Verschiedene Menschen beurteilen manchmal identische Gegebenheiten sehr gegensätzlich. Für Optimisten ist ein Glas halb voll, für Pessimisten ist das gleiche Glas halb leer. Die einen sehen zuerst Gewinn, die anderen Verlust. Das spielt vielleicht auch bei der Beurteilung kirchlicher Fragen eine Rolle.
Wo die Jünger Jesu Unheil sehen, erwarten oder befürchten, hören sie die Frage Jesu etwa in dem schwankenden, sturmgepeitschten Boot: „Warum seid ihr so furchtsam?“ Es ist hilfreich, diese offene Frage nicht nur zu hören, und sie stehen zu lassen, sondern sie auch persönlich zu beantworten: „Warum seid ihr so furchtsam?“ Die Jünger und die Bibel geben darauf keine Antwort!
Über seine Ängste zu reden, fällt gerade dem Ängstlichen schwer. Aber nur ausgesprochene Ängste kann man überwinden. Der erste Schritt zur Heilung besteht darin, sich und anderen die eigene Angst einzugestehen. Was ich ausdrücken kann, und was einen Namen hat, ist nicht mehr ganz so bedrohlich. Die Benennung einer Angst kann ein erster Schritt zu ihrer Überwindung sein sowohl im zwischenmenschlichen wie auch im zwischenkirchlichen Bereich.
„Willst du gesund werden?“
Die andere Frage, die Jesus einmal stellt, ist ebenso wichtig. Jesus fragte einen Kranken: „Willst du gesund werden?“ Es kann ja auch sein, dass jemand sich schon längst mit einer Situation abgefunden hat – und gar keine Gesundung mehr möchte. Vielleicht empfindet er seine Krankheit und sein Leiden gar nicht mehr als solche. Sie sind für ihn „normal“. Das mag es auch bei „Kirchens“ geben.
Eine vielfach getrennte Kirche leidet nur noch wenig unter der Trennung. Sie gilt ihr eher als normal und notwendig. Die erste große Kirchentrennung im Jahre 1051 hat die Welt in einen orthodoxen und einen katholischen Teil getrennt. Die zweite große Kirchentrennung der Reformation hat katholische und evangelische Gebiete getrennt. Die dritte große Welle der Kirchentrennung hat im 19. Jahrhundert die Freikirchen von den Staats- oder Landeskirchen getrennt.
Erstere leiden offenbar wenig unter der Trennung. Warum sollte man überhaupt an ihrer Überwindung arbeiten, fragen sich hier manche. Für sie ist alles in Ordnung, wenn nur ihre Sicht der Wahrheit des Evangeliums Bestand hat. Sie kennen und haben sich selbst und das ist ihnen leicht genug. Das kann durchaus sektiererische Züge annehmen.
Wer sich selbst nicht mehr in Frage stellen kann, findet kaum eine Möglichkeit, geistlich zu wachsen. Die Verteidigung eigener Positionen und Bastionen ist ein mühsames Unterfangen. Sie kann nötig sein um des Evangeliums willen. Sie kann aber auch ein Kampf gegen Windmühlen sein. Dann ist es an der Zeit, die Positionen zu wechseln, und Neues zu pflügen und zu lernen.
Volle Anerkennung
Mir ist wichtig, dass die Ev.-altreformierte Kirche und der Bund freier reformierter Gemeinden das reformierte Angebot von voller synodaler Gemeinschaft wahrnehmen und würdigen, gleich wie sie dann darüber entscheiden.
„Volle synodale Gemeinschaft“[1] bedeutet auch volle Anerkennung der jeweils anderen Kirche! Die Väter und Mütter verschiedener Abscheidungen haben sich genau dies gewünscht, dass sie und ihr Kirche-Sein von ihrer jeweiligen Mutterkirche anerkannt werde. Sie wollten befruchtend auf ihre Mutterkirche einwirken. Deshalb entstanden ungefähr zur selben Zeit um 1850 und mit ähnlichen Begründungen altlutherische, altkatholische und altreformierte Gemeinden und Kirchen.
Die Ev.-reformierte Kirche spricht mit ihrer Einladung zur vollen synodalen Gemeinschaft den beiden reformierten Freikirchen ihre große Anerkennung aus. Das reformierte Angebot ist die rückhaltlose Anerkennung des Bundes und der Ev.-altreformierten Kirche als Kirchen. Es ist die höchste Auszeichnung, die eine Kirche zu vergeben hat: Man lädt Schwesterkirchen ein zur vollen synodalen Gemeinschaft, zur Teilnahme, Mitwirkung und Mitverantwortung in allen kirchlichen Bereichen. Man öffnet den Geschwistern alle Toren und Türen, so weit man kann. Die Geschwister-Kirchen gehören zum selben Haus und zur selben Familie. Mit ihnen weiß man sich völlig eins. Man vertraut ihnen Sitz und Stimme in der eigenen Synode an, ohne sie zu vereinnahmen.
EAK – GKN - PKN
So hält die Ev.-altreformierte Kirche es seit 2004 mit der Protestantischen Kirche der Niederlande (PKN). Seit 2004 entsendet die PKN einen Abgeordneten mit allen Rechten und Pflichten in die altreformierte Synode. Umgekehrt war dies schon seit 1923 der Fall. Anfangs vier oder fünf, später noch drei oder zwei Altreformierte gehören seitdem mit allen Rechten und Pflichten bis 2004 zur Generalsynode der „Gereformeerde Kerken in Nederland“ (GKN) und seit 2004 zur Generalsynode der PKN.
Erst seit 2004 sind diese Beziehungen mehr oder weniger gleichberechtigt. Bis 2004 waren wohl Altreformierte in den Niederlanden vertreten, aber keine Niederländer in der altreformierten Synode. Bis 2004 war die EAK Teil der GKN. Sie trat einerseits für sich selbst als eigene Kirche auf und war andererseits als Teil der GKN dieser verantwortlich und an sie gebunden.
2004 ist die EAK ein Stück erwachsener geworden: Sie hat nicht alle Beziehungen hinter sich abgebrochen. Sie hat ein Stück Partnerschaft und Vertrauen aufgebaut, das jetzt auf Gegenseitigkeit beruht.
Sie ist allerdings seit 2004 dem niederländischen kirchlichen Leben und der niederländischen Gesellschaft rapide weiter entfremdet. Die Entscheidungen, die ihre beiden Abgeordneten in den Niederlanden treffen müssen – dort gibt es nur Ja- oder Neinstimmen und keine Enthaltung wie in Deutschland – berühren sie immer weniger. Offen wird inzwischen ausgesprochen, dass es eigentlich nicht angehen kann, dass die beiden altreformierten Abgeordneten in wichtigen Fragen der niederländischen Synode manchmal das Zünglein an der Waage bilden.
Trotzdem ist die Partnerschaft auf Gegenseitigkeit, wie der Assoziationsvertrag sie beschreibt, ein wichtiger Moment im altreformierten kirchlichen Leben.
Halbe oder Viertel Gemeinschaft?
Man kann sich wohl fragen, ob zwischen der Evangelisch-altreformierten Kirche und der Protestantischen Kirche der Niederlande überhaupt noch eine „volle synodale Gemeinschaft“ besteht oder nur noch eine „teilweise synodale Gemeinschaft“ oder eine Gemeinschaft auf Teilgebieten. Gibt es auch eine Halbe- oder eine Viertel-Gemeinschaft? Was ist eine „volle“ synodale Gemeinschaft mehr als eine „normale“ synodale Gemeinschaft? Welche Alternativen gibt es?
Niemand bestreitet, dass zwischen der Ev.-reformierten Kirche und der Ev.-altreformierten Kirche eine synodale Gemeinschaft besteht. Beide Kirchen haben schließlich vor bald zwanzig Jahren in 1990 einen Vertrag über ihre Mitwirkung an den gegenseitigen Synoden unterzeichnet.
Diese Mitwirkung füllen die „mitarbeitenden Gäste“ durch ihre Beiträge und ihre Anwesenheit auf den Synoden mit Leben. Sie sind an der Entscheidungsfindung beteiligt, aber nicht an der Entscheidung selbst. Die mitarbeitenden Gäste müssen sich nicht entscheiden, weil sie nicht mit abstimmen dürfen. Aber ist ihre Verantwortung deswegen geringer? Können Sie vor Gott oder einer Synode nach einer Abstimmung sagen: „Ich war nicht beteiligt? Ich habe damit nichts zu tun?“
Kooperation und Assoziation
Die Kooperation zwischen der reformierten und der altreformierten Kirche ist in meinen Augen mehr als die Assoziation zur niederländischen Kirche. Assoziation bedeutet: Wir gehen in dieselbe Richtung. Wir sind aus demselben Holz geschnitzt und stehen für dieselben Werte ein. Wir sind sehr verwandt miteinander. Wir benötigen einander.
Kooperation bedeutet: Wir arbeiten zusammen. Eine Kooperation ist kein Einkaufsvertrag, über den man sich besorgt, was einem selber fehlt. Eine Kirche ist kein Supermarkt, wo man nach Belieben einkauft, was man gerade nötig hat. Eine solche Einstellung (Wir kaufen uns ein, was uns fehlt) ist eine rein wirtschaftliche. Sie übersieht die geistliche Komponente.
Kirchen sind keine Läden, sie sind Glieder am Leibe Christi. Eine Hand kauft nicht die Dienste vom Fuß ein. Miteinander, gemeinsam und gut koordiniert können die Glieder den nötigen Dienst verrichten. Für sich allein ist kein Glied unabhängig und lebensfähig. Gemeinsam sorgen alle Glieder für die Unterhaltung und Versorgung des Leibes. Sie sind von Kopf bis Fuß voneinander abhängig.
Eine Kooperation setzt für mich eine Partnerschaft auf Gegenseitigkeit und auf gleicher Höhe voraus, wie sie auch im Assoziationsvertrag festgeschrieben wurde. „Volle synodale Gemeinschaft“ bedeutet für mich eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Sie muss die Eigen- oder Selbständigkeit der Partner nicht aufheben. Sie kann sie im Gegenteil sogar stärken. Dafür benötigen die Partner die Kraft, für sich selbst einzustehen und zu sagen, was ihnen wichtig und unaufgebbar ist.
Nachdenken fördern
Auf jeden Fall fördern die Gespräche über die „volle synodale Gemeinschaft“ das Nachdenken über das Eigene und Bewahrenswerte der Ev.-altreformierten Kirche. Der Anstoß vom März 2007 wird nach wie vor kräftig diskutiert. Das spricht für ihn. Ein Amtsträger-Treffen aller Kirchenratsmitglieder aus allen Gemeinden verschafft am 30. August 2008 hoffentlich weiter Klarheit.
Zur Vertiefung:
Gemeinsam unterwegs (3).
Reformiert-altreformierte Gespräche 2001 – 2007. pdf
[1] Anm der Redaktion: Zu dem reformierten Angebot der „vollen synodalen Gemeinschaft“ heißt es im Protokoll der Synode Synode der Evangelisch-altreformierten Kirche in Niedersachsen vom 21. Mai 2008 in Nordhorn:
Der Ökumeneausschuss legt einen schriftlichen Bericht über den Stand der Beratungen über das Angebot der Ev.-reformierten Kirche vor. Eine Reihe von Gemeinden haben Mitglieder des Ökumeneausschusses eingeladen, um das Angebot näher zu erläutern und darüber ins Gespräch zu kommen. Der vorgelegte Bericht wie auch die Erfahrungen mit den Informationsabenden in den Gemeinden führen zu einem engagierten Gedankenaustausch in der Synode. Dabei geht es um Fragen wie: "Geht das nicht alles viel zu schnell?", "Reicht für eine Entscheidung über eine Antwort die einfache Mehrheit?", "Ist bei einer vollen synodalen Gemeinschaft überhaupt ein eigenständiges kirchliches Leben möglich?", "Sind die Gespräche zwischen den beiden Kirchen ergebnisoffen oder gibt es Vorgaben?", "Wird auf gleicher Ebene verhandelt?", "Reagieren wir als Ev.- altreformierte Kirche in dieser Angelegenheit nur oder agieren wir auch?".
Die Meinungen gehen darüber weit auseinander, ob das angebotene Modell der Kirchengemeinschaft förderlich oder eher hinderlich für die Entwicklung unserer Gemeinden sein könnte. Der Ökumeneausschuss sieht seine Aufgabe entsprechend dem Synodebeschluss im vergangenen Jahr gegenwärtig darin, das Angebot der Ev.- reformierten Kirche zu erläutern. Nun bleibt das Amtsträgertreffen am 30. August abzuwarten, zu dem Kirchenpräsident Jann Schmidt und Vizepräsident Dr. Johann Weusmann erwartet werden. Danach wird die Synode darüber befinden, ob offizielle Gespräche mit den zuständigen Vertretern der Ev.- reformierten Kirche über ihr Angebot aufgenommen werden sollen.
Der Vorsitzende, Pastor F. Baarlink rundet die Aussprache mit der Feststellung ab: "Eine Kirchenspaltung können wir uns nicht leisten. Es sollte in einer so wichtigen Frage möglichst Einmütigkeit herrschen, alles andere würde uns als Kirche dezimieren".“ Quelle: www.altreformiert.de