Vielfalt und Einheit des Protestantismus

Karl Barths Stellung zur Kon­fes­sio­nalität. Von Matthias Freudenberg

Barth hat in seiner Göttinger Zeit die reformierte Theologie und besonders die Calvins für seinen theologischen Neuansatz entdeckt. Den ökumenischen Charakter seiner Dogmatik gab er jedoch nicht preis. Als „Calvinist“ wollte er sich selbst nicht festlegen. Ein Zugewinn der reformierten Reformation gegenüber dem Luthertum war aus Barths Sicht die Entdeckung des ''Problems der Ethik''.

Matthias Freudenberg, Vielfalt und Einheit des Protestantismus.
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Einer Anekdote zufolge soll einmal ein lutherischer Theologiestudent aus Bayern auf seine Auskunft hin, dass Barth – wie doch schließlich jeder ordentliche Theologe – ein Lutheraner gewesen sei, mit großem Erstaunen die Korrektur seines Professors vernommen haben. Ohne Schwierigkeiten lässt sich natürlich belegen, dass Barth einem reformierten Elternhaus – sein Vater war Professor für Kirchengeschichte – entstammt und in dieser konfessionellen Tradition aufgewachsen ist. Inwieweit sich Barth tatsächlich als ausgesprochen reformierter Theologe verstanden hat, bedarf indes einer genaueren Betrachtung.

1. Frühe Einblicke und Einsichten
Wirft man einen Blick auf Barths Beschäftigung mit der eigenen Konfession bzw. sein reformiertes Selbstverständnis vor Antritt seiner Göttinger Professur 1921, so lässt sich summarisch festhalten:

1) Quellenstudium: Im Verlauf seines Stu­diums, Vi­ka­ri­ats und Pfarr­amts arbeitet sich Barth – unterbrochen und begleitet von anderen Studien – in we­sent­li­che Dokumente der re­for­mier­ten Theo­logie der Reformationszeit ein. Frei­lich vollzieht sich dieses Studium in unre­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den, selek­tiv, in un­ter­schied­li­cher In­ten­si­tät und unter Einbezie­hung luthe­rischer Quellen. Wäh­rend er Zwin­gli eher am Ran­de wahr­nimmt und im Licht des Libe­ra­lis­mus bzw. reli­giö­sen Sozialis­mus deutet, findet eine inten­sivere ­und kon­tinu­ier­liche­re Be­schäf­ti­gung mit Cal­vin statt. Diese lässt sich u.a. auch in den beiden Fassungen des Rö­mer­brief­kom­men­tars able­sen.

2) Kir­chen- und Theologiege­schichte: Nicht zuletzt bedingt durch seine Tä­tigkeit in der Schweiz vertieft sich Barth in die territoriale Refor­mationsgeschich­te. Die alt­prote­stantische Or­tho­doxie reformierter und lutherischer Pro­ve­nienz hinge­gen scheint er zu jener Zeit kaum zur Kennt­nis zu nehmen.

3) Reformiertes Erbe: ­Barths Beschäftigung mit den spezi­fisch re­for­mier­ten Quellen steht in unlösbarem Zusammenhang mit den äuße­ren Um­stän­den sei­nes Stu­di­ums in Bern bei seinem Vater (1904–1906), seines Vikariats in Genf (1909–1911) und seines Pfarr­amts in der refor­mierten Ge­mein­de Safenwil (1911–1921). Insofern liegt es nahe, dass sich der Schwei­zer Theo­lo­ge Barth zunächst mit seiner eige­nen konfessionellen Tra­di­tion be­schäf­tigt. Ferner lässt sich zumindest bis 1916 feststellen, dass Kom­bina­tions­ver­suche wie etwa zwi­schen Calvin und Wilhelm Herr­manns ‚mo­der­ner Theo­lo­gie’ bzw. zwischen Zwin­gli und dem reli­giö­sen Sozialis­mus stattfinden.

2. Professor für reformierte Theologie
Die Göttinger Professur der Jahre 1921–1925 bedeutet für den vom Safenwiler Pfarr­amt ins akademische Lehramt überwechselnden Barth eine entscheidende Wei­chen­stellung auf sei­nem Weg zur dog­matischen Theologie. Seine erste Professur stellt den akademi­schen Neu­ling Barth vor die Auf­gabe, refor­mierte, aber auch lutheri­sche Stu­den­ten „in das refor­mier­te Be­kenntnis, die re­for­mier­te Glau­bens­lehre und das refor­mierte Ge­mein­dele­ben“[1] einzuführen. In seinen Vorlesungen über Calvin (1922), Zwingli (1922/23) und die reformier­ten Be­kennt­nis­schrif­ten (1923) zeigt sich sodann seine schon früh ausgeprägte Fähigkeit, ei­nen genauen Blick ­so­wohl für ge­schicht­liche Entwicklungen als auch für theologische Argumente zu ent­wic­keln.

Die herme­neutische Voraussetzung, die Barths Vorlesungen und Vorträge zur reformierten Theologie aus jenen Jahren prägt, lässt sich so beschreiben: Auf dem Hinter­grund der absolu­ten Gottesgeschichte hat die Theologie zu allen Zeiten die rela­ti­ve Geltung eines menschlichen Zeugnisses, das um der Wahrheit willen immer wieder neu der Kri­tik unterzogen werden muss. Wie sich anhand der Texte zeigen lässt, zieht sich kontinuierlich durch jene Vor­le­sun­gen folgende Beob­ach­tung Barths: Das Spezifische der refor­mier­ten Leh­re des 16. Jahr­hun­derts ist einer­seits in der präzi­sen Unter­schei­dung von Gott und Mensch zu suchen. Und ande­rer­seits besteht es in der von Gott voll­zoge­nen dialek­tischen Vermitt­lung der unsicht­baren gött­lichen Le­bens­wahr­heit und der sicht­ba­ren mensch­lichen Lebens­gestal­tung.

In einer geome­tri­schen Meta­pher spricht Barth dar­um in den Vorlesungen vom spezi­fisch re­formier­ten Dop­pe­laspekt zweier kon­zen­tri­scher Kreise: Der engere Kreis als Me­tapher für das lu­the­ri­sche Inter­esse an der Recht­ferti­gung des Sün­ders durch den Glau­ben, und der weitere Kreis als Metapher für das hin­zutre­tende re­formier­te Inter­esse an der Lebens­wirklichkeit des Men­schen und der Ethik. Mit dieser verwandt ist eine an­de­re geo­me­tri­sche Metapher: Die Horizontale des menschlichen Lebens wird von der Vertikalen der Gottesgeschichte geschnitten. Bei­den Meta­phern ist die Grund­über­zeu­gung ge­mein­sam, dass die in Gott selbst grün­dende Beziehung zwischen ihm und dem Menschen (Dog­matik) dem kon­kreten Lebens­vollzug des Men­schen (Ethik) ihr Maß und Ziel gibt. Das, was Barth mit dem Terminus „Pro­blem der Ethik“[2] um­schreibt, sieht er als die Besonderheit der refor­mierten Wen­dung der Re­for­ma­tion und als deren Zuge­winn ge­gen­über dem Luthertum an.

In welcher Hin­sicht versteht sich Barth selbst seit sei­ner Göt­tin­ger Zeit als ausgesprochen reformierter Theologe? Und welche Kon­sequenzen zieht er daraus für das Ver­hältnis zwi­schen reformiertem und luthe­rischem Protestantismus? Wenn auch seine Hin­wen­dung zur re­for­mier­ten Theo­lo­gie nicht als ein unvermitteltes Ereignis zu ver­stehen ist, so vollzieht sich doch in Göttingen ein ein­schnei­den­de­r Er­kennt­nisprozess. Er befindet sich auf dem Weg von einer weit­gehend un­be­wussten hin zu einer bewusst er­arbei­te­ten und an­ge­eig­neten re­for­mier­ten Konfessio­nali­tät. In der Tat besitzt er zu Beginn sei­ner Göt­tinger Zeit noch nicht einmal eine refor­mierte Bekenntnis­schrift.[3] Doch schon in § 1 der Zwingli-Vor­lesung (1922/23) versteht er sich zumin­dest indirekt schon als konfes­sionsbewusster Re­for­mier­ter. Und 1933 bekundet er ausdrück­lich sein refor­miertes Bekenntnis, wenn er schreibt: „?Es werden etliche Lust ha­ben, mei­nen Rücktritt von ZZ (sc. Zeitschrift ‚Zwischen den Zeiten’) ... auf den Gegensatz meines reformierten zum lutheri­schen Bekenntnis zu­rück­zufüh­ren. Ich warne. Selbstver­ständlich bin ich reformiert. Aber der in der ‚Glaubensbewegung Deut­sche Chri­sten’ kulmi­nierende Neu­protestantismus zerstört das lutheri­sche ebensowohl wie das refor­mierte Bekennt­nis.“[4]

Doch un­geachtet dieser Selbstaussagen und der Entschei­dung, zur Grundle­gung seiner Theo­logie gerade auf die reformierte Tradition zu­rückzu­grei­fen, wehrt er sich ent­schie­den gegen die Fest­le­gung sei­ner Dog­ma­tik-Vorlesung auf das refor­mier­te Be­kennt­nis. Keinesfalls will er den kon­fes­sions­über­greifen­den „?ökumenischen Charak­ter“[5] sei­ner Dog­matik preisge­ben. Nach wochen­langen Streitig­keiten kann er in der Vor­le­sungs­an­kün­di­gung die Kon­fessions­bin­dung der Dogmatik und das Eti­kett ‚re­for­miert’ zugunsten des Kompro­miss­titels „Un­ter­richt in der christ­li­chen Reli­gion“ ver­hin­dern. Entsprechend formuliert er im Leit­satz zu § 1 der Göt­tin­ger Dog­ma­tik, dass Dogmatik die „wissenschaftliche Besinnung auf das Wort Gottes“ ist.[6] Und erst da­von abge­leitet ist Dogmatik die Besin­nung auf die kon­fessionelle Tradi­tion, von de­r aus die Refle­xion auf das Wort Gottes vor­genommen wird. In diesem Sinn stellt er später in der Kirchlichen Dogmatik (KD) zur Kon­fes­sio­nalität der Dog­matik fest, dass die Dogma­tik we­der als lutheri­sche noch als refor­mierte, sondern als evangelisch-konfes­sio­nel­le Dog­ma­tik zu entfal­ten ist (KD I/2, 922).

Vom Zeitpunkt sei­ner Göt­tin­ger Professur an hat Barth die re­for­mierte Theologie und in ihr besonders Cal­vin, die Bekennt­nisse des 16. Jahr­hun­derts und Teile der Orthodoxie für sei­nen eigenen theologischen Neuansatz ent­deckt. Doch das schließt ein, dass er, wie zahlreiche Exkur­se in der KD belegen, die eige­ne reformier­te Tra­dition kei­nes­falls von der Kritik ausnimmt. Die Aufnahme des alten konfessionellen Strei­ts ­und die eigene Rekru­tierung für die unter den deutschen Reformierten auf­le­ben­de kon­fes­sio­nel­le Selbst­be­hauptung er­scheinen ihm alles andere als erstre­bens­wert. Viel­mehr be­müht er sich zumindest in Ansätzen darum, einerseits auf eine nivellie­rende Vermitt­lung lutheri­scher und refor­mier­ter Posi­tio­nen zu ver­zich­ten. Und ­andererseits lässt er we­sent­li­che theo­lo­gi­sche Er­kennt­nisse aus beiden konfessionellen Traditionen gleichermaßen als sach­ge­mä­ße gegen­seiti­ge Pro­blem­an­zei­gen gel­ten.[7]

In diesem Sinn äu­ßert er sich auch 1947 in einer Diskus­sion und ver­wahrt sich gegen die eigene Festlegung auf den Cal­vinis­mus: „?Ich bin auch nicht Cal­vi­nist. Das ist nicht gut, sich so festzule­gen.“[8] Stattdessen fordert er dazu auf, der Maxi­me von 1. Thess 5,21 zu fol­gen: Die den Lu­thera­nern und den Refor­mierten ge­meinsa­me re­for­ma­to­ri­sche Tra­di­tion muss am Maß­stab der Schrift geprüft und das Beste aus bei­den Tra­ditio­nen behalten werden. Ferner soll man sich als Schü­ler der refor­matorischen Bekenntnisse von diesen zum rech­ten ­Schrift­ver­ständ­nis anleiten lassen und in je­dem Fall auf den unver­söhnli­chen konfessio­nel­len Streit als Selbstzweck ver­zichten.

Doch fragen wir nun weiter, worin negativ Barths Reserve gegenüber der von außen an ihn her­ange­tragenen konfessionellen Festlegung seiner Theologie sowie positiv sein Insi­stieren auf der ge­meinreforma­torischen Ausrichtung seiner Dogmatik be­grün­det ist. Wie sich seinen Göttin­ger Arbeiten ent­neh­men lässt, lehnt er die einseitige Festlegung seiner Theologie auf die re­for­mier­te Kon­fessio­nalität aus folgendem geschichtstheologischen Grund ab: Von der Got­tesge­schichte (Ewigkeit) ist die Welt- und Theolo­giegeschichte (Zeit) streng zu unterscheiden. Und letztgenannte differenziert sich nun mit ihren Ver­su­chen, in­nerhalb der Grenzen der menschlichen Spra­che von Gott zu reden, in eine Mehrzahl von z.T. gegenläufigen Bewegungen aus.

Was für die ge­sam­te Kirchen- und Theologiegeschichte zutrifft, gilt in beson­derem Maße für das Zeital­ter der­ Re­for­ma­tion. In ihr sind im We­sent­li­chen eine erste luthe­ri­sche und eine zwei­te re­for­mier­te Wen­dung zu unter­schei­den. Je auf ihre Weise sind sie berech­tigte Mög­lich­kei­ten von Theologie, Kirchen- und Konfessionsbildung, sofern beide sich in ihrem Dasein und Agie­ren ge­mein­sam auf Gottes Zu­wen­dung zum Men­schen besinnen. Barths The­se von der grund­le­genden Einheit der differen­zierten Refor­mation und damit sein inklusives Verständ­nis der Refor­mation ­be­ruht auf der theo­logi­schen Einsicht, dass Gottes Wirklich­keit nicht in ei­nem ein­zigen Wort zur Spra­che zu brin­gen ist. Vielmehr ist sie nur dialektisch darstellbar in der Synthese des vornehm­lich reli­giösen Inter­esses der luthe­rischen und des vornehmlich ethischen Inter­esses der refor­mier­ten Wen­dung der Reforma­tion. Um zur Würdigung die­ser zweiten refor­mier­ten Wen­dung der Refor­ma­tion und ihrer The­matisie­rung der Ethik ­vor­drin­gen zu kön­nen, gibt Barth in einem Vortrag von 1923 sogar den Rat, wie Zwin­gli und Calvin „zu­nächst ein­mal recht gründlich luthe­risch zu wer­den“[9]. Nebenbei sei angemerkt, dass Barth diesen Rat in seinen Vorlesun­gen und Vor­trä­gen der Göttin­ger und besonders der Mün­s­teraner Zeit durchaus selbst befolgt.

Welche Position soll Barths Sicht zufolge nun gegenüber den faktisch vorhan­de­nen Dif­fe­ren­zen zwi­schen der reformierten und der lutheri­schen Lehre eingenommen werden? In einer auf den ersten Blick un­scheinbaren ­Pas­sa­ge der Be­kennt­nis­schrif­ten-Vorlesung – es handelt sich um die Dar­stellung der ­Ak­ten des reformiert-lutherischen Leip­zi­ger Ge­sprächs von 1631 – gibt Barth dazu einige erhellende Hin­weise. Diese werfen ein Licht auf die von ihm favori­sierte Vermitt­lung­sme­tho­de gegenläufiger Lehr­meinungen. Er arbeitet in der Frage der Christologie fol­gen­de Dif­fe­renz her­aus: Die Lu­thera­ner unternehmen den „undialek­tische(n) Vor­stoß“, die mensch­liche Natur Jesu Christi mit Gottes­prädika­tionen zu bele­gen. Dagegen vollziehen die Refor­mierten mit dem „Extra calvi­nisti­cum“ ei­nen „?dialektische(n) Rück­zug“. Denn sie leugnen die um­fassende Teil­habe der mensch­lichen Natur Jesu Christi an den Gottesprä­dikatio­nen und wollen gleich­sam den Vorbehalt einer „Verhüllung in der Of­fen­barung“ und ihrer Kon­tingenz gewahrt wis­sen.[10]

Von Bedeutung ist nun die Haltung, die Barth gegen­über den kon­fes­sio­nellen Dif­feren­zen empfiehlt: Keinesfalls soll man im Stile des Konfes­sionalismus der einen oder der ande­ren Seite unge­prüft ab­solut recht ge­ben. Andererseits darf man auch nicht im Stile der preußischen Unions­theo­logie des 19. Jahr­hun­derts vor­schnell bei­den Sei­ten ­zu­stim­men und ­die kon­fes­sio­nel­le Dif­fe­ren­z in der Frage der kon­tingen­ten Offen­ba­rung nivellierend als über­wun­den er­klä­ren. Viel­mehr plä­diert Barth für die Not­wen­dig­keit, die auf beiden Seiten vorhande­nen Wahr­heits­mo­mente zu sichten und einer kriti­schen Beurteilung zu unterzie­hen: „Es han­delt sich wahr­haftig um schwe­re Pro­ble­me, die wir z.T. erst wieder sehen lernen müs­sen.“[11] Gegen­über einer vor­eilig erklärten U­nion, die dem Man­gel an Er­kenntnis der ­chri­stologi­schen Diffe­renzen ent­springt, hält er schon 1923 die Fort­set­zung des lu­the­risch-reformier­ten Ge­sprächs, wie es etwa in Leip­zig 1631 ge­führt wurde, für den ein­zigen Weg zu einer legi­ti­men Union in der Ge­gen­wart.

Als theologi­sche Sachlich­keit be­zeichnet Barth darum den Ver­such, die unge­lö­sten Fra­gen des 16. und 17. Jahr­hunderts erneut zur Spra­che zu bringen. Das Ringen um die Wahr­heit, die „ge­heim­nis­voll eini­gend und tren­nend zwi­schen den beiden gro­ßen Ty­pen prote­stanti­schen Christen­tums steht“[12], muss fort­gesetzt werden. So geht schon aus der oben genannten Vorlesungspas­sage her­vor, dass Barth dem Begriff der Union, der zu jener Zeit mit den viel­fa­chen kirchlichen Unions­be­stre­bungen im 19. Jahr­hun­dert identifi­ziert wurde, einen neu­en und tiefe­ren Sinn ver­leihen will. Eine Neu­aufla­ge einer sol­chen, die Kon­fes­sionen nivel­lie­ren­den Kirchen-Union hält er nicht für erstre­bens­wert. Vielmehr versteht er unter einer wirk­li­chen Union zwi­schen Reformier­ten und Luthe­ranern den Verzicht auf ein aus Man­gel an theo­lo­gi­scher Er­kennt­nis ge­borenes „?Kunstpro­dukt einer theo­lo­gisch-kirch­lichen Union“. In einer „Union der Sach­lich­keit“[13] ­soll darum das Ge­spräch des 16. und 17. Jahr­hun­derts wieder aufgenommen werden. Keines­falls die vor­eilige Auflö­sung der Kon­fes­sio­nen kann Barth zufol­ge das Ziel eines solchen Ge­sprächs sein, sondern die ge­gen­seiti­ge Prü­fung der theo­lo­gi­schen Argu­mente in den um­strittenen Fragen. In die­sem Sinn ist Barths Äußerung von 1935 zu verstehen, dass eine „Union zwi­schen Luthe­ra­nern und Re­formier­ten ... nicht grund­sätz­lich ausge­schlos­sen“[14] ist.

Mit der These von der grundsätzlichen Einheit der Reformation, der Forde­rung nach der erneuten Aufnahme reformiert-lutherischer Gesprä­che über die umstrittenen Lehrfragen und der Per­spektive einer „Union der Sachlichkeit“[15] bereitet Barth indirekt schon in sei­ner Göt­tin­ger Zeit einen weitreichenden Erkenntnisprozess innerhalb des Protestantismus vor. Es handelt sich dabei um die Bewegung, die unter seiner Mit­wir­kung in den drei­ßi­ger Jah­ren zur Suche nach einer Be­kennt­nisunion und seit den fünf­ziger Jah­ren zum Erstellen einer Kon­kordie reformierter und lutherischer Kir­chen führt. Bereits in Göt­tin­gen wendet er sich ge­gen jede Form eines starren re­formierten oder lutheri­schen ­Kon­fes­sio­na­lis­mus. Er steht so­wohl der Lu­ther­re­naissan­ce Karl Holls als auch der re­stau­rati­ven Cal­vin-Re­nais­sance unter Teilen der Re­for­mier­ten skep­tisch ge­gen­über. Denn der Kon­fessionalismus, so Barth in einer Predigt über 2. Mose 20,4–6 von 1935, gleicht ei­nem von Men­schen ge­schaf­fe­nen Got­tes­bild, das es ab­zu­leh­nen gel­te.[16]

So bring­t Barth 1921 ei­nerseits in das an der Göt­tin­ger Fa­kul­tät seit ihrem Beste­hen ge­pfleg­te Luthertum und ande­rerseits in den re­for­mier­ten Pro­te­stan­tis­mus von außen her einen fri­schen un­kon­fessio­na­listi­schen und unio­ni­sti­schen Impuls hinein. Und im Anschluss an seine Göttin­ger Zeit warnt er immer wieder da­vor, zwi­schen luthe­ri­schem und refor­mier­tem Prote­stan­tis­mus bzw. Lu­ther­tum und Calvi­nis­mus falsche Al­ter­nativen zu errich­ten oder künst­liche Gräben aufzu­rei­ßen. Dass sein eige­nes Interesse an einer konfessio­nellen Verstän­di­gung und öku­me­ni­schen Of­fen­heit gera­de ein ge­nuiner Zug des Calvi­nis­mus ist, in des­sen Tra­di­tion er sich dar­um bewusst stellt, geht aus der Aus­sprache über einen Vor­trag 1925 hervor: Luthe­ra­ner und Cal­vi­ni­sten seien ge­meinsam der ganzen christlichen Kirche – denn sie allein ist die eine, wah­re Kir­che – ver­pflich­tet und nicht primär einer partikula­ren Kon­fes­sion. Darum wolle er auch selbst „?kein bornierter Konfes­sio­na­list“ sein. Allerdings macht er auch darauf aufmerksam: „?Der Calvi­nis­mus hat von jeher einen größe­ren Zug ins Ökumeni­sche gehabt als das Luther­tum.“[17]

3. Eine wirkliche Union im Bekennen
Besonders eindrücklich zeigt sich zur Zeit des beginnenden Kirchenkampfes, dass Barth angesichts der auf­kom­menden natio­nalso­ziali­sti­schen Häre­sie in Theo­lo­gie und Kirche ein Den­ken in kon­fes­sio­nel­len Scha­blo­nen unter allen Umstän­den zu ver­mei­den sucht. Ange­sichts der Hin­wen­dung von Friedrich Go­gar­ten ­zur Glau­bens­bewe­gung Deut­sche Christen (DC) und im Vorfeld der Bar­mer Theo­lo­gischen Er­klärung erwägt Barth 1933 „?eine wirkliche Union zwischen Lu­ther­tum und Re­for­mier­ten“ ge­gen die „ge­mein­same(n) säkula­re(n) Geg­ner des Evan­geli­ums“[18]. Als Pu­bli­ka­tions­organ einer solchen Union schlägt Barth keine konfes­sio­nelle, sondern eine kon­fes­sions­über­grei­fen­de e­van­ge­lisch-kirch­liche Zeit­schrift vor.[19] Gerade über die brisante Pro­ble­matik der na­tür­li­chen Theo­lo­gie und ihrer politischen Implikationen scheint Barth eine ge­mein­sa­me Ge­sprächsebene zwi­schen Refor­mier­ten und Lu­the­ra­nern und da­mit eine wah­re Union mög­lich zu sein, die der fal­schen Union der DC entgegenzu­stellen sei.

Im Bei­trag „Ab­schied von ‚Zwischen den Zei­ten’“ erneuert Barth am 18.10.1933 sein Ar­gu­ment, dass so­wohl das lu­therische wie das re­for­mierte Be­kenntnis von der Theologie der DC tan­giert sei. Er trifft die Feststel­lung: „Gute Luthe­raner ste­hen heute nicht bei den Deut­schen Chri­sten, nicht bei den Ver­mittlern zwischen diesen und uns Ande­ren, son­dern ent­schlossen bei uns Ande­ren! Und schlechte Reformierte ge­nug stehen ganz oder halb bei den Deut­schen Chri­sten.“[20] Konse­quent ruft er zu einer „Union zwischen den gu­ten Lu­the­ra­nern und den guten Reformierten“ auf, die sich „?in einem neu­en Kampf­be­kennt­nis“ mit überkon­fes­sionel­lem Charakter Aus­druck ver­schaf­fen soll. Und er fügt hinzu: „Die ernsthaften Fronten laufen heute wirklich durch die Gren­zen der beiden über­kom­menen Be­kenntnisse quer hin­durch.“[21]

Be­reits im Vorfeld versucht das für die Ent­stehung der Barmer Theo­logi­schen Erklärung wegwei­sende Be­the­ler Be­kenntnis (1933), das Barth in der August-Fas­sung vor­gelegt wird, der Her­aus­for­de­rung ge­recht zu wer­den, als zeitge­mäßes evange­li­sches Be­kennt­nis der Theolo­gie der DC entgegenzutre­ten.[22] Barth gibt am 11.10.1933 eine kritische Stellungnahme ab, die zugleich ein Licht darauf wirft, welche Art von Bekenntnis er selbst sich wünscht. Er macht theologische Einwände zur Gesamtanlage des Bekenntnisses geltend. Und er übt vor allem Kritik an seinem Cha­rakter als luthe­risches Parti­ku­lar­be­kennt­nis, da es laut Vor­rede „die Lehre der evan­ge­lisch-luthe­ri­schen Kir­che“ darstellt. Barth fordert, das „aktuelle Pro­blem der Union neu und besser, als vor 100 Jahren ge­sche­hen ist, aufzu­neh­men“, da „Lu­theraner und Refor­mierte ... heute durch die vollkom­mene Er­schei­nung des häretischen Neuprote­stantis­mus in Gestalt der ‚Deutschen Christen’ konkret und gemeinsam herausge­fordert und zum Beken­nen auf­gefor­dert“ seien. Die Stunde sei ge­kom­men, in der beide „?das ge­meinsa­me Evange­li­sche“ sagen und dabei „?das je Be­son­dere hü­ben und drü­ben bewußt und be­stimmt in­nerhalb die­ses ge­meinsamen Evan­geli­schen“ nicht ver­schwei­gen dürfen. Da das Betheler Be­kenntnis for­mell und inhaltlich zu eindeutig dem Luthertum verpflichtet sei, stehe der Ver­such noch aus, „den Ent­wurf nun ge­mein­sam so durch­zuarbei­ten, daß er ... als evan­geli­sches Bekenntnis vor die Öffent­lichkeit treten könn­te“. Vierzig Jahre vor Ver­ab­schiedung der Leuenberger Konkor­die plä­diert Barth also schon in dieser konkreten Bekennt­nissituation (status confessio­nis) ­dafür, die alten Kon­tro­vers­fra­gen über Chri­sto­lo­gie und Abend­mahl zwar „als wich­tige Schul­fra­gen, aber nicht als tren­nende Glau­bens­fra­gen zu behan­deln“.[23] Es gelte, so Barth an anderer Stelle, gegenwär­tig nicht, Luther und Cal­vin ge­gen­ein­ander auszu­spie­len. Denn heute müsse in der Kir­che über das erste Gebot ge­strit­ten und eine wirk­liche Union gegen die DC aufge­richtet werden.[24]

Die spätere November-Fas­sung des Betheler Be­kennt­nis­ses berücksichtigt in der Glie­derung, aber auch in der Neu­auf­nahme der Themen Heiligung und Gehorsam einige der Anlie­gen Barths. Doch sein Vor­schlag einer Lehr-Union zwi­schen Luthe­ra­nern und Refor­mier­ten wird abge­lehnt. Begründet wird diese Ableh­nung in der ver­mutlich von Georg Merz formu­lier­ten Vor­be­mer­kung damit, dass sich die Ver­fasser des Bekennt­nisses an einen „bestimmten Ort“ und ein „bestimmtes Erbe“ gebun­den fühlen und darum keine Unions­lehre vertreten kön­nen. In einer für die Druckfas­sung auf An­raten Bodel­schwinghs gestri­chenen Passa­ge setzt sich Merz al­lerdings durchaus positiv mit Barths Vorschlag ausein­ander. Er hält die Stun­de für ein gemein­sames luthe­risch-reformier­tes Beken­nen sowie eine Über­windung der konfessionellen Span­nung durch­aus für gekommen. Und er gesteht auch zu, dass die Unter­schie­de der Refor­ma­to­ren in der Ge­gen­wart un­wich­tiger geworden sind.

Seine For­de­rung nach ei­nem ge­mein­sa­men über­kon­fessio­nel­len Be­kennt­nis – nicht zu ver­wech­seln mit ei­nem Unions­be­kenntnis, das eine Kirchenunion vor­aussetzen würde – bringt Barth bald darauf erneut zur Geltung. Am 3./4.1934 erläutert er auf der Frei­en refor­mier­ten Syn­ode in Bar­men die „Er­klä­rung über das rechte Ver­ständnis der refor­matori­schen Be­kennt­nisse in der DEK der Gegen­wart“[25]. Weiter heißt es ausdrücklich in der Vor­bemer­kung zum Ent­wurf der Barmer Theologischen Erklä­rung (Frankfurter Konkordie vom 16.5.1934), dass Lu­thera­ner, Reformier­te und Unierte un­ge­achtet ihrer kon­fessio­nellen Her­kunft in der Ge­gen­wart ge­mein­sam reden und beken­nen dürfen und müs­sen.[26] Als trei­bende Kraft leistet Barth damit die Vorarbeit zu ei­nem neuen gemein­samen Be­kenntnis von Lu­the­ra­nern und Re­for­mierten, das schließlich auf der Barmer Be­kennt­nis­syn­ode am 31.5.1934 verab­schie­det wird. Um den Lutheranern entgegenzukommen, wird als Überschrift der Titel ‚Theo­lo­gische Er­klä­rung’ gewählt.

Aus­drück­lich for­mu­liert Barth schon auf der Freien refor­mierten Synode (3./4.1.1934) das The­ma über­kon­fes­sio­nell: „Erklärung über das rechte Verständ­nis der refor­ma­to­ri­schen Be­kennt­nis­se“. In der Erläu­te­rung zu These I/2 erinnert er daran, dass die Re­for­ma­to­ren ge­mein­sam „Rom und Renaissancegeist“ entge­gen­getreten seien und die Evan­geli­schen heute „dem alten Irr­tum“ er­neut ge­gen­über­stünden. Und in These I/3 argu­men­tiert er, dass ange­sichts dieses Irrtums ein ü­ber­kon­fes­sio­nelles Be­kennt­nis not­wen­dig sei, und zwar „un­be­scha­det ihrer luthe­ri­schen, refor­mier­ten oder unier­ten Her­kunft und Ver­ant­wor­tung“ der einzel­nen Ge­meinden. Den kon­fes­sio­nel­len Be­lan­gen seien die Er­for­der­nisse „des ge­mein­sa­men evan­geli­schen Be­ken­nens und Han­delns gegen den Irrtum und für die Wahrheit“ und somit das ge­mein­same evangeli­sche Be­kennt­nis ­überzu­ordnen. Weiter heißt es: „Können wir es uns lei­sten, im gegen­wärtigen Augenblick noch gegenein­ander zu ste­hen, Refor­mier­te und Luthe­raner? Wir haben es erlebt: es gibt mancherlei Reformierte und man­cherlei Luthe­raner; die wahre Scheidung geht quer hin­durch.“[27] Und im Vor­wort zur Erklärung schreibt er: „Lutheraner und Reformierte können und dürfen heute nicht ge­gen­ein­an­der, sondern sie können und müssen heute evangelisch-lutherisch und evangelisch-reformiert mit­einander be­ken­nen.“[28]

Für diese Über­zeu­gung, die we­sent­li­che Ein­heit des Prote­stan­tismus und sein „Einverständnis des Glau­bens“[29] in den Vor­der­grund zu stel­len und die alten Kon­fes­sions­un­ter­schiede in Lehr­fra­gen zu­rück­zu­stel­len, beruft Barth sich auf die Tra­di­tion der re­for­mier­ten Kir­che. Denn in ihr wird weithin die Zielvision von der einen christ­li­chen evan­geli­schen Kir­che bzw. Kir­che Jesu Christi zum Ausdruck gebracht. Wäh­rend erst der spä­tere Cal­vi­nis­mus in einen Ge­gen­satz zum Lu­ther­tum getre­ten ist, ver­tritt ge­ra­de Cal­vin die Ökume­nizität des Chri­sten­tums und steht darum natürli­cherweise Pate bei der Abfas­sung der Bar­mer Theolo­gischen Er­klä­rung. Insofern bezeichnet Barth Calvin später auch als den „idea­len Unions­theo­lo­gen“[30].

Diese Über­zeu­gung, ange­sichts der ge­mein­sa­men Not ge­mein­sam reden zu müs­sen und auf jede kon­fessio­nelle Selbstbe­haup­tung ver­zichten zu sol­len, spie­gelt sich so­dann in der Ein­lei­tung zur Barmer Theolo­gi­schen Er­klä­rung vom 31.5.1934 wi­der: „Gemeinsam dürfen und müssen wir als Glieder lutherischer, refor­mierter und unierter Kir­chen heute in der Sache reden. Gerade weil wir unseren verschie­denen Bekenntnissen treu sein und bleiben wol­len, dürfen wir nicht schweigen, da wir glauben, daß uns in einer Zeit gemeinsa­mer Not und Anfechtung ein gemein­sames Wort in den Mund gelegt ist.“[31] Gewiss ist nach Barth in Glaubensfragen nun das ge­mein­sa­me Be­kenntnis erfor­der­lich. Doch er insi­stiert auch dar­auf, dass einer­seits ­die theo­lo­gi­sche und kir­chen­politi­sche Ver­stän­digung zwi­schen Lu­the­ra­nern und Re­for­mier­ten über die alten Lehr­fragen noch aussteht. Und anderer­seits betont er, dass die kon­fessionellen Un­terschiede nicht eliminiert werden müssen, son­dern zu frucht­baren Gegensätzen werden können.[32] Die 1933 aufge­wor­fe­ne Fra­ge nach einem ge­mein­samen über­kon­fessio­nel­len Be­kennt­nis spitzt Barth schließ­lich am 11.2.1935 im Vor­trag „Die Mög­lich­keit einer Be­kennt­nis-Union“ noch weiter zu. Er weist dar­auf hin, dass Gottes Wille allein und nicht eine mensch­liche Ent­schei­dung – wie in den proble­ma­ti­schen Unionen des 19. Jahr­hun­derts geschehen – die Bil­dung einer wie auch immer gearteten Union erzwin­gen kann. Ange­sichts der Irr­lehre der DC ist 1933 eben die­se Situa­tion entstan­den: Lu­theraner und Re­for­mier­te haben un­geach­tet ihrer alten Be­kennt­nis­unter­schiede in einer gemein­samen Not aus Ge­hor­sam gegen Got­tes Willen eine ge­mein­sa­me Erkenntnis in einer gemein­samen theologi­schen Erklärung zur Sprache ge­bracht. Im Blick auf Barmen kann darum nach Barth durch­aus von einer zu­min­dest par­tiel­len „ech­ten und rechten Be­kennt­nis-Union“ die Rede sein. Aus­drücklich setzt er sich also zu jener Zeit für eine Bekenntnis-Union im Sinne einer von Gott ge­wirk­ten und also ge­fun­de­nen Ein­heit ein, nicht je­doch für eine ei­gen­mächtige Union im Sinne einer ge­such­ten Ein­heit.[33]

4. Auf dem Weg nach Leuenberg
Bereits 1923 mahnt Barth die Notwendigkeit eines Lehr­gesprächs zwischen Refor­mierten und Lu­theranern über das Abend­mahl und das Pro­blem der kontingenten Offenba­rung an und formuliert: „In der Abend­mahls­frage liegen erste, ja ent­schei­den­de Pro­ble­me, mit denen wir keineswegs fertig sind, sondern über die ... die Aus­sprache auf beiden Seiten weiter­ge­hen muß. (...) Nicht um die Fortsetzung des Zanks geht es ..., aber um die Fort­setzung des Gesprächs, nicht um die For­meln, sondern um die Sache ...“[34] Auch im Anschluss an die im Kirchenkampf diskutierte Frage nach einer refor­miert-lu­theri­schen Be­kenntnis-Union finden sich weitere Indizien für Barths Eintreten für eine kon­fes­sionsübergreifende Ver­ständigung.

Ganz in diesem Sinne fordert er über zwanzig Jahre später 1947 „gemeinsa­me Be­rei­ni­gun­gen“[35] zwi­schen Reformierten und Luthera­nern: Es gel­te, sich in die Diskus­sion des 16. Jahrhun­derts hineinzuversetzen, um alte kon­fessio­nelle Fron­ten in ihrer ge­schichtlich be­grenzten Bedeu­tung zu ver­ste­hen und als über­holt zu er­wei­sen. Und im gleichen Jahr stellt er seiner Vorlesung über den Heidelber­ger Kate­chismus den Hinweis voran, keineswegs „Öl ins Feuer des in Deutsch­land nun leider wieder aufle­benden Kon­fessionalismus“ gießen zu wol­len.[36] Ein Jahr später mahnt er im Rahmen der Weltkir­chenkonfe­renz in Am­sterdam unter Berufung auf Calvin erneut an, auf jeden refor­mierten Kon­fessio­na­lismus zu ver­zich­ten. Stattdes­sen habe man die ge­meinsame evange­lische Re­forma­tion in der Zu­kunft im Sinne des Leit­spruchs „ecclesia refor­ma­ta est ec­clesia sem­per refor­man­da“ zu su­chen.[37]

We­nige Jahre spä­ter wird Barth 1955 in das be­gin­nende ­in­ter­kon­fes­sio­nel­le Ge­spräch zwischen Refor­mierten und Luthe­ranern ein­be­zo­gen, das schließ­lich 1973 in die Leuenber­ger Kon­kordie ein­mün­det. Ferner wird er von der Kom­mis­sion für Glau­ben und Kir­chen­verfassung des Ökumeni­schen Ra­tes der Kirchen aufgefor­dert, für die geplante Ta­gung reformierter und lutheri­scher Theolo­gen in Da­vos am 30.7.1955 eine Stellungnah­me zur Vorberei­tung der Kon­ferenz ab­zu­ge­ben. Auf die Frage nach den Themen, „die heu­te am drin­gend­sten des ge­meinsamen Stu­diums und Ver­ständ­nisses der Vertreter beider Kon­fessionen be­dür­fen“[38], antwor­tet er in be­zeich­nen­der Weise. Statt kon­krete Themen für das Gespräch vorzu­schla­gen, reflektiert er grund­sätzlich über das Ge­gen­über der Kon­fessio­nen und nennt drei Vor­aus­set­zun­gen für das Ge­spräch.[39]

1) Lu­thera­ner und Refor­mier­te haben sich als zwei gleich­be­rech­tigte ­Rich­tun­gen in­ner­halb der einen evan­geli­schen Kir­che zu verstehen.

2) Ein theo­lo­gi­sches Ge­spräch mit dem Ziel einer Eini­gung über die beste­henden lu­the­risch-re­for­mier­ten Ge­gen­sätze ist unaus­weichlich ge­bo­ten. Zu diesem Zweck ist die Frage zu klären, ob über die Gegen­sätze im 16. Jahrhun­dert oder über die gegen­wärtig kontro­versen Fragen geredet werden soll.

3) Ein luthe­risch-refor­miertes Ge­spräch ist offen, gleichbe­rechtigt und in Bin­dung an die Schrift, nicht je­doch unter Beru­fung auf die Confes­sio Augusta­na oder einen bestimmten Reforma­tor, zu führen.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Vor sei­ner Göttinger Zeit ver­steht sich Barth eher unbe­wuss­t als refor­mierter Theo­lo­ge. Dabei ist das ge­wiss vorhandene laten­te In­ter­esse an der eige­nen Kon­fes­sion und Kirche über­lagert von der Auseinanderset­zung mit dem Libera­lis­mus und Neu­protestantismus, mit dem religiösen Sozia­lis­mus und mit der Auf­gabe der Schrift­ausle­gung. Erst in Göt­tin­gen wird er sich insbesondere durch seinen Lehrauftrag und die damit verbun­dene Anforde­rung, an der luthe­risch gepräg­ten Göttinger Fakultät reformierte Kir­chenge­schichte und Theologie zu lehren, zuneh­mend seiner eigenen Kon­fes­sionalität bewusst.

Wenn wir nun abschließend fragen, welche Hinweise sich Barths Göt­tin­ger Vor­le­sun­gen direkt oder indirekt für seine Beur­tei­lung des Span­nungs­fel­des von Kon­fessiona­lis­mus und Konfessionali­tät entnehmen lassen, ist mit Michael Weinrich[40] festzustellen: Wie der ar­chai­sti­sche, so führt erst recht der kon­fes­sio­nalistische Um­gang mit der theologischen Tra­di­tion, den Be­kennt­nissen und der äußeren Daseinsform der Kirche in eine theolo­gische und näherhin ekkle­siologi­sche Apo­rie. Denn ein sol­ches Unter­nehmen unterläuft das auf Seiten der je­weils anderen Kon­fession gültig Gesag­te, setzt eige­nes Reden und Handeln absolut. Es überspielt die theolo­gisch gebotene Er­kennt­nis, dass jedes Zur-Sprache-Bringen Got­tes (Dogmatik und Be­kennt­nis) und Zur-Ge­stalt-Bringen von Gottes Willen (Ethik und Kirche) nicht mehr als vor­läufi­ge und so­mit prinzi­piell ver­besserungsfähige Handlungen von auf Gottes Wort antworten­den Men­schen sind.

Gera­de Barth erinnert nun unter Bezug auf die von ihm ge­won­ne­nen Er­kennt­nisse über die refor­mierte Theologie daran, Theologie und Bekenntnis als Glau­bens­zeug­nis, nicht jedoch als Glau­bensgegen­stand gelten zu lassen. Die irdisch-ge­schicht­lichen Grö­ßen Theo­lo­gie und Be­kennt­nis sind keine metaphysischen Ur­teil­sinstanzen, an denen sich über alle Zeiten hin­weg Wahrheit und Irr­lehre unter­scheiden lassen. Auch darf die wahre Rede von Gott nicht im Stile eines kon­fessio­nalistischen Fun­damen­talismus exklusiv für die eigene Kon­fes­sion reklamiert werden. Der Grund liegt auf der Hand: Jeder Konfessionalismus widerspricht schließlich der Erkenntnis, dass das Reden und Handeln der Kirche ir­disch-ge­schichtlich, also zeit­be­ding­t ist. Und jeder Konfessionalismus unterläuft die gemeinreformatorische Grundüberzeugung, dass die Kirche der steten Selbsterneuerung bedarf (ecclesia sem­per reforman­da). Insofern ist dem aporeti­schen Projekt einer konfessiona­listi­schen Selbstbehaup­tung das Pro­jekt einer in Wahrheit kon­fes­so­ri­schen Kirche ent­ge­gen­zusetzen. Denn gerade dieses Pro­jekt studiert Barth an den refor­mier­ten Refor­matoren und Bekenntnissen und arbeitet es in seine Theologie explizit und implizit gleichsam als ihren cantus firmus ein. Eine kon­fesso­rische Kirche schätzt das Erbe der eigenen konfessio­nellen Tradi­tion, ohne es zu überschät­zen und ohne es zum Axiom wahren Redens von Gott zu erhe­ben. Eine kon­fessorische Kir­che weiß um des gegen­wär­tigen Redens und Handelns wil­len Theologie und Bekenntnis als Aus­le­gung des bibli­schen Zeug­nis­ses ernst zu neh­men. Eine konfessori­sche Kirche reflektiert primär im Hören auf das bibli­sche Zeug­nis und se­kundär im Befra­gen des eige­nen sog. theologischen Erbes den Grund und das Ziel ihres Re­dens und Han­delns. Und eine konfessorische Kirche ist eine in Wahr­heit öku­me­ni­sche Kir­che, indem sie auf ihrem Weg als wanderndes Gottes­volk die Welt mit dem Zeug­nis ihrer Theologie und ihres Be­kennt­nis­ses kon­fron­tiert.

Ist die refor­mierte Kir­che der Gegenwart eine solche konfesso­ri­sche Kirche? In der KD eröffnet Barth folgende Perspektive: „Die Exi­stenz ver­schie­de­ner theolo­gischer Schulen und Richtun­gen innerhalb der­selben Kirche invol­viert also ... die grundsätz­liche Be­reit­schaft, über den je verschiede­nen ‚Bekenntnis­stand’ als sol­chen ... hin­auszu­blicken, über das Hö­ren des bishe­rigen Bekennt­nisses nach dessen eigener Anwei­sung hin­auszuhö­ren auf die letzt­lich allein gesetzgebende Autorität der heiligen Schrift, von der her gese­hen es bei keiner Lehr­ver­schiedenheit in der Kirche sein ewiges Be­wenden haben kann“ (KD I/2, 933f.). Es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass in diesen Grundkoordinaten auch Perspektiven für das ökumenische Gespräch zwischen Protestantismus, Katholizismus und Orthodoxie liegen. 

Erstveröffentlichung: Reformierte Kirchenzeitung 138 (1997), 26-33.


[1] Begleitschreiben zur Er­nen­nungs­ur­kun­de (16.8.1921), in: K. Barth – R. Bultmann, Briefwechsel 1911–1966, hg. v. B. Jaspert, Zürich 2. Aufl. 1994, 209. Vgl. zum Folgenden M. Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, Neukirchen-Vluyn 1997.

[2] Die Theologie Calvins, hg. v. H. Scholl, Zürich 1993, 95 und öfter.

[3] Autobiographische Skizze [1927], in: K. Barth – R. Bultmann, Briefwechsel 1911–1966, a.a.O., 298.

[4] Abschied von „Zwischen den Zeiten“, ZZ 11 (1933), 319.

[5] Rundbrief (5.2.1924), in: K. Barth – E. Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2: 1921–1930, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 2. Aufl. 1987, 221.

[6] „Unterricht in der christlichen Religion“. Bd. 1: Prolegomena 1924, hg. v. H. Reiffen, Zürich 1985, 3.

[7] Vgl. A.I.C. Heron, Karl Barths Neu­gestaltung der reformierten Theologie, EvTh 46 (1986), 394 unter Bezug auf Barths Analyse der luthe­risch-refor­mierten Gegensätze in der Chri­sto­lo­gie (KD I/2, 174–187; II/1, 548–551).

[8] Brechen und Bauen, in: ders., Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze und Briefe von 1930–1960, hg. v. K. Kupisch, Berlin 21964, 115.

[9] Reformierte Lehre, ihr Wesen und ihre Aufgabe, in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. v. H. Finze, Zürich 1990, 245.

[10] Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften, hg. v. der Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung: E. Busch), Zürich 1998, 314.

[11] Ebd.

[12] Reformierte Lehre, a.a.O., 245

[13] Die Theologie Calvins, a.a.O., 120. Vgl. das Votum: „Ich bin nie ein Freund der sogen. ‚Union’ des 19. Jahr­hun­derts gewe­sen und bin es auch heute nicht.“ (Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der DEK der Gegenwart, in: ders., Got­tes Wille und unsere Wünsche, TEH 7, München 1934, 6).

[14] Credo (1935), Zürich 1948, 169.

[15] Theologie Calvins, a.a.O., 120.

[16] Vier Predigten, TEH 22, München 1935, 44; vgl. KD III/4, IX.

[17] Die dog­ma­tische Prin­zi­pien­lehre bei Wil­helm Herr­mann, in: Vorträge, a.a.O., 551.

[18] Protokoll der Sitzung von ZZ am 30.9.1933 in München.

[19] Tatsächlich tritt in die durch den Ausfall von ZZ entstandene Lücke zunächst die Schriften­reihe „Theologische Existenz heute“. Daneben wird im April 1934 die Zeit­schrift „Evangelische Theologie“ als Nachfolge­organ von ZZ be­gründet.

[20] ZZ 11 (1933), 542.

[21] Ebd.; vgl.: Die Möglichkeit einer Be­kennt­nis-Union, in: EvTh 2 (1935), 38f.

[22] Die August-Fassung des Betheler Bekenntnisses erarbei­ten Bon­ho­ef­fer, Merz, Sasse, Stra­ten­werth und Vi­scher; Abdruck in: C.-R. Mül­ler, Be­kennt­nis und Bekennen, München 1989, 82–117. Zur Sache vgl. M. Lich­ten­feld, Lu­the­ri­sche Theo­lo­gie im Bekennen, MEAKZG, Folge 15 (1995), 5–60.

[23] Grundsätzliche Vorbemerkung zum Betheler Bekenntnis (11.10.1933), in: J. Glenthoj (Hg.), Dokumente zur Bonhoeffer-Forschung 1928–1945, Die mündige Welt 5, München 1969, 106f.; vgl. Brief an Thurneysen (16.10.1933), Abdruck in: G. Ruhbach, Das Betheler Be­kenntnis, in: W.-D. Hauschild u.a. (Hg.), Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen, Göttingen 1984, 68.

[24] Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 6f.

[25] Bekenntnis der Freien reformierten Synode Barmen vom 4.1.1934, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. v. G. Plasger/M. Freudenberg, 230–238; vgl. Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 3–8.

[26] Vgl. C. Nico­lai­sen, Der Weg nach Bar­men, Neukirchen 1985, 169. Zu­rück­halten­der formulieren Asmussen und Sasse im „Erlanger Ent­wurf“ (24.5.1934), dass Luthe­ra­ner und Refor­mier­te in der Gegenwart zwar gemein­sam zu sprechen hätten, jedoch eine Union außer jeder Dis­kus­sion sei (ebd., 170).

[27] Bekenntnis der freien Kirchensynode, in: Freie reformierte Synode zu Barmen-Gemarke am 3./4.1.1934, hg. v. K. Immer, Barmen 1934, 23f.

[28] Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 6.

[29] Ebd.

[30] Gespräch mit Tübinger Studenten (2.3.1964), in: Texte zur Barmer Theologischen Erklärung, hg. v. M. Rohkämper, Zürich 1984, 224. Ebd.: „Ich wollte ... da nicht calvi­ni­sche Theologumena hinein­brin­gen. Aber es war einfach faktisch so, daß Calvin im Himmel sich allerdings freuen konn­te.“

[31] Ebd., 2.

[32] Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 7.

[33] Möglichkeit einer Be­kennt­nis-Union, a.a.O., 41.

[34] Reformierte Lehre, a.a.O., 236f.

[35] Brechen und Bauen, a.a.O., 115f.

[36] Die christliche Lehre nach dem Heidel­berger Kate­chismus, Zürich 1948, 16.

[37] Unsere reformierten Kirchen und der Weltrat der Kirchen, TEH NF 15, München 1949, 14; vgl. ebd., 12: „Calvinisches Denken gibt uns eine Spielregel theologischer Kunst, die uns befähi­gen muß, gerade auf theologischem Feld echte ökumenische Arbeit zu lei­sten.“

[38] Brief von J.R. Nelson an Barth (1.2.1955), in: Offene Briefe 1945–1968, hg. v. D. Koch, Zürich 1984, 361.

[39] Brief an H.H. Harms (13.6.1955), Offene Briefe, 362–365.

[40] Vgl. zum Folgenden M. Weinrich, Reformiert ja, Konfessionalismus nein!, RKZ 135 (1994), 196–202; Chr. Link, Zum Thema „Reformierte Identität“, RKZ 134 (1993), 344–350.