Palmarum - Johannes 12,12-19: Hosianna!

von Johannes Calvin

''Übrigens besteht der Ruf Hosianna aus zwei hebräischen Worten und bedeutet soviel wie „Errette" oder „Heile doch bitte". Mit Absicht aber behielten die Evangelisten, obwohl sie doch Griechisch schrieben, das hebräische Wort bei, um deutlicher zu machen, daß die Menge sich einer feierlichen Gebetsformel bedient habe, die zuerst von David überliefert und in ununterbrochener Folge der Geschlechter vom Volke Gottes übernommen war ...''

12 Des anderen Tages, da viel Volks, das aufs Fest gekommen war, hörte, daß Jesus käme nach Jerusalem, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrieen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! 14 Jesus aber fand ein Eselsfüllen und ritt darauf; wie denn geschrieben steht (Sach. 9, 9): 15 Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt, reitend auf einem Eselsfüllen.
16 Solches aber verstanden seine Jünger zuerst nicht; aber als Jesus verherrlicht ward, da dachten sie daran, daß solches von ihm geschrieben war und man solches ihm getan hatte. 17 Das Volk aber, das mit ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. 18 Darum ging ihm auch das Volk entgegen, da sie hörten, er hätte solches Zeichen getan. 19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr sehet, daß ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach!

V. 12. „Des anderen Tages...“ Diesen Einzug Christi erzählen die übrigen Evangelisten ausführlicher, dennoch aber enthält die Darstellung unseres Evangelisten den ganzen Sinn. Zunächst ist aber festzuhalten: Christi Absicht ist es, aus freien Stücken nach Jerusalem zu kommen, um sich dem Tode darzubieten. Denn sein Tod mußte freiwillig sein, weil nur durch ein Opfer im Gehorsam Gottes Zorn gegen uns gestillt werden konnte. Er kannte sein Ende wohl. Doch bevor er sich zum Kreuzestode schleppen ließ, wollte er sich in feierlicher Weise

wie ein König vom Volk empfangen lassen. Ja, er erklärt offen, er nehme seine Königsherrschaft dadurch ein, daß er in den Tod gehe. Wenn aber auch eine große Volksmenge seine Ankunft feiert, bleibt er seinen Feinden doch unbekannt, bis er durch Erfüllung der Weissagungen, die wir später an ihrem Ort betrachten wollen, bestätigt hat, daß er der wahre Messias ist. Er wollte nämlich nichts auslassen, was zur Festigung unseres Glaubens dienen könnte.

„Viel Volks, das aufs Fest gekommen war ...“ Die Fremden also, die zum Fest nach Jerusalem gekommen waren, fanden sich viel eher dazu bereit, dem Sohne Gottes fromme Verehrung zu zollen, als die Bürger von Jerusalem, die doch für alle hätten ein Vorbild sein müssen. Denn täglich fanden hier Opfer statt, den Tempel hatten sie stets vor Augen, der ihre Herzen hätte dazu entflammen müssen, mit Eifer Gott zu suchen; hier lebten die bedeutendsten Lehrer der Gemeinde, hier war das Heiligtum des göttlichen Lichts. Gar zu abscheulich ist also ihre Undankbarkeit, daß sie, obschon von Kind auf mit solchen Dingen vertraut, doch den ihnen verheißenen Erlöser entweder verschmähen oder übersehen. Aber dieser Fehler ist fast allen Jahrhunderten gemeinsam, daß die Menschen um so frecher Gott verachten, je näher und vertrauter er sich ihnen darbietet. Die anderen aber, die ihre Heimat verlassen haben und zusammengekommen sind, das Fest zu feiern, beseelt ein viel stärkeres Verlangen, sorgsam nach Christus zu forschen; und als sie hören, er komme in die Stadt, gehen sie ihm entgegen, um ihn mit ihren Segenswünschen zu empfangen. Aber zweifellos hat sie ein geheimer Trieb des Geistes zu diesem Gang veranlaßt. Wir lesen nicht, daß so etwas sich früher schon einmal zugetragen habe. Aber wie mit Trompetenschall und Heroldsrufen die irdischen Fürsten ihre Untertanen herbeiholen, wenn sie von ihrer Herrschaft Besitz ergreifen, so versammelte Christus durch den Antrieb seines Geistes die Volksmenge, damit sie ihn als König begrüße. Als ihn die Scharen in der Wüste hatten zum König wählen wollen, da entzog er sich ihnen heimlich ins Gebirge; denn ihnen schwebte damals ein Reich vor, in dem es sich gut leben ließe, nicht anders als Vieh auf guter Weide. Ihrem törichten und verkehrten Wunsch also konnte Christus damals nicht willfahren, ohne sich selbst zu verleugnen und seine ihm vom Vater aufgetragene Aufgabe zu verraten. Aber jetzt nimmt er von dem Reich Besitz, das er vom Vater empfangen hatte. Ich gebe allerdings zu, daß die Art seines Reiches auch der Volksmenge, die ihm vor die Stadt entgegenging, nicht wirklich bekannt war; aber Christus schaut auf die Nachwelt. Jedoch läßt er nichts geschehen, was nicht zu einem geistlichen Reich gepaßt hätte.

V. 13. „Nahmen sie Palmzweige ...“ Die Palme war bei den Alten das Sinnbild des Sieges und des Friedens. Aber sie bedienten sich auch gewöhnlich der Palmzweige, wenn sie jemandem die Herrschaft übertragen wollten oder bittflehend dem Sieger nahten. Doch scheinen diese Leute hier Palmzweige in Händen gehalten zu haben als Zeichen ihrer Festfreude, da sie einen neuen König empfingen.

„Und schrieen: Hosianna! ...“ Mit diesem Ruf bezeugten sie, daß sie in Jesus jenen Messias erkannt hatten, der einst den Vätern verheißen war und von dem man Erlösung und Heil erwarten mußte. Denn Psalm 118,25, dem dieser Ruf entnommen wurde, war über den Messias zu dem Zweck gedichtet worden, daß alle Heiligen in dauernden Gebeten brennend um sein Kommen bitten und ihn mit höchster Ehrfurcht empfangen sollten, wenn er erschiene. Es ist also wahrscheinlich, ja, man kann es als sicher annehmen, daß diese Bitte allenthalben bei den Juden verbreitet und in aller Munde war. Da die Worte also vom Geist eingegeben waren, war das Gebet gut, mit dem diese Menschen Christus anbeteten, und er hatte sie als seine Herolde ausgewählt, die das Kommen des Messias bezeugen sollten. Übrigens besteht der Ruf Hosianna aus zwei hebräischen Worten und bedeutet soviel wie „Errette" oder „Heile doch bitte". Mit Absicht aber behielten die Evangelisten, obwohl sie doch Griechisch schrieben, das hebräische Wort bei, um deutlicher zu machen, daß die Menge sich einer feierlichen Gebetsformel bedient habe, die zuerst von David überliefert und in ununterbrochener Folge der Geschlechter vom Volke Gottes übernommen und vor allem dazu geheiligt war, um das Reich des Messias zu begrüßen. Dasselbe bezweckt das gleich darauf Folgende: „Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“ Auch das ist nämlich ein Segenswunsch für den glücklichen und frohen Fortbestand jenes Reiches, von dem die Aufrichtung und das Glück der Gemeinde Gottes abhing. Doch weil es so scheint, als spreche David in diesem Psalm eher von sich als von Christus, muß man erst einmal diesen Knoten auflösen. Es ist nicht schwer. Wir wissen ja, zu welchem Zweck das Reich bei David und seinen Nachkommen gefestigt worden ist: es sollte gleichsam ein Vorspiel jenes ewigen Königreiches sein, das zu seiner Zeit erscheinen sollte. Auch David durfte nicht nur bei sich verweilen, und der Herr wandte aller Frommen Augen bald darauf durch die Propheten auf ein anderes Ziel. Was also David von sich sang, überträgt man mit Recht auf jenen König, der gemäß der Verheißung als der Erlöser aus Davids Samen kommen sollte. Übrigens sollen wir daraus eine nützliche Mahnung entnehmen. Denn wenn wir Glieder der Gemeinde sind, dann erregt der Herr auch heute noch in uns dasselbe Verlangen, von dem die Gläubigen unter dem Gesetz erfüllt sein sollten. Wir sollen nämlich von ganzem Herzen wünschen, daß Christi Reich blühe und gedeihe. Und nicht nur das, unsere Gebete sollen ein Zeugnis für dieses Verlangen sein; und es ist zu beachten, daß uns diese Worte von ihm diktiert werden, damit wir mehr Mut zum Beten haben. Weh also unserer Trägheit, wenn wir jene Glut, die Gott entfacht, entweder durch unsere Kälte zum Erlöschen bringen oder durch unsere Lauheit ersticken. Indessen sollen wir wissen, daß unsere Gebete nicht vergeblich sind, die wir unter Gottes Leitung und nach seiner Weisung sprechen. Sofern wir nur nicht nachlässig oder müde werden im Gebet, wird er der treue Hüter dieses Reiches sein, so daß er es mit seiner nie besiegten Kraft schirmt und schützt. Zwar wird seine Hoheit auch fest bestehen bleiben, wenn wir abfallen, aber daß sein Reich oft nicht so großartig in Blüte steht, ja sogar verfällt, so wie wir heute seine schreckliche Spaltung und Verheerung sehen, kommt sicher durch unsere Sünden. Daß aber seine Wiedererrichtung nur geringe, ja fast keine Fortschritte macht, jedenfalls nur langsam von der Stelle kommt, das müssen wir unserer Lauheit zuschreiben. Täglich bitten wir Gott: „Dein Reich komme“, aber von hundert kaum einer ernstlich. Mit Recht also nimmt uns Gott seinen Segen, um den zu bitten uns lästig ist. Dies Wort lehrt uns auch, daß es Gott allein ist, der die Kirche bewahrt und schützt; denn er nimmt nur das für sich in Anspruch, was sein Eigentum ist. Wenn wir also nach seiner Unterweisung bitten, er möge Christi Reich bewahren, bekennen wir, Gott selbst sei der einzige Geber des Heils, so daß durch ihn allein dies Reich bestehen bleibe. Er bedient sich zwar der Hilfe der Menschen, aber solcher, die seine Hand dazu geschickt gemacht hat. Sodann verwendet er die Menschen so zur Förderung oder Bewahrung des Reiches Christi, daß er selbst alles allein mit der Kraft seines Geistes durch sie anfängt und vollendet.

„Der da kommt in dem Namen des Herrn ...“ Zuerst muß man festhalten, was diese Redewendung bedeuten soll: im Namen Gottes kommt der, der sich nicht selbst unbesonnen vordrängt und sich nicht zu Unrecht Ehre anmaßt, sondern nach ordnungsgemäßer Berufung Gott zum Leiter und Urheber seiner Taten hat. Diese Ehre kommt allen wahren Dienern Gottes zu. In Gottes Namen kommt der Prophet, der, geleitet vom Heiligen Geist, rein und unverfälscht die Lehre, die er vom Himmel empfing, dem Menschen weitergibt. In demselben Namen kommt der König, durch dessen Hand Gott sein Volk regiert. Aber da auf Christus der Geist des Herrn ruhte und er aller Haupt ist und alle, die je zur Leitung der Gemeinde bestimmt waren, seiner Macht unterstellt sind, heißt es von ihm ganz eigentlich, er sei gekommen in dem Namen des Herrn. Aber nicht nur durch den Grad seiner Macht zeichnet er sich vor den anderen aus, sondern weil sich Gott uns in ihm ganz offenbart. Denn wie Paulus (Kol. 2,9) sagt: in ihm wohnte die Fülle der Gottheit leibhaftig, er ist das lebendige Abbild Gottes, schließlich: er ist der wahre Immanuel. Daher heißt es mit wahrlich einzigartiger Berechtigung, er sei in dem Namen des Herrn gekommen, weil sich Gott durch ihn nicht nur teilweise, wie vorher durch die Propheten, sondern vollkommen offenbart hat. Bei ihm also müssen wir beginnen als bei dem Haupte, wenn wir Gottes Diener preisen wollen. Da jetzt falsche Propheten sich mit Gottes Namen brüsten und unter diesem trügerischen Vorgeben sich anpreisen, obwohl sie doch vom Teufel getrieben werden, muß man den Gegensatz mithören, nämlich daß Gott sie zerstreuen und zunichte machen wird.

V. 14. „Jesus aber fand ein Eselsfüllen ...“ Diesen Teil der Geschichte berichten die anderen Evangelisten etwas genauer, nämlich Christus habe zwei seiner Jünger ausgesandt, die ihm einen Esel bringen sollten. Da Johannes als letzter aller Evangelisten schrieb, genügte es ihm, von den Ereignissen, welche die anderen schon berichtet hatten, nur das Wichtigste kurz aufzuzeichnen; so kommt es, daß er viele Nebenumstände beiseite läßt. Der scheinbare Widerspruch aber, der die meisten verwirrt, läßt sich leicht beseitigen. Daß Matthäus sagt, Christus habe auf einer Eselin gesessen und auf ihrem Füllen, muß man als zusammenfassenden Begriff nehmen. Einige stellten es sich so vor, er habe zuerst auf der Eselin gesessen und dann auf ihrem Füllen, und sie entnehmen aus dieser Vorstellung eine sinnbildliche Handlung: zuerst habe er auf dem jüdischen Volk gesessen, das durch die Last des Gesetzes schon längst an das Joch gewöhnt war, später habe er seine Last auch den Heiden auferlegt wie einem noch nicht gezähmten jungen Esel. Aber in Wahrheit ist es ganz einfach so: Christus ritt auf einem Esel, der ihm zusammen mit dem Muttertier gebracht worden war. Damit stimmen die Worte des Propheten zusammen, bei denen es sich um eine den Juden ganz geläufige Wiederholung handelte, die mit verschiedenen Worten zweimal dasselbe ausdrückt. Er hat gesagt: auf einem Esel und auf dem Füllen des Lasttieres. In seinem Streben nach Kürze läßt unser Evangelist einfach das erste Glied aus und führt nur das zweite an. Ferner sehen sich auch die Juden selbst genötigt, die Weissagung des Sacharja (9,9), die sich damals erfüllt hat, auf den Messias zu deuten; indessen verlachen sie uns doch, weil wir, vom Schattenbild eines Esels genarrt, dem Sohne der Maria die Ehre erweisen, der Messias gewesen zu sein. Doch unser Glaube stützt sich auf weit andere Zeugnisse. Wenn wir sagen, Jesus sei der Messias, steht für uns nicht am Anfang, daß er auf einem Esel sitzend in Jerusalem einzog. In ihm nämlich wurde die Herrlichkeit Gottes sichtbar, wie sie dem Sohne Gottes zukam, so wie wir es im ersten Kapitel gelesen haben. Vor allem aber leuchtete sein göttliches Wesen bei der Auferstehung auf. Aber auch diese Bestätigung ist nicht zu verachten, die Gott in seiner wunderbaren Vorsehung bei jenem Einzug wie auf einer Schaubühne als erfüllte Weissagung des Sacharja vor uns hingestellt hat.

„Fürchte dich nicht ...“ Bei diesem Wort des Propheten, wie es der Evangelist wiedergibt, ist zuerst zu beachten, daß es für uns keine andere Ruhe gibt, daß uns Furcht und Zittern nicht anders verlassen können, als wenn wir wissen, Christus herrscht unter uns. Die Worte des Propheten lauten allerdings anders, nämlich sie mahnen uns, die Gläubigen, sich zu freuen und zu jubeln. Aber unser Evangelist bringt zum Ausdruck, wie es uns möglich ist, in begründeter Freude zu jauchzen: Es muß zuvor die Furcht beseitigt werden, die uns alle quälen muß, bevor wir, versöhnt mit Gott, jenen Frieden haben, der nur aus dem Glauben erwächst (Rom. 5, 1). Zu diesem Glück gelangen wir durch Christus, weil er uns von Satans Herrschaft befreit, das Joch der Sünde zerbricht, von der Schuld erlöst und den Tod besiegt. Dann können wir uns in Sicherheit rühmen, im Vertrauen auf den Schutz unseres Königs, denn die unter seinem Schutze stehen, haben nichts zu fürchten. Wir sind nun zwar nicht frei von Furcht, solange wir auf Erden leben; aber das Vertrauen, das auf Christus gründet, ist aller Furcht überlegen. Obwohl Christus bisher noch fern war, forderte der Prophet dennoch schon die Frommen seiner Zeit auf, heiter und fröhlich zu sein, weil er einmal kommen sollte. Siehe, sagte er, dein König wird kommen, also fürchte dich nicht.

Jetzt, seit er da ist, so daß wir seine Gegenwart genießen, müssen wir um so tapferer mit der Furcht ringen, daß wir, sicher vor unseren Feinden, freudig und unbeschwert unseren König verehren. Zu seiner Zeit sprach der Prophet zu Zion, weil dort Wohnung und Sitz der Gemeinde war. Jetzt hat sich Gott freilich aus der ganzen Welt eine Gemeinde gesammelt; doch ist diese Verheißung ganz besonders an die Gläubigen gerichtet, die sich Christus unterstellen, so daß er in ihnen herrschen kann. Daß der Messias, nach dem Evangelisten, auf einem Esel reitet, bedeutet: sein Reich soll allem Prunk und Glanz der Welt fern sein, all ihrem Reichtum und ihrer Macht. Das mußte an seiner äußeren Erscheinung deutlich werden, damit alle klar erkennen könnten, daß sein Reich geistlicher Art ist.

V. 16. „Solches aber verstanden seine Jünger zuerst nicht ...“ Wie ein Samenkorn nicht sofort keimt, wenn es in die Erde gelegt ist, so zeigt sich auch nicht auf der Stelle die Frucht der Werke Gottes. Die Helfer Gottes bei der Erfüllung der Weissagungen sind die Apostel, aber sie erkennen, was sie da tun, noch nicht. Sie hören zwar die Rufe der Menge, kein wirres Durcheinander, sondern sie begrüßten klar und deutlich Christus als König. Dennoch begreifen sie nicht, wohin das zielt und was es für sie bedeutet. Es ist also für sie ein leeres Schauspiel, bis der Herr ihnen die Augen öffnet. Wenn es heißt, sie hätten sich schließlich daran erinnert, daß dies von ihm geschrieben stand, so wird damit die Ursache ihrer großen Unkenntnis genannt, die ihrer Erkenntnis voranging: sie hatten eben damals noch nicht die Schrift zum Führer und Lehrmeister, der ihren Sinn auf die rechte und reine Betrachtung der Ereignisse hätte lenken können. Auch wir sind ja blind, wenn Gottes Wort uns nicht voranleuchtet. Indessen genügt auch das freilich nicht, daß Gottes Wort uns leuchte, wenn uns nicht zugleich der Geist die Augen öffnet, die sonst auch bei vollem Licht blind blieben. Dieser Gnade hat Christus seine Jünger erst nach seiner Auferstehung gewürdigt, weil jetzt noch nicht der rechte Augenblick gekommen war, die Schätze seines Geistes gleichsam mit freigebiger Hand auszustreuen, wie er es dann nach seiner Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit tat (Joh. 7, 39). Uns aber soll dieses Beispiel darüber belehren, unser Urteil über alles, was sich an Schriftstellen auf Christus bezieht, nicht nach dem Eigensinn unseres Fleisches zu fällen. Sodann wollen wir festhalten, es ist eine besondere Gnade des Geistes, daß er uns im Laufe der Zeit dazu erzieht, nicht stumpf zu sein, wenn wir die Taten Gottes bedenken. Den Teil des Verses: „daß solches von ihm geschrieben war und man solches ihm getan hatte“, erkläre ich so: damals ist den Jüngern zuerst aufgegangen, das sei Christus nicht von ungefähr geschehen und diese Menschen Hätten damals nicht ein sinnloses Spiel getrieben. Sie erkannten vielmehr, dieser ganze Vorgang war durch Gottes Führung so geschehen, weil sich erfüllen mußte, was geschrieben stand.

V. 17. „Das Volk aber ... rühmte die Tat.“ Er wiederholt noch einmal, was er schon gesagt hatte: viele gingen, erregt durch den Bericht von einem so großen Wunder, Christus entgegen. Deshalb nämlich gehen sie scharenweise hinaus, weil sich das Gerücht von Lazarus Auferweckung allenthalben verbreitet hatte. Sie hatten also einen guten Grund, dem Sohn der Maria messianische Ehren zu zollen, da seine gewaltige Kraft ihnen bekannt war.

V. 19. „Ihr sehet, daß ihr nichts ausrichtet...“ Mit diesen Worten stacheln sich die Pharisäer zu noch größerer Wut auf. Sie werfen sich damit nämlich gewissermaßen Untätigkeit vor, als wenn sie sagten, das Volk fiele deshalb Christus zu, weil sie selber zu langsam und unentschlossen seien. So reden verzweifelte Menschen, wenn sie sich zum Äußersten bereit machen. Wenn aber die Feinde Gottes ihr böses Ziel so hartnäckig verfolgen, müssen wir noch viel standhafter auf dem rechten Wege bleiben.

Foto: renelutz, „Palme“, CC-Lizenz (BY 2.0), www.piqs.de

Aus: Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift, Das Johannesevangelium, Neukirchener Verlag 1964