Wer glaubt, übernimmt Verantwortung

Die Barmer Theologische Erklärung im Reformationsjubiläum

©Foto: Janet Görner

von Martin Engels

Wer heute durch Barmen, eines der Stadtzentren in Wuppertal geht, wird vergeblich nach Spuren der Reformation suchen. Ins Auge stechen zunächst die Folgen einer tiefgreifenden Transformation städtischen Lebens. Die großen evangelischen Kirchen der Stadt müssen sich den sozialen und interkulturellen Herausforderungen stellen, wollen sie nicht nur äußerlich die Silhouette der Stadt zeichnen, sondern auch das Miteinander der Stadt prägen.

Bekenntnissynode 1934 in der Gemarker Kirche

Und doch ist bis heute mit dem Namen »Barmen« in vielen Kirchen der Welt auch etwas anderes verbunden: 1934 war die Gemarker Kirche im Zentrum Barmens ein Ort, der die Lebendigkeit und gestalterische Kraft der Reformation im 20. Jahrhundert unter schwierigsten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zum Leuchten brachte.

Im Mai 1934 kamen 139 Vertreter aller evangelischen Kirchen in Deutschland zur Barmer Bekenntnissynode zusammen. Über die Grenzen aller evangelischen Konfessionen hinweg widersetzten sich die 139 Delegierten, unter ihnen eine Frau, der Gleichschaltung und Unterwanderung der evangelischen Landeskirchen durch die Ideologie der nationalsozialistischen Diktatur. In der Konfrontation mit dem umfassenden Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten wurde auf der Bekenntnissynode in der Gemarker Kirche ein eigenes Verständnis von Kirchenleitung und Kirchenrecht formuliert und in der »Barmer Theologischen Erklärung« niedergeschrieben.

Orientierung aus dem Wort Gottes

Die reformierten, lutherischen und unierten Synodalen fanden ihre Orientierung letztlich in der reformatorischen Konzentration auf das Evangelium von Jesus Christus. Ihm allein wollten sie vertrauen und gehorchen – und darin Gottes Zuspruch und Anspruch in allen Bereichen des Lebens. Der Stachel des reformatorischen Denkens, der sich im 16. Jahrhundert gegen eine römische Amtskirche und ihre Ordnung des menschlichen Lebens gerichtet hatte, aktualisiert sich 1934 im Kontext der vom totalitären deutschen Staat gleichgeschalteten evangelischen Reichskirche. Eine zutiefst theologische Erklärung, die innerhalb der evangelischen Kirche Klarheit schaffen sollte, wurde politisch. Gerade darin liegt bis heute die Kraft dieser Erklärung: Sie ist von Anfang bis Ende ganz bei der theologischen Sache und doch spürt man in ihren Bibelzitaten, Thesen und Verwerfungssätzen, dass sie von der Kraft des Wortes Gottes getragen in die konkrete zeitgeschichtliche Wirklichkeit hinein redet.

Radikalisierung am rechten Rand

Im Vergleich zum 500. Reformationsjubiläum erscheint das Ereignis der Synode in Barmen, das nur 83 Jahre zurückliegt, vergleichsweise nah an unserer Gegenwart. Im Horizont der gegenwärtigen Radikalisierung am rechten politischen Rand und des Auflebens von völkischem Reden und Handeln wird deutlich, wie sehr wir mit den Menschen damals durch unsere gemeinsame Suche nach Orientierung zusammengehalten werden. Die großen Herausforderungen für das Handeln von Kirche und jeden Einzelnen sind andere geworden, aber die Fragen bleiben damals wie heute die gleichen: Wem vertraue ich? Wer bekommt Macht über mein Leben? Inwiefern ist die Gestalt und Ordnung der Kirche Ausdruck ihrer Verkündigung? Worin besteht der Auftrag der Kirche, wo liegen ihre Grenzen und wo muss sie sich abgrenzen? Im Ringen um Antworten auf diese Fragen entfaltet die Barmer Theologische Erklärung heute ihre Kraft. Denn nur wer weiß, wofür er steht, kann auch widerstehen. Das gilt für den Einzelnen wie für die Kirche als Gemeinschaft.

Ausstellungen in Barmen und Wittenberg

Die Evangelische Kirche im Rheinland wird gemeinsam mit der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche dieses theologische Erbe mit in die Weltausstellung der Reformation in Wittenberg einbringen. Neben der Dauerausstellung am historischen Ort der Gemarker Kirche (s. Fotos) wird eine ebenfalls interaktive Wanderausstellung zur Barmer Theologischen Erklärung in Wittenberg gezeigt werden und danach weiter durch die Landeskirchen reisen. Im Zentrum steht die Erklärung selbst, ihre Wirkungsgeschichte und die Orientierung gebende Kraft ihrer Aussagen. Die Ausstellung folgt dem Anspruch, die geschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge allgemeinverständlich und attraktiv zugänglich zu machen. Sie zielt auf ein tieferes Verständnis der Gegenwart und darauf, die eigene Haltung und das eigene Verhalten im Horizont der gegenwärtigen Herausforderungen zu reflektieren.

Kirche und Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Die Barmer Theologische Erklärung – ob als ›Bekenntnis‹ oder zeitgeschichtliches Dokument verstanden – zeigt, welche Rolle reformatorische Traditionen, der christliche Freiheitsbegriff, die Betonung der Eigenverantwortlichkeit und der Gewissensentscheidung jedes Einzelnen bei der Gestaltung einer demokratischen, friedlichen und sozialgerechten Gesellschaft spielen kann. Zugleich nimmt sie aber auch die Kirche im 21. Jahrhundert in die Pflicht, Transformationsprozesse in Staat und Gesellschaft theologisch zu reflektieren und im Vertrauen darauf mitzugestalten, was abschließend als Richtschnur und Maßstab unter die Barmer Theologische Erklärung gesetzt wurde:
»Verbum Dei manet in aeternum« – »Gottes Wort bleibt in Ewigkeit«.

 

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