'Nur der leidende Gott kann helfen'

Gedanken zur Passion in schwierigen Zeiten


© Pixabay

von Klaus Müller

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – „Eli, Eli, lama asavtani“. Mit diesem Satz in der hebräischen Gebetssprache auf den Lippen stirbt er und wird doch von den Seinen als der von Gott erhoffte Heiland und Retter geglaubt und verkündigt. Hat er so sehr die Gegensätze auf sich gezogen, der da stirbt – qualvoll hingerichtet am Kreuz von Golgatha? Wer ist er? Für die zahllosen Menschen, die in diesen Tagen wieder das Leiden und Sterben Jesu von Nazareth meditieren? Der Helfer – oder der Hilflose? Der königliche Gesandte – oder der aller Herrschaft Beraubte? Wahrhaftig von Gott gekommen – oder von Gott verlassen? Wer ist er? Bange Frage gerade auch in Zeiten, da Hilfe in der Not so teuer geworden ist.

„Eli, Eli, lama asavtani“. Der Todesschrei des Gekreuzigten bleibt für ihn ungehört – unerhört! Der Tod ist stumm und macht stumm. „Mein Gott, mein Gott!“ Wenn wir das einmal aushalten könnten, dass im Angesicht des Todes das schnelle Wort und der schnelle Trost verstummen müssen, dass es jetzt gerade nichts mehr zu machen und zu reparieren und zu perfektionieren und zu optimieren gibt. „Mein Gott, mein Gott!“ Dieser dort am Kreuz stirbt unerhört.

Wo ist Gott in diesem Leiden? Es kommt alles darauf an, dem sich aufdrängenden Gedanken nun gerade nicht nachzugeben: dass Gott sich doch wohl irgendwo fernhalte von Allem, unberührbar und ungerührt und aus sicherer Distanz Jesus so geschlagen habe. Hier erhebt biblischer Glaube entschiedenen Widerspruch. Es ist bei Gott nicht so, wie Schiller im „Wilhelm Tell“ sagen lässt: „Es rast der See und will sein Opfer haben.“ Ihn meint der Glaube an Karfreitag nicht – den fernen zornigen Gott, der zur Besänftigung sein Blutopfer braucht.

Wo ist Gott?, fragt der Mensch in Zeiten der Not – Gott ist in Christus, sagt die Botschaft des Karfreitags. Hat sich in ihn ganz hineingedacht und hineinverstrickt. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Dann ist er da oben am Kreuz. Und ist sich dort doch auch selbst gegenüber. „Gott war in Christus“ ist in 2.Kor 5,19 die paulinische Weise das auszusagen, was bei Matthäus in die Wendung gefasst wird: „Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Geheimnis der Passion Christi. Nicht im direkten Sinne physisch misszuverstehen, sondern ganz konsequent relational zu denken und zu glauben. Gott in Jesus Christus. Wenn Jesus ungetröstet stirbt, schmeckt Gott selbst auch die Trostlosigkeit. Wenn Jesus gottverlassen stirbt, erleidet Gott an sich selbst Gottverlassenheit. Wenn Jesus geschlagen wird, steht Gott selbst auf der Seite des Geschlagenen, ja ist er selber ein Geschlagener und will niemals irgendwo anders stehen als auf der Seite der Geschlagenen.

Gott der himmlische Vater lässt sich auf den Erdenweg Jesu von Nazareth ein; dort will er erkannt werden. Bis zum Schluss. „Dieser in Wahrheit ist Gottes Sohn.“ Die Verkündigung des Karfreitags denkt diesen Zusammenhang ganz konsequent zu Ende und kommt damit dem tiefen Geheimnis der Passion Christi auf die Spur: „O, große Not! Gott selbst liegt tot. Am Kreuz ist er gestorben; hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb’ erworben.” So die ursprüngliche Fassung im Karfreitagslied des lutherischen Pfarrers Johann Rist aus dem Jahre 1641. Als müssten und dürften wir sagen: Lieber Christ, liebe Christin, denk bei allem, was Jesus tut und überall, wo er hingeht – und wären es Kreuz und Tod! – Gott mit: So ist Gott, so ist sein Wesen, so weit geht er mit. „Gott in Not“. Herz des christlichen Glaubens und: ein zutiefst jüdischer Gedanke. Der jüdische Glaube denkt Gott präsent in den Exilen seines Volkes, in der Not seiner Menschen, nicht souverän enthoben und abgehoben: „Ich will unter euch wohnen“, spricht der Herr – bis in die letzte Konsequenz: „Bei ihm bin ich in der Not“ (Ps 91,15), in einem ganz direkten Sinne. Gott in Not. -

Nur: Wenn wir heute überhaupt noch eine Vorstellung von Gott haben, dann doch eher die von einem ewigen Sieger, der in seiner Gloriole durch nichts zu erschüttern ist. Sollte Gott etwa nicht so siegen wie ein Olympionike über seine Rivalen? Es erscheint uns doch ein olympischer Sieger wie ein „junger Gott“. Was siegreich ist auf Erden, scheint dem Himmel näher – oder? „Gott in Not?“. Dies hätte allerdings ein ganz tief gehendes Umdenken in unserer Gottesvorstellung zur Folge: Dann wäre ja Gott gar nicht mehr der unnahbar irgendwo Thronende, sondern anzutreffen an armer Leute Tisch. Dann wäre ja Gott gar nicht mehr der gestrenge Richter, der alles, was ich falsch gemacht habe, fein säuberlich ins Buch der Anklage einträgt, sondern der nahe Gott, der mit einem Wort der Vergebung mir das Leben wieder schenkt. Dann wäre ja Gott gar nicht der Despot, der auftrumpft mit Erweisen seiner Allmacht, sondern der mit meinem bisschen Leben solidarische Gott. „Gott in Not“ – dort will er sein und so will er sein. Bis zuletzt. Gott in Christus – dann hätten wir einen Gott, der darin seine Macht zeigt, dass er auf Macht verzichten kann und „ganz unten“ seinen Platz nimmt, bei den Geringsten seiner Brüder und Schwestern.

„Aber warum, denn nur, mein Gott, warum?“ Aus Liebe. Dieses eine Wort allein ist der Schlüssel. So ist es nun mal unter Liebenden: „dû bist mîn, ich bin dîn, des solt dû gewis sîn.“ Wo du bist, will ich auch sein, spricht der Gott Himmels und der Erden, der in ewiger Freiheit Liebende zu seinen Menschenkindern. Darum muss und will er überall dort sein, wo bloß Menschenkinder auf dieser Welt sein können – nicht nur auf der Sonnenseite des Lebens, sondern ganz unten, dort, wo man nur noch den Kopf schütteln kann, wo nichts mehr zu machen ist. Dorthin geht er mit – im Sohn; dort begegnet er uns von Angesicht zu Angesicht.

In seiner Liebe hat Gott sich verletzlich gemacht. Er hat sich am Kreuz wehrlos gemacht. In seiner Liebe zur Welt. Im Kreuz Jesu hat Gott sich selbst preisgegeben an unsre Welt, die rücksichtslos das Ihre sucht. Gott hat sein ganzes Gottsein in diese Liebe gelegt. Er liebte unsre Welt und wollte sie in ihrer Gewalttätigkeit nicht selber gewalttätig verderben. Lieber wollte er selbst verlieren, sich selbst ganz drangeben und verschwenden an die Anderen – aus Liebe. Und die sehen wir am Kreuz sich vollziehen.

Die Macht, die Gott eigen ist, hat einen „Zug zum Kreuz“. Hier werden alle menschlichen Machtansprüche entlarvt. Göttliche Macht offenbart sich in der Ohnmacht. Und Teilhabe an Gottes Macht kann nur geschehen im Gestus des Loslassens, Sich Hingebens, des Sich Verschwendens. Die Haltung, die wir tagtäglich auf der Weltbühne erleben, ist das Gegenteil davon: Dominieren, Diktieren, Hassen, Herrschen. Die Zeit ist reif, einer anderen Weltordnung und Lebensordnung zu folgen, die an Karfreitag lautet: Macht in Wahrheit ist eine solche, die sich niedrig macht.

Wie „endet“ denn der Karfreitag? Die Geschichte von der machtvollen Ohnmacht am Kreuz kann nur verstehen, wer ihren Ausgang kennt. So ist das Evangelium durchweg erzählt worden, dass der lebendige Christus aus ihm spricht – vom Ende her, von daher, dass Gott den Gekreuzigten auferweckt hat von den Toten. Das Evangelium erzählt von dieser Perspektive her, dass das Leben eingebrochen ist in die Gewalt des Todes. Das Evangelium erzählt von der Zukunft her, die an dieser präzisen Stelle des lebendigen Christus schon begonnen hat. „Der Götze wackelt.“ Am Kreuz – vom Osterlicht erleuchtet – scheint eine neue Sicht der Dinge auf: Unsere Welt wird nicht heil durch die Starken, die ihre Stärke ausspielen. Unserer Welt wird nicht geholfen durch die, die sich zuerst selber helfen. Uns wird und ist schon geholfen durch den, der es anders macht. Durch den, der sich in seiner Liebe zu uns aufgibt – und darin Recht bekommt. Das macht Hoffnung. Karfreitag zeigt im Antlitz des leidenden und gemarterten Menschen den mitleidenden Gott. Das macht sensibel für alles Leid der Welt. Ein apathischer Gott und ein unverwundbar-aggressiver Glaube gehören in die Kreuzzugsideologie von ehedem. Karfreitag heute lehrt uns: Wir haben einen verletzbaren Gott und einen angreifbaren Glauben. Auch in Zeiten, die uns alles abverlangen. Das macht uns menschlicher. Gott sei Dank.

Dietrich Bonhoeffer, dessen Tag der Hinrichtung im KZ Flossenbürg 1945 sich am 9. April jährt, ist diesem Grundgedanken des Christentums ganz nahe gekommen. Aus der Tegeler Gefängniszelle ist vom Juli 1944 ein Gedicht überliefert, in dem Bonhoeffer das Geheimnis des christlichen Gottesglaubens in die Zeilen fasst: „Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot ...“ Gott lässt sich, so erläutert Bonhoeffer, aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und nur so ist er bei uns und hilft uns. Die Bibel hat nicht den Deus ex machina im Blick, der’s schon richten wird – „die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes“, schreibt Bonhoeffer; „nur der leidende Gott kann helfen.“ Gott – verwickelt in tiefe menschliche Not. Platzwechsel! Martin Luther bejubelt diesen „fröhlichen Wechsel“. So wird Versöhnung. Gott und die Not tauschen die Plätze – und darum ist die Not des Menschen kein gottloser Ort mehr. Auch die Not, die Menschen in diesen Tagen und Wochen an allen Orten dieser Erde so bedrückend erfahren müssen – auch diese Not ist kein gottloser Ort.

Das Geheimnis der Passion Christi und die Einwohnung Gottes an den notvollen Orten dieser Welt hat tiefen Anhalt in der jüdischen Glaubensüberzeugung. Ich erinnere an die talmudische Legende – jüdischerseits gibt es, so Gerschom Scholem, „keine großartigere als jene“ – vom Messias unter den Aussätzigen und Bettlern an den Toren Roms. Eine rabbinische Geschichte, die für sich selbst sprechen kann; die das Hoffen auf die messianische Rettung in kaum noch zu steigernder Intensität mit dem Ideal des Mitseins mit den Notleidenden verbindet (Babylonischer Talmud sanhedrin 98a): Rabbi Jehoschua ben Levi traf einst den Propheten Elia, wie er am Eingang der Grabhöhle des Rabbi Schim‘on ben Jochai stand. ... Da fragte er: Wann wird der Messias kommen? Elia erwiderte: Geh und frag ihn selbst! Und wo ist er? An den Toren Roms! Und woran ist er erkennen? Er sitzt zwischen den Armen und mit Krankheit Beladenen. Alle übrigen binden ihre Wunden mit einem Male auf und verbinden sie wieder, er aber bindet sie einzeln auf und verbindet sie wieder, denn er denkt: Vielleicht verlangt man nach mir, da will ich mich nicht aufhalten. Hierauf ging er zu ihm und sprach zu ihm: Friede sei mit dir, mein Herr und Meister! Dieser erwiderte: Friede sei mit dir, Sohn des Levi! Da sprach er zu ihm: Wann kommt der Herr? Dieser erwiderte: Heute - ... „heute, wenn ihr auf seine Stimme hören werdet“ (Ps 95,7).


Pfarrer Prof. Dr. Klaus Müller, Landeskirchlicher Beauftragter für das christlich-jüdische Gespräch (EKiBa)