Provokation
Herausforderung
»Wie sollte es Gott nur mit einem – mit diesem oder jenem nationalen – Staat halten und nicht vielmehr allein mit seinem, dem rechten Staat in allen nationalen Staaten? (...) Ein nur nationaler, nur nationalen Interessen dienender Staat – wir sehen heute, dass wenigstens Annäherungen an diese Karikatur möglich sind – würde freilich eben damit aufgehört haben, rechter Staat zu sein. In einem solchen nur noch unrechten Staat würde der Christ seine bürgerliche Loyalität nur noch kämpfend und leidend beweisen können. Seien wir, Sie als Amerikaner und ich als Schweizer, dankbar, dass uns dieser Konflikt, in welchem heute z. B. unsere Brüder in Deutschland stehen, insofern erspart ist, als unsere nationalen Staaten in aller ihrer Unvollkommenheit wenigstens ein gutes Stück weit auch als rechte Staaten anzusprechen sind. Machen wir das Beste daraus! Wir werden damit alle Hände voll zu tun haben.« (Karl Barth, Brief an einen amerikanischen Kirchenmann, 1942, in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 275, 277)
»How could God prefer just one – this or that – national state, rather than first and foremost his own, the true State, within all national states? (…) A totally national state which serves only national interests – and we can see today that such a caricature is possible – would no longer be a righteous state. In such an injust state the Christian can show his civic loyalty only by resistance and suffering. Let us be thankful, you as an American, I as a Swiss, that we do not have this conflict, insofar as our national states, in all their imperfections, are at least to some extent also ›righteous‹ states. Let's make the best of it! We'll have enough to do with that.« (Karl Barth, The Role of the Church in Wartime (A Letter to American Christians), in: The Church and the War, 1944, 21,24)
»An ›unausrottbaren‹ Dispositionen – nun nicht gerade zum Verbrechen, aber zu Verhaltens- und Handlungsweisen anderer, auf den ersten Blick vielleicht harmloserer, im Grunde vielleicht noch viel gefährlicherer Art leiden wir alle. Bei dem einen mag es ein unausrottbarer Machttrieb sein, bei dem anderen eine unausrottbare Ichbezogenheit und beim dritten eine unausrottbare Theatralik und beim vierten eine unausrottbare Gschaftelhuberei [=Aktivismus] und beim fünften eine unausrottbare Geistesträgheit … Ich will nicht fortfahren. Aber wer von uns trägt nicht irgendeine solche unausrottbare Disposition in sich?« (Karl Barth, Gespräch mit Strafanstaltsseelsorgern (11.5.1960), in: Gespräche 1959-1962 (GA IV.25), 61f)
Janine Bürger
»Und was aus dem Völkerbund jener Jahre geworden ist, das war schließlich ein Bündel von Vorbehalten, die im Einzelnen alle so wohl begründet waren, daß das Ganze an ihrer Summe notwendig sterben mußte. In diese Welt böser Unsolidarität fuhr dann wie ein zündender Blitz die mächtige Absicht der Usurpatoren, sich das ganze private und isolierte Wesen, in dem wir existierten, zunutze zu machen, um uns zur Solidarität mit ihnen anzuhalten d. h. um ihren Willen zu unser aller Gesetz zu erheben. Wie haben sie es verstanden, einen Bereich und dann auch ein Volk nach dem anderen an die Reihe zu nehmen! Sie spekulierten offenbar auf unsere Uneinigkeit und sie haben lange genug von ihr profitieren können.« (Karl Barth, Die geistigen Voraussetzungen für den Neuaufbau in der Nachkriegszeit (1945), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 424f)
»Die Lüge und Brutalität, aber auch die Dummheit und die Angst wachsen und sind längst über die Grenzen Deutschlands hinausgewachsen. Und Europa versteht die Gefahr nicht, in der es steht. Warum nicht? Weil es das erste Gebot nicht versteht, weil es nicht sieht, daß der Nationalsozialismus die bewußte, prinzipielle und systematische Übertretung eben des ersten Gebotes bedeutet. Und weil es nicht sieht, daß diese Übertretung als Sünde gegen Gott das Verderben der Völker nach sich zieht.« (Karl Barth, How my mind has changed, 1928-1958, in: Der Götze wackelt, 1961, 188f)
"[Rom:] die ganze damalige Welt hatte hier ihre Seele, hier liefen die eisernen Drähte zusammen, an denen sie gelenkt wurde bis in ihre fernsten Teile, hier sammelte sich das Schönste und Wertvollste, was die vier Himmelsgegenden hervorzubringen hatten, hier fand sich die Weisheit und Lebenserfahrung aller Völker, hier freilich auch der Schmutz und Abschaum aus aller Herren Länder. (...) Rom kennen hieß die ganze Menschheit kennen. Rom bekämpfen hieß ein Feind des ganzen Menschengeschlechtes sein. Rom erobern hieß Herr der Welt werden. Wer durfte an so etwas denken? Rom war unüberwindbar. Rom war ewig. Rom war göttlich. Man darf sich nicht wundern, daß die römischen Kaiser sich Opfer und Anbetung darbringen ließen, als ob sie Götter wären. Kein Römer empfand das als Übermut, sie verehrten im Kaiser sich selbst als Gottheit, Roms Macht, Roms Weisheit, Roms Reichtum. Rom war die Welt, die Welt der Waffen, die Welt des Geldes, die Welt der Klugheit und der gescheiten Worte, die Welt, in der die Mehrheit und der Stärkere Recht hat. Warum sollte Rom nicht auch Gott sein, göttliche Ehre genießen in der Person seines Kaisers? Warum nicht?" (Karl Barth, Predigt zu Röm 1,16, in: Predigten 1914 (GA I.5), 12f)
»Der von den Kirchen heute wie morgen zu vertretende christliche Begriff des rechten Staates hat zweifellos eine bestimmte Grenze und eine bestimmte Richtung. Indem er auf Ordnung zielt, widerspricht und widersteht er aller politischen, sozialen und wirtschaftlichen Tyrannei und Anarchie. Und indem er das gemeinsame Recht und die persönliche Verantwortlichkeit zum Maßstab der Ordnung macht, liegt die Demokratie mehr in seiner Linie als eine aristokratische oder monarchische Diktatur, der Sozialismus mehr als die ungebundene Wirtschaft und das auf sie begründete Gesellschafts- und Erwerbssystem, eine Föderation freier (auch vom Nationalitätenprinzip möglichst freier!) Staaten mehr als das Nebeneinander unabhängiger und unkontrolliert konkurrierender Nationalstaaten.« (Karl Barth, Brief an einen amerikanischen Kirchenmann (1942), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 292)
»Wie Mancher, der einst nicht genug seiner Freiheit und Weitherzigkeit sich rühmen konnte, solange er selber noch suchte und tastete und probierte, ist später zu einem alten Fanatiker geworden, zu einem Pfaffen irgend einer kleinen Erkenntnis, die er gemacht und schleunigst für alleinseligmachend erklärt hat. Auf religiösem Gebiet ist es unendlich oft so gegangen. Wie es in der Politik geht, können wir alle Tage sehen: wie da die kurzsichtigsten Gesellen gegeneinander losziehen und die Welt mit Unfrieden erfüllen, nur weil sie über dem kleinen Bröcklein Recht, das sie haben mögen, alles Andre vergessen, vor Allem das Bröcklein Recht, das auch ihr Gegner hat!« (Karl Barth, Predigt zu Mt 16,13-17, in: Predigten 1913 (GA I.8), 384)
»Wieder haben wir (…) unter Sachlichkeit allzu oft etwas Anderes (...) verstanden: die Hingabe an irgend einen Zweck, der uns aus irgend einem Grund groß und erstrebenswert erschien, der aber gerade mit Menschlichkeit, Menschenrecht, Menschenfreiheit und Menschenwürde, nichts zu tun hatte (...). Wir haben (...) fortgefahren, ein System aufrecht zu erhalten und zu verteidigen, unter dessen Herrschaft die (…) Menschen immer dadurch bedroht sein werden, dass es dabei im Grunde nicht um sie als Menschen, sondern seelenlos und leiblos zugleich und also unmenschlich nur um eine Sache, nämlich um die Vermehrung oder viel mehr Verschiebung der fiktiven Größe ›Kapital‹ gehen kann, als deren Sklaven sie alle – die Arbeitgeber nicht weniger als die Arbeitnehmer – zu funktionieren haben. (...) Bis es offenbar wurde, daß die hochentwickelte moderne Wirtschaft – als wäre sie von Idioten oder Wahnsinnigen dirigiert – (...) einer sinnvollen Verteilung von Arbeit und Arbeitsertrag gänzlich unfähig war.« (Karl Barth, Die geistigen Voraussetzungen für den Neuaufbau in der Nachkriegszeit (1945), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 422f).
»Bilder von alten Pastoren mögen in der Kirche allenfalls erträglich sein, Bilder von Gott oder Christus sind im Museum oder als Zimmerschmuck möglich, in der Kirche dagegen (!) genau genommen durchaus unmöglich und unerträglich. Der Kruzifixus, den man sehen und abbilden und dann im Abbild wieder sehen kann, ist eben gerade nicht der offenbare Gott, sondern nur die menschliche Natur Christi, deren isolierte Betrachtung an der Stätte, da der offenbare Gott verkündigt und angebetet werden soll, fast notwendig verwirrend und verführerisch wirken muss. Den offenbaren Gott in der menschlichen Natur Christi kann jede Darstellung nur verdunkeln. Kein Wunder, dass die Geschichte des Christusbildes ein so grundfragwürdiges Kapitel in der Kunstgeschichte ist. Es wäre vielleicht wirklich besser gewesen, die Künstler hätten überhaupt die Finger davon gelassen.« (Karl Barth, in: Unterricht in der christlichen Religion 2 1924/25 (GA II.20), 152f)
»Kriege und Revolutionen, Wahlen und Abstimmungen, Strafen und Machtbeweise jeder Art der einen Menschen über die anderen sind unvermeidlich, aber nur als göttliche Gerichte. Quellen der Erlösung sind solche Ereignisse nicht. Sie vermehren das Leiden der Menschheit, sie führen tiefer und tiefer in den Urwald der Not hinein« (Karl Barth, Predigt zu Mt 26,47-56, in: Predigten 1919 (GA I.39), 111f)