Was ist der Mensch

Ansprache zum Tag der Offenen Tür am Kinderhospiz


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Von Sylvia Bukowski

2 HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel! 3 Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen. 4 Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: 5 was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? 6 Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. 7 Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: 8 Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, 9 die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht. 10 HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen! (Psalm 8)

Was ist der Mensch, fragt der Psalm, den Sie vorhin gehört haben. Eine Frage, deren Beantwortung unseren Umgang miteinander und mit uns selbst prägt, und die deshalb auch für die Arbeit im KH Bedeutung hat.

In den beiden Schöpfungsberichten der Bibel finde ich einige grundsätzliche Antworten. Sie sagen, was von Anfang, bzw. was im Prinzip den Menschen ausmacht.

Da lesen wir also: Und Gott machte den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Atem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.

Sie mögen denken: das ist ja eine total naive Vorstellung, längst überholt von der Wissenschaft! Aber naiv waren die Verfasser dieses Berichts keineswegs. Sie wussten auch, dass bei uns Menschen nicht Staub aus allen Poren rieselt. Was sie sagen wollen bezieht sich auf die Qualität unseres Lebens: Wir gehören unlösbar mit der Erde zusammen. Und wie alles, was aus Erde gemacht ist, ist unser Leben sehr zerbrechlich, braucht es besonderen Schutz.

Mit der Zerbrechlichkeit und Schutzbedürftigkeit des Lebens werden wir im KH täglich konfrontiert. Manche der Kinder und Jugendlichen sind von Geburt an auf besondere Pflege angewiesen, bei anderen ist die Krankheit erst später, manchmal völlig unerwartet ausgebrochen. Und was wir bei den Kindern sehen, erinnert uns an das, was wir bei uns selbst oft ausblenden und verdrängen: Auch wir haben unser Leben letztlich nicht in der eigenen Hand. Auch wenn wir uns stark fühlen und anderen gegenüber unangreifbar geben: wir sind verletzlich, unsere Gesundheit, unsere Pläne, unser Glück – das alles kann sehr leicht zerbrechen. Und das Leben ist nicht verschiebbar auf irgendwann. Jeder Augenblick hat Bedeutung.

Im KH ist es das erklärte Ziel, den Kindern und Jugendlichen, die lebensverkürzend erkrankt sind, möglichst viele glückliche Momente zu ermöglichen, Zeiten voller Rumalbern, voller Spaß, voller gelungener Verständigung. Für manche sind das seltene Momente, die schnell wieder vorbeigehen. Aber gerade darum sind sie umso kostbarer.

Wir lernen im KH, dankbar zu werden für jeden guten Tag, für jede ruhige Nacht, weil das alles ja keineswegs selbstverständlich ist. Und wir werden daran erinnert: Unsere Zeit ist begrenzt. Der Atem, der uns lebendig macht, entzieht sich trotz aller medizinischer Fortschritte letztlich unserer Verfügungsmacht. Er ist ein Geschenk Gottes, so wie es auch unser „Hauslied“ beim wöchentlichen Abendausklang zum Ausdruck bringt: Vergiss es nie, dass du lebst war keine eigene Idee und dass du atmest kein Entschluss von dir. Vergiss es nie, dass du lebst war eines anderen Idee und dass du atmest sein Geschenk an dich...

Ja, das Leben ist ein Geschenk. Und jeder Mensch soll wissen: Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur. Ganz egal ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur.  Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu...

Ein Gedanke Gottes – im Schöpfungsbericht heißt es: Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild. Jeder Mensch ist dazu bestimmt, etwas von Gottes Schönheit in die Welt zu spiegeln, und diese Schönheit ist nicht in irgendwelchen Idealbildern fixiert, denen sowieso immer nur die allerwenigsten entsprechen können. Gottes Schönheit ist lebendige Schönheit. Sie besteht in der Fähigkeit, Menschen ans Herz zu rühren, sie zum Blühen zu bringen, sie glücklich zu machen.

Und diese Art Schönheit spiegeln uns die Kinder und Jugendlichen in unserem Haus reichlich. Manche können mit ihrem Lächeln die Sonne aufgehen lassen, auch am dunkelsten Tag. Manche können einem mit einer zärtlichen Geste Tränen der Rührung in die Augen treiben. Manche haben so viel Schalk im Nacken, dass sie uns alle zum Lachen bringen. Und manchen, die sich verbal überhaupt nicht äußern können, gelingt es, beim Abendausklang mit einer Rassel locker das Schlagzeug zu ersetzen. All das lässt jedenfalls keinen Zweifel daran: Gut, dass es diese Kinder und Jugendlichen gibt. Gut, dass wir einander haben.

Gott hat uns von Anfang an zu Gemeinschaft bestimmt. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“! sagt er nach der Erschaffung des ersten Menschen und schafft ihm eine Ergänzung, in alten Übersetzungen heißt es noch: eine Gehilfin, eine Hilfe. Erst dann ist das Leben des Menschen vollständig. Erst dann kann er glücklich sein.

Und so ist es doch. Wir alle brauchen andere Menschen, Menschen, mit denen wir unser Leben teilen können, Menschen, die für uns da sind. Kein Mensch kann völlig ohne andere leben. Keiner kann alles allein schaffen. Jeder braucht mal mehr mal weniger fremde Hilfe. Aber merkwürdigerweise fällt es uns in der Regel leichter, anderen zu helfen als selbst auf Hilfe angewiesen zu sein, und um sie bitten zu müssen. Das geht gegen unseren Stolz. Das erleben manche als eine Art Niederlage.

Die Kinder und Jugendlichen in unserem Haus haben keine Wahl. Sie brauchen alle viel Hilfe. Und sie lehren uns, Hilfsbedürftigkeit nicht als Makel zu verstehen, oder als etwas, was Menschen wertlos macht. Sie lehren uns, dass menschliche Größe gerade darin liegen kann, sich anderen gegenüber auch schwach zu zeigen und sich Hilfe gefallen zu lassen.

Was ist der Mensch:
Einige der biblischen Antworten darauf lauten: Er ist ein zerbrechliches, ein hilfsbedürftiges, aber auch großartiges Wesen, von seinem Schöpfer gewollt und geliebt, und zur Gemeinschaft mit anderen bestimmt, um glücklich zu werden. Dieses Verständnis vom Menschsein spiegelt sich in meinen Augen im Umgang miteinander im KH. Und auf diesem Umgang liegt Gottes Segen.


Sylvia Bukowski