männerwelt einfach nicht anders möglich: Gott konnte schlechterdings nur als Mann vorgestellt werden. Also auch nur als Vater, nicht als Mutter.

Es hat auch andere Zeiten gegeben im Glauben Israels. Davon zeugt das Wort „Erbarmen“ oder „Barmherzigkeit“, das im Alten Testament unmittelbar zu Gott dazugehört. Erbarmen heißt auf hebräisch „rechem“ und das bedeutet zugleich „Mutterleib“ oder „Mutterschoß“ – ein Hinweis darauf, dass in irgendeiner Zeit Gott und sein Erbarmen eben doch auch mit der Mutter in Verbindung gebracht wurde…
Zu Jesu Zeiten war aber offenbar nur noch vorstellbar, zu beten: „Unser Vater im Himmel…“

Wer unter Ihnen sich in unserer Zeit auch anderes vorstellen kann, Schwestern und Brüder, mag sich dabei leise denken: „Unsere Mutter im Himmel…“. Denken wir nur an Gottes Barmherzigkeit.

Zu Anfang unseres Abschnittes empfiehlt Jesus den Jüngern einige Grundregeln fürs Beten.
Zunächst: „Wenn du betest, geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu…“
Beten und Suchen nach Öffentlichkeitswirkung vertragen sich nicht.
Wie ein Gespräch nur zwischen dir und mir nichts für die Öffentlichkeit ist. Sondern eben „unter vier Augen“ bleiben soll.
Ein Gespräch, das für die gierigen Ohren und gespannten Augen der Öffentlichkeit bestimmt ist, ist kein Gespräch für die Begegnung zwischen dir und mir.
Es ist eigentlich logisch, dass das auch für die Gespräche gilt, in denen Gott dein Gegenüber ist.
Ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Gebet ist kein Gebet. Nicht Gott ist das „Du“, an den sich ein solches Gebet richtet, sondern die Menschen rundum.

Das Jesus diese Selbstverständlichkeit extra betont, hat den einfachen Grund, dass derlei Öffentlichkeits-Gebete zu allen Zeiten beliebt waren und sind.
Denn sich als religiös rechtschaffener Mensch zu outen, damit hat man zu beinahe allen Zeiten punkten können. Wir brauchen gar nicht bis zu den von Jesus erwähnten „Heuchlern in den Synagogen“ zurückzugehen, um uns dies Phänomen vor Augen zu führen.
So nennen die Russen ihre Politiker seit der Wende allgemein „Kerzenhalter“, weil man zu allen hohen Feiertagen im Fernsehen sehen kann, wie sie in der orthodoxen Kirche Kerzen anzünden.
So beendet ein bekannter amerikanischer Politiker alle seine Reden mit dem Ausruf: „God bless America“, Gott segne Amerika. Und beinahe wollte ihm unser Bundespräsident nacheifern.
Aber wir sollten uns vorsehen, bloß auf diese Politiker zu zeigen, frei nach dem Motto „Schuld sind immer die anderen“.

Dietrich Bonhoeffer hält Jesu Warnung auch den stillen Betern vor Augen:
„Ich kann mir auch in meinem Kämmerlein eine ansehnliche Demonstration veranstalten. Bis dorthin können wir Jesu Wort verzerren. Die Öffentlichkeit, die ich mir suche, besteht dann darin, dass ich zugleich der bin, der betet, wie auch der, der hört. Ich höre mich selbst an, ich erhöre mich selbst. Weil ich auf die Erhörung Gottes nicht warten will, weil ich mir nicht dermaleinst die Erhörung meines Gebets von Gott zeigen lassen will, schaffe ich mir selbst meine Erhörung. Ich stelle fest, dass ich fromm gebetet habe, und in dieser Feststellung liegt die Befriedigung der Erhörung. Mein Gebet ist erhört. Ich habe meinen Lohn dahin. Weil ich mich selbst erhört habe, wird mich Gott nicht erhören, weil ich mir selbst den Lohn der Öffentlichkeit bereitet habe, wird Gott mir keinen Lohn mehr bereiten.“

Dietrich Bonhoeffer wusste: Ich kann vor mir selbst nicht sicher sein. Oft genug bin ich mir selber mein bestes Publikum bei der Aufführung, die ich „Gebet“ nenne.
Wie aber kann Beten im Sinne Jesu, Beten, das wirklich Gott meint, aussehen? Bonhoeffer ringt um die Antwort, und er findet sie radikal:
„Was ist das Kämmerlein, von dem Jesus redet, wenn ich vor mir selbst nicht sicher bin? (…) Wo Jesu Wille allein in mir herrscht, und all mein Wille in seinen hinein gegeben ist, in der Gemeinschaft Jesu, in der Nachfolge, stirbt mein Wille. Dann kann ich beten, dass der Wille dessen geschehe, der weiß, was ich bedarf, ehe ich bitte. Dann allein ist mein Gebet gewiss, stark und rein, wenn es aus dem Willen Jesu kommt. Dann ist Beten auch wirklich Bitten. Das Kind bittet den Vater, den es kennt…“.

Übereinzustimmen mit dem Willen Gottes; den Satz „Dein Wille geschehe“ Wirklichkeit werden zu lassen, das wurde zum Lebensziel Dietrich Bonhoeffers. Die Sätze zum Beten, die ich Ihnen eben zitiert habe, hat er im Jahre 1937 in seinem Buch „Nachfolge“ aufgeschrieben. Ein paar Jahre später hat sich Bonhoeffer auf dem Weg der Nachfolge den Verschwörern gegen Hitler angeschlossen – und er hat für den Versuch, den Tyrannen loszuwerden, mit dem Leben bezahlt, nur wenige Tage, bevor die Amerikaner kamen.

„Dein Wille geschehe.“
Das Gebet Jesu wirklich ernst zu nehmen, ist ein Wagnis. Und kaum einer von uns hat das Zeug zum Märtyrer, wie Bonhoeffer es hatte. Wir hängen an unserem nackten Leben. Und sind schnell bereit zum Durchwurschteln, ja, zum Verrat.
Darum stehen in Jesu Gebet nicht nur die Sätze: „Dein Reich komme.“ Und „Dein Wille geschehe.“, sondern auch „Und vergib uns unsere Schuld“.
Jesus hat gewusst, wie wir sind. Darum steht die Bitte um Vergebung im Zentrum seines Gebets.
Gott hört diese Bitte wohl: Denken wir nur an seine Barmherzigkeit – den Mutterschoß Gottes.

Jesus hat einige Zentralbitten aufgezählt, die unser Leben vor Gott bringen: die Hoffnung auf Gottes Reich, die Sorge um unser tägliches Brot, das Flehen um Vergebung.
Wer betet, geht davon aus, dass Gott über unsere Nöte und Sorgen schon ganz gut Bescheid weiß. Wir brauchen ihm nicht alles und jedes zu erklären. Gott ist ein Du, das uns gut kennt.
Darum sind es knappe Worte, die Jesus empfiehlt.

Gott ist ein Du, das uns gut kennt. Darum brauchen wir im Gespräch mit ihm auch nicht auf eine gute Selbstdarstellung zu achten, so wie im Gespräch mit Mitmenschen.
Auch darum sind es knappe Worte, die Jesus empfiehlt.
„Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden, denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.“

Liebe Christen, es ist, als ob uns Jesus zuruft: Nur Mut beim Beten! Sagt ihm, was ihr braucht! Gottes Barmherzigkeit ist immer schon für uns da, wir können in seine Liebe hineinschlüpfen, statt zu meinen, wir müssten viele und kunstvolle Worte um unsere Gebete schnüren.

Einer der großen Lehrer der Alten Kirche, der Mönch aus dem Sinaikloster Johannes Klimakos, schrieb um das Jahr 600 das Buch „Leiter zum Himmel“. Auch er ist der Überzeugung, mit einem knappen Gebet können wir die Liebe Gottes direkt treffen:

„Vermeidet in eurem Gebet viele Worte. Ein einziges Wort genügte, um dem Zöllner und dem verlorenen Sohn die göttliche Verzeihung zu schenken. Stellt keine langen Überlegungen in eurem Gebet an. Wie oft rührt den Vater das einfache und immer wiederholte Stammeln des unmündigen Kindes. Lasst euch deshalb nicht auf lange Gedankengänge ein, damit ihr euren Geist nicht mit dem Suchen nach Worten zerstreut. Ein Wort des Zöllners hat die Barmherzigkeit Gottes getroffen. Ein Wort voll des Glaubens hat den Schächer am Kreuz gerettet. Gedankenfülle im Gebet erzeugt Bildfülle und lässt den Geist zerfließen, während oft ein immer wiederholtes Wort den Geist sammelt.“

Liebe Christen: Ein Stoßgebet kann es sein, in großer Not, das uns Gott zum Du werden lässt. Es gibt da keine Beschränkungen und Voraussetzungen. Jede und jeder kann Gott ansprechen. Er hört uns sehr wohl.
Und dann ist es wie mit Menschen: je länger wir mit ihnen reden und mit ihnen gehen, desto näher kommen wir uns. Dann ist es, wie, wenn wir einen neuen Freund gewinnen: Es wächst Vertrauen. Und wir bleiben nicht dieselben: Das Du, das wir geschenkt bekommen, verändert auch unser Ich.

Das Gebet Jesu enthält alles, was wir brauchen:
Unser Vater im Himmel: Gott wie ein Kind anrufen.
Dein Reich komme: Auf ihn unsere Hoffnung setzen.
Dein Wille geschehe: Sich in Gottes Nachfolge begeben.
Unser tägliches Brot gib uns heute: Gott unseren Alltag anheim stellen.
Und vergib uns unsere Schuld: Gott weiß, wie wir wirklich sind, und er ist barmherzig.
Und führe uns nicht in Versuchung: Rette uns vor dem Bösen, das in der Welt ist.

Von Anbeginn der Welt an ist Gott unser Gegenüber. Das ist wunderbar. Und er will diese Welt auch vollenden, und uns mit ihr. Deshalb fügt die Kirche auch von Anfang an dem Gebet Jesu hinzu:
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. In Ewigkeit.
Amen.   

Lied 344 (Vater unser im Himmelreich), 4 + 8 + 9


Steffen Tuschling, Pastor an der Bergkirche in Osnabrück, 2007